Das Jüdische für das Christentum suchen - Glaubenserneuerung aus dem Geist des christlich-jüdischen Dialogs

Im Jahr 2000 feierten die Kirchen in Österreich erstmals den 17. Januar als Tag des Judentums. Die Vorbereitungen dazu reichten bis zur II. Europäischen Ökumenischen Versammlung in Graz 1997 zurück, wo die Gruppe teshuvà aus Mailand diesen Gedenktag vorgestellt hatte. Der Oberrabbiner nahm es mit dem ihm eigenen Humor und verglich unsere Bemühungen mit dem Muttertag. „Schön, wenn es ihn einmal im Jahr gibt, aber eigentlich ist ja jeder Tag dazu da, daran zu denken“, meinte er.

Inzwischen ist es eine gute Tradition geworden, dass der Vorstand des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich jeweils um den 17. Januar die Leitung der Wiener jüdischen Gemeinde besucht und anstehende Themen in offener Atmosphäre bespricht. Der Tag des Judentums ist ein christlicher Lerntag: Mit ihm sollen die Kirchen aufmerksam werden für das Jüdische im christlichen Bekenntnis, es bewusst wahrnehmen, es würdigen und in verschiedenen Dimensionen – in der Liturgie, im persönlichen Gebet und in der sozialen Praxis – leben. Diese Suche ist fordernd. Wer sich aber darauf einlässt, entdeckt neue Perspektiven für den eigenen Glauben.

Was dieses Jüdische im Christentum ist, wo und wie wir es finden und pflegen, das ist nicht so einfach zu beschreiben. Bei der Einführung des Tags des Judentums waren uns dessen viele Dimensionen nicht wirklich bewusst. Bis heute ist es ein aufregender und anregender Prozess geblieben.

Natürlich blickten wir zuerst ins Neue Testament und stellten Jesus als Juden in den Mittelpunkt. Wir lernten, die Polemik der Evangelien gegen die Pharisäer aus der Entstehungssituation der Texte zu deuten. Wir lernten auch, unsere eigene judenfeindliche  Auslegungsgeschichte zu hinterfragen, wie sie sich etwa an der Deutung der Gebetsanrede „Abba“ kristallisierte:  Das NSDAP-Mitglied Gerhard Kittel hatte 1933 in seinem Beitrag im „Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament“ festgestellt, dass Jesus grundlegend anders betete als Jüdinnen und Juden. Jesus sprach laut Kittel intim und persönlich mit seinem Vater, er nannte ihn „Abba“. Diese Exklusivität ist schon lange widerlegt, ihre ausgrenzende Wirkung dauert aber immer noch an. Aber wir entdeckten zunächst noch nicht den Toralehrer Jesus. Für Jesus stand die liebende Gegenwart des Ewigen in der Tora seines Volkes unzweifelhaft fest; seine Predigt war die Lehre der Tora. Unser Problem dabei: Wir Christinnen und Christen, die heute Jesus nachfolgen, fühlen uns an Gottes heilige Weisung nicht mehr oder nur in Teilen gebunden. Und aus jüdischer Sicht sind Nichtjuden gar nicht auf die Tora verpflichtet. Das macht es nicht einfacher, Jesus nahe zu kommen.

Inzwischen sind der Vergleich des Paulus mit dem guten Ölbaum und der Vers „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich“ (Röm 11,18) breiter bekannt. Vor zwanzig Jahren war der „Tag des Judentums“ ein Motor, dieses Wort an die Öffentlichkeit zu tragen, denn in der Leseordnung der röm. kath. Kirche fehlt genau dieser Abschnitt am 20. Sonntag im Jahreskreis A. Der Blick auf die Wurzel des guten Ölbaums und so auf die Wurzel des christlichen Glaubens ist zunächst ein Blick nach unten, bzw. ein Blick zurück: Ja, Jesus war Jude und seine Heilige Schrift war der Tanach, das christliche Erste „Alte“ Testament. Das mag als historische Tatsache weitgehend anerkannt sein, die Frage ist aber, welche Relevanz sie bis heute hat. Dass sie keine hat, war bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts von christlicher Seite her klar, denn mit Jesus hatte man das Judentum für überholt und überwunden erklärt. Und auch manch jüdischer Blick aufs Christentum findet heute außer dieser historischen Gegebenheit keine bleibende Verbindung mehr.

Es ist wichtig, dass die Kirchen ihre Aufmerksamkeit der Tora und den übrigen Schriften des Tanach widmen. Nicht nur, um Jesus und seine Anhängerinnen und Anhänger historisch zu verstehen. Aus diesen Quellen fließt der Saft der Wurzel, der die Zweige heute nährt. In der Praxis war das Judentum damals aber nicht jene  „Buchreligion“, als die wir es heute sehen: Der Tempelgottesdienst prägte die Welt Jesu und seiner Jüngerinnen und Jünger. Daneben wurde eine mündliche Auslegung der Tora gepflegt. Sie wurde in der Mischna festgehalten und wir finden deren Spuren in den Diskussionen Jesu mit den Pharisäern. Vielfältige theologische Ansätze innerhalb des Judentums sind in der Literatur zur Zeit des Zweiten Tempels dokumentiert. Diese sind nie zum Hauptstrom des Judentums geworden, aber auch daraus schöpfte Jesus in seiner Predigt und in seinem Selbstverständnis. Um es noch zu verkomplizieren: In den Blick nehmen müssen wir auch die jüdische Diaspora, in der Paulus seine Botschaft des Kyrios Iesous verkündete. Deren Selbstverständnis und Praxis unterschied sich von manchen Kreisen im Land Israel. So ist es eine herausfordernde Aufgabe der theologischen Wissenschaften sowie von Predigt und Katechese, Jesus und seine Interpretationen in den Schriften des Neuen Testaments auf ihrem vielfältigen zeitgenössischen Hintergrund zu verstehen.

Paulus‘ Bild vom Ölbaum hat problematische Seiten: Der Blick nach unten bzw. zurück auf die Wurzel des Christentums schafft eine historisierende Perspektive. Und wieso sind überhaupt einige Zweige herausgebrochen worden, damit wilde Triebe eingepfropft werden können? Heute wird die Entstehung von Christentum und Judentum so beschrieben: Die vielfältigen Traditionen des Tanach sind um die Zeitenwende auf zwei Arten neu interpretiert worden – angestoßen durch die Person des Wanderpredigers aus Nazareth und durch die Zerstörung des Heiligtums in Jerusalem. Also nicht ein Ölbaum mit eingepfropften Zweigen, sondern ein Ölbaum, aus dem zwei Stämme sprießen. Oder „zweieiige Zwillige“, wie es manche nennen. Ein anderes Bild, das neue Probleme bringt: Denn zweieiige Zwillinge interessieren sich ja in der Regel füreinander.

Ja, es gibt auch Äste dieses edlen Ölbaumes mitten um uns eingepfropfte Zweige: das heutige lebendige Judentum. Die Suche nach dem Jüdischen für das Christentum kann nicht unabhängig von der konkreten jüdischen Gemeinde geschehen.

Nach dieser Feststellung bleibt aber unsere Frage nach dem Jüdischen offen. Denn auf der Suche nach dem Allgemeinen ist das Konkrete nur ein Ausschnitt aus einer stets weit größeren Fülle von Möglichkeiten: in einer Beziehung, in der Kunst, in der Religion. Konfession, Tradition, Richtungsentscheidungen und persönliche Schwerpunkte verschaffen einer konkreten religiösen Lebensform nie einen Alleinvertretungsanspruch für Rechtgläubigkeit schlechthin. Praktiziertes Judentum und seine wissenschaftliche Erforschung – als Jeschiwa und andere Formen des religiösen Lernens und als Judaistik bzw. jüdische Studien im universitären Fächerkanon – sind auch nicht deckungsgleich. Und überhaupt sind die jüdischen Gemeinden ja nicht dazu da, für die christliche Identitätssuche verzweckt zu werden. Schon gar nicht geht es darum, dass christliche Gruppen und Gemeinden nun jüdische Bräuche und Riten nachvollziehen: Das ist übergriffig gegenüber einer anderen Religion und ohne die Tiefe praktizierten Glaubens nur oberflächlicher und gut gemeinter Aktionismus. „Christliche Sederfeiern“ als vermeintliches Original des letzten Abendmahls Jesu sind zudem auch historischer Unsinn.

Hier ist ein deutliches „Stopp“ gegen jede Vereinnahmung zu sagen. Es geht nicht um eine Kopie des Judentums; Christinnen und Christen sollen und dürfen auch weiter selbstbewusst Glieder ihrer Religion bleiben. Manche müssen sich dabei von einer Idealisierung frei machen, im Judentum das Wahre, Ursprüngliche und Unverfälschte des Christentums zu finden. Aufbruch, Neugierde, Brücken bauen und kennenlernen des Judentums – alles klar. Auch ein Menora im Gottesdienstraum aufstellen und ein hebräisches Lied singen – wieso nicht! Aber nur in demütiger Erinnerung an die fatalen Folgen einer christlichen „Theologie der Verachtung“ und eingedenk der Mitverantwortung der Christenheit für die Schoa.

Die Erneuerung der Kirchen aus dem Geist des christlich-jüdischen Dialogs ist eine Aufgabe der Kirchen. Sie selbst müssen diesen Weg gehen und entscheiden, wie sie ihn gehen. Es ist nicht Aufgabe der jüdischen Gemeinden, ihnen zu sagen, was sie dafür zu tun hätten. Christliche Theologie bleibt eine christliche Aufgabe und sie kann dazu die Elemente auswählen, die sie für angemessen hält. Jüdische Gemeinden sollen aber gefragt sein, wenn es um Erklärungen aus erster Hand geht. Sie sollen gehört werden, damit die Christenheit ihre alten Zerrbilder über das Judentum verlernt.

Die jüdischen Gemeinden müssen sich dabei aber auch aktiv zu Wort melden können: Etwa mit einem Veto dort, wo sie Anbiederung oder Vereinnahmung spüren. Ihre Zurückhaltung gegenüber christlichen Dialogwünschen ist anzuerkennen: aus inhaltlichen wie auch aus statistischen Gründen, denn aufgrund der  mächtigen christlichen Überzahl kann die Begegnung nur in einer Überforderung der jüdischen Seite enden. Möge uns ein dankbarer Blick geschenkt sein für das Viele, was bereits möglich wurde und wie viel Begegnung heute möglich ist.

Eine endgültige Formel für das Jüdische im Christentum zu beschreiben, widerspricht der Zeitlichkeit all unserer Ausdrucksformen – auch des Religiösen. Eine gültige Formel für heute zu finden braucht die nötige Sensibilität – theologisch und auf der Beziehungsebene mit den jüdischen Gemeinden – und die Treue und Ernsthaftigkeit der Christinnen, Christen und Kirchen, lernend diesen Weg kontinuierlich weiter zu verfolgen. Es lohnt sich: Unser Glauben gewinnt dadurch an Wahrhaftigkeit und Tiefe. Elemente des Jüdischen im Christentum könnten den beziehungshaften Gott und die ethische Dimension von Religion benennen. Die jüdische Tradition verhindert, dass das Christentum eine Religion der Selbst-Erlösung wird, und sie bestimmt die gemeinschaftliche Lebensform des christlichen Glaubens. Sie stellt uns in die letztlich unaufhebbare Spannung zwischen der totalen Transzendenz, Unvorstellbarkeit und Unverfügbarkeit des Ewigen und seinem konkreten Wirken und seiner Gegenwart genau in dieser Welt: eine Verheißung, die uns mit dem Vorfindbaren nicht zufrieden stellt. Das Judentum schenkt uns die Hoffnung, dass das Ewige, der Ewige, das bleibend Bestehende hier in dieser Welt seinen Platz finden kann. Es öffnet ein Tor zum Himmel.

Editorische Anmerkungen

Vorstehender Text erschien zuerst am 17. Januar 2018 in einer gekürzten Fassung auf dem thologischen Portal FEINSCHWARZ (www.feinschwarz.net) und wird hier mit freundlicher Genehmigung des Autors in ungekürzter Fassung wiedergegeben.