Das gesetzestreue Judentum

Das Wort „orthodox“ liebe ich nicht, weil es „Rechtgläubigkeit“ bedeutet. Wir haben im Judentum im Grunde keine Dogmen, und der Begriff „orthodox“ ist aus der nichtjüdischen Welt hereingetragen worden, nachdem eine Auseinandersetzung innerhalb des Judentums und mit der Umwelt in Gang kam.

„Das gesetzestreue Judentum“

Prof. Dr. Joseph Walk, Jerusalem.

Das Wort „orthodox“ liebe ich nicht, weil es „Rechtgläubigkeit“ bedeutet. Wir haben im Judentum im Grunde keine Dogmen, und der Begriff „orthodox“ ist aus der nichtjüdischen Welt hereingetragen worden, nachdem eine Auseinandersetzung innerhalb des Judentums und mit der Umwelt in Gang kam.

Ich kann aber auch nicht einfach sagen, und jetzt kommt der zweite zu verbessernde Irrtum, „religiöses Judentum“, denn es gibt natürlich religiöse Juden, die liberal sind, die das Religionsgesetz nicht als verpflichtend ansehen, und ich spreche ihnen sicher nicht das Recht ab, daß sie „religio“, Verbindung zu Gott, haben. ...

Aber nun zu dem Begriff „gesetzestreues Judentum“. Vergessen Sie bitte den Begriff „das Joch des Gesetzes“. Für uns ist das kein Joch. Diese Überschrift „gesetzestreues Judentum“ soll andeuten oder eindeutig festlegen, was schon Mendelssohn gesagt hat: „Der Glaube macht dich zum Menschen.“ Das ist das Gemeinsame. „Das Gesetz macht dich zum Juden“, d.h., das Gesetz ist das, was uns von den anderen Religionen und den anderen Völkern unterscheidet. Es ist interessant, daß wir im Neuhebräischen, also in unserer Umgangssprache, wenn wir von einem religiösen Menschen sprechen, ein Wort gebrauchen, das in der sog. Ester-Rolle vorkommt. Der Judenhasser sagt: „Sie haben andere Gesetze“. Dieses Wort „Gesetz“ wird heute in Israel benutzt, wenn man jemanden als einen religiösen, im Sinne von tora-treuen Juden. kennzeichnen will.

Gesetz ist das Leitwort des Judentums. Ein Rabbiner des vorigen Jahrhunderts hat gesagt: „Gesetz und nicht der Glaube“, ist das Stichwort des Judentums. Drücken wir es in den Worten von Leo Baeck aus, der zwar ein liberaler Jude war, aber in seiner Lebensführung weitgehend konservativ, wenn auch nicht gerade orthodox: „Im Judentum soll die Religion nicht nur erlebt sondern gelebt werden“. Das Entscheidende bleibt doch, unserer Meinung nach, das Tun. Der vorhin erwähnte Rabbiner, Samson Raphael Hirsch aus Frankfurt am Main, der Gründer der Neo-Orthodoxie, sagte einmal: „Da wir keine Dogmen haben, ist der jüdische Kalender unser Kathechismus.“ Ich möchte das an zwei Beispielen klarmachen. •

Nehmen wir das Pessachfest. Sie kennen es alle vom Abendmahl her, auch die Feier, die bei uns traditionell stattfindet. Die Familie sitzt um den Tisch herum. Man erzählt vom Auszug aus Ägypten und im zweiten Teil, nachdem man gegessen hat und es etwas leichter hergeht, singt man ein Lied. Dieses Lied hat einen Refrain und der lautet: „Es war um Mitternacht“. Das bedeutet nicht, es war Punkt zwölf, sondern Mitternacht als Symbol der Finsternis und der Bedrängung. Angefangen vom Auszug aus Ägypten, rückblickend auf den Sieg Abrahams über die vier Könige, später besiegt Gideon die Midianiter, Deborah besiegt Sisra und schließlich der Fall Babylons um Mitternacht, d.h. an diesem Tag verdichtet sich für den Juden der Gedanke, daß Gott uns errettet aus der Finsternis. Der Jude, der Pessach bewußt in seiner Familie erlebt, identifiziert sich mit einem Glaubensgrundsatz.

Das zweite Beispiel, gleichsam entgegengesetzt: Etwa im August begehen wir einen Fastentag als Trauer um die Zerstörung des Tempels und den Verlust der nationalen Selbstständigkeit. Juden sitzen trauernd am Boden, das ist die jüdische Art zu trauern. Sie können es heute noch an der Westmauer finden. Nicht nur religiöse Juden, auch nichtreligiöse Juden praktizieren das, es hat einen nationalen Charakter. Da sagen unsere Weisen bereits im Talmud, daß an diesem Tag fünf Dinge geschahen. Das erste Ereignis: An diesem Tag kehrten die zwölf Kundschafter zurück und sagten „das Land ist zwar schön, aber die Bewohner sind so stark“, und sie legten gleichsam bereits den Kern zum Untergang des jüdischen Staates, denn ein Volk, das bereits vor dem Eintritt in das Land die Hände hebt und sagt „sie sind zu stark“ sagt damit: Wir werden nicht durchhalten. So ist an diesem Tag, da das ganze Volk vor Verzweiflung weint, der erste und der zweite Tempel zerstört worden. Die letzte Festung gegen die Römer, Betar, ist an diesem Tag gefallen und - das wissen die wenigsten - an diesem Tag ist der Erste Weltkrieg ausgebrochen, nach jüdischem Kalender. Das hat zwar die jüdischen Gemeinden in Osteu ropa noch nicht das Leben gekostet, hatte aber wirtschaftlich schwierige Folgen, die nicht abzusehen waren. Wir haben in unserer Generation, und hier haben wir wieder dieses geschichtliche Bewußtsein, zu den sog. Klageliedern, die wir an diesem Tage sagen, eine besondere Elegie hinzugefügt, zum Andenken an die sechs Millionen. Das fand zwar nicht am selben Tag statt, aber hier verdichtet sich die Trauer, der Gedanke, daß wir uns versündigen können und daß wir dafür leiden müssen. Allerdings klingt auch dieser Tag aus in der Hoffnung, daß der Messias gerade an diesem Tag kommen wird. Hier sieht man noch ein typisches Merkmal der jüdischen Religion bzw. unseres Gebetes. Unser Gebet ist im allgemeinen nicht spontan. Unser Gebet ist ein Kollektivgebet. Wir sprechen immer von „wir“, auch am Versöhnungstag nehmen wir die Sünden aller auf uns, jeder für den anderen. Aber vor allem ist es ein geschichtliches Beten oder, wie ein Rabbiner gesagt hat, „die Juden beten Geschichte“. Leo Baeck sagt: „Die Lehre des Judentums ist eine Geschichte“. Es ist die Verbindung, die man auch anhand der beiden Beispiele sehen kann, der Überblick, gleichsam der Rückblick auf die Geschichte, der uns zusammenhält und uns gleichzeitig die Lehre des Judentums vermittelt.

Ich habe bereits betont, daß das Tun das Entscheidende ist. Nun werden Sie sich vielleicht mit Recht fragen: Um all das zu wissen, um an jedem Tag daran zu erinnern, was dieser Tag bedeutet, muß man doch viel gelernt haben. Das Lernen hat im Judentum eine ganz entscheidende Rolle. Sie können auch heute noch in Israel, zwischen Vesper und Abendgebet, in irgendeine Synagoge gehen, und nicht unbedingt der Rabbiner, sondern ein Laie (denn das Judentum ist eine Laienreligion) lernt mit Handwerkern, mit Kaufleuten, nicht mit übermäßig vorbereiteten, gebildeten Menschen. Entweder lernen sie den Wochenabschnitt oder, was schwieriger ist, den Talmud. Wenn es einfacher ist, dann sagen sie Psalmen. Es wird gelernt, denn ohne das Lernen kann man das Judentum und sich selbst nicht verstehen. Aber das Lernen hat auch eine Gefahr, darum betonen unsere Weisen immer wieder, daß Lernen nur einen Sinn hat, wenn es zur Tat führt. Dafür möchte ich jetzt ein Beispiel bringen, es ist eine Erzählung aus Osteuropa, wo es üblich war, daß die Menschen nicht nur am Tag sondern auch nachts in den „Jeschiwot“, den Talmudhochschulen, durchgelernt haben.

Da sitzt also im obersten Stübchen der Großvater, Leiter dieser Jeschiwa, dieser Talmudhochschule, und lernt. Eine Etage unter ihm sitzt der Sohn, ebenfalls bereits Gelehrter, und lernt auch. Noch eine Etage tiefer liegt der kleine Säugling, der Sohn bzw. Enkel, und der fängt zu weinen an. Der Vater ist so vertieft in sein Lernen, daß er das Weinen nicht hört. Der Großvater hört das Weinen, geht hinunter, wiegt den Kleinen in den Schlaf und geht wieder zurück. Am nächsten Tag läßt er seinen Sohn kommen und sagt: Mein lieber Sohn, ein Mensch der lernt und nicht mehr das Weinen eines kleinen Kindes hört, dessen Lernen hat keinen Wert.“

Es gibt noch eine zweite Erzählung, die ungefähr in die gleiche Richtung geht.

Es ist für einen Juden, besonders in der Diaspora, sehr schwer, das Gebet zu verstehen. Er kann nicht genügend hebräisch und er kann sich nicht genügend konzentrieren. Da kommen einmal drei einfache Kaufleute, die auch nicht viel Zeit zum Beten haben, zu ihrem Rabbi und sagen: Rabbi, es fällt uns so ungeheuer schwer, uns beim Beten zu konzentrieren; wir müssen immer ans Geschäft denken. Daraufhin sieht der Rabbi sie durchdringend an und sagt: Das wäre gar nicht so schlimm, es wäre aber mindestens so wichtig, beim Geschäft auch ans Gebet zu denken.

Lessing hat einmal gesagt: Was nützt das rechte Glauben, wenn man nicht das Rechte tut? Das Tun bleibt das Entscheidende. So hat denn auch ein Buch des Mittelalters, mit dem Titel „Das Buch der Erziehung“ einen psychologischen Grundsatz festgelegt, der ganz modern klingt. Es gibt in Amerika eine Schule, die denselben Weg einschlägt. Wörtlich aus dem Hebräischen übersetzt heißt es: „Die Herzen gehen den Taten nach“, d.h.: Warte nicht bis du ein guter Mensch bist, tue zunächst einmal das Gute und verlasse dich darauf, daß das gute Tun dich auch zu einem guten Menschen machen wird. Denn das, was du tust, hat selbst ohne die Intention, etwas Gutes zu tun, schon seinen Wert. Kant hätte dem nicht zugestimmt.

Der Talmud liebt es, die Dinge manchmal auf die Spitze zu treiben. Einer unserer größten Religionslehrer, Gesetzeslehrer, Rabbi Akiwa, hat einmal gesagt: Wenn ein Mensch auf der Straße geht und er verliert unabsichtlich eine Münze, und ein Armer hebt sie auf und kauft dafür sein täglich Brot, so hat er damit eine gute Tat erfüllt. Das Entscheidende bleibt also das Tun, das Ergebnis der Tat. Woher wissen wir, was „das Gute tun“ heißt? Woher wissen wir überhaupt, was von uns verlangt wird? Gott kann man nicht erkennen. Wir können nur seine Eigenschaften erkennen. Die Eigenschaften Gottes erkennen wir, um zu versuchen, Gott nachzuahmen. Das ist ein Gedanke, den es im Christentum auch gibt. Der Talmud sagt: „So, wie Er barmherzig ist, sei du barmherzig, so wie Er gnädig ist, sei du gnädig, wie Er verzeiht, verzeihe du auch.“

Ein ganz entscheidendes Kapitel, das den Weg zeigt, den der Mensch zu gehen hat, ist das 19. Kapitel im dritten Buch Mose: „Ihr sollt heilig sein, denn ich, der Ewige, euer Gott, bin heilig.“ Ich möchte zwei Beispiele zu diesem Kapitel bringen, eines aus meiner Schulpraxis und das Zweite aus dem Talmud. In diesem Kapitel befindet sich jener Satz, der bei uns am Autobus zu lesen ist: „Du sollst vor einem greisen Haupte dich erheben.“ Den Kindern im zweiten oder dritten Schuljahr habe ich das folgendermaßen erklärt: Du sitzt im Autobus, ein alter Mann steigt ein, da schaust du plötzlich interessiert zum Fenster hinaus. Du hast ihn also nicht gesehen. Wenn du ihn nicht gesehen hast, brauchst du nicht aufzustehen. Ja, mein Lieber, dich kannst du betrügen, den Alten kannst du auch betrügen, aber Gott kannst du nicht betrügen. Darum steht hinter diesem Satz: „Du sollst Erfurcht haben vor mir, weil ich der Ewige bin, dein Gott.“

Das zweite ist ein talmudisches Beispiel. Stellen Sie sich bitte vor, daß ich hier ein Feld besitze. Auf dieser Seite liegt das Feld vom Nachbarn A, und auf der anderen Seite liegt das Feld von Nachbar B. Jetzt kommt A zu mir und sagt: Hör mal zu, ich habe gehört, daß Nachbar B sein Feld verkaufen will. Ich kenne das Feld nicht, weil du dazwischenliegst. Kannst du mir vielleicht Auskunft geben? Ich hatte keine Ahnung von dem Angebot und antworte: „Das Feld ist einen Dreck wert, wenn du Glück hast kannst du gerade soviel herausholen, wie du hineinsteckst. Ich kann dir nur dringend abraten.“ Am nächsten Tag gehe ich schnell hin und kaufe das Feld. In diesem Fall sagen unsere Weisen, daß wir damit das Wort übertreten haben: „Vor einen Blinden keinen Stein legen.“ Das steht in demselben Kapitel. Was hat das noch zu tun mit dem Verkauf eines Feldes? Es soll gesagt werden: Jemanden wie einen Blinden zu Fall bringen, bedeutet nicht nur, jemandem körperlich zu schaden, sondern es bedeutet auch, jemanden übers Ohr hauen, es bedeutet, hinterlistig vorgehen, und so haben es unsere Weisen ausgelegt. Sie haben also dieses biblische Gebot auf unser tägliches Leben erweitert, und dort steht ebenfalls wie oben: Du sollst dich fürchten vor Gott usw.

Man erzählt, daß einmal ein Rabbi von einer Stadt zur anderen fährt und an einem herrlichen Garten vorbeikommt. Die goldgelben Äpfel blinken, der Kutscher springt ab, streckt die Hand aus und will einen Apfel pflücken. Der Rabbi schreit: „Man sieht!“ Der Kutscher springt zurück auf den Bock und und will weiterfahren. Er sieht sich um und sieht niemanden. Vorwurfsvoll sagt er zu seinem Rabbi: Es ist doch keiner da, der mich sieht. Der Rabbi sagt: „Man sieht!“ Dieses „man sieht!“ sollte uns begleiten und jeder von uns, egal welcher Religion er angehört, weiß, wie schwer das in der Praxis ist.

Es wird sich, mit Recht, eine andere Frage erheben. In der Bibel steht, wie allgemein sehr kurz und lapidar ausgedrückt: Du sollst einen Blinden nicht zu Fall bringen, einem Tauben nicht fluchen. Wo ist hier noch der Zusammenhang zwischen diesem Satz und dem von den Schriftgelehrten später gegebenen Grundsatz: Man soll jemanden nicht schädigen, du sollst niemanden übers Ohr hauen? Nun muß ich etwas vorausschicken. Wir Juden haben keine abgeschlossene Religionsphilosophie. Wir reden in Parabeln. Jesus war Jude, er hat auch in Parabeln gesprochen. Was ich jetzt erzählen werde, sind zwei Parabeln.

Als Moses auf den Berg steigt, um die Lehre von Gott zu empfangen, findet er Gott dort sitzen. Er schreibt eigenhändig die Lehre. Auch heute noch wird bei uns die Lehre mit einem Federkiel geschrieben und nicht gedruckt. Moses sieht, daß Gott kleine Häkchen an jedem Buchstaben anbringt. Er fragt Gott: „Wozu hast du das nötig? Du kannst mir die Lehre auch ohne diese Häkchen geben.“ Gott sagt: „Ja, in ferner Zeit wird einmal ein Gelehrter aufstehen, Rabbi Akiwa, und der wird an jedes Häkchen ein Gesetz anhängen. Für den bereite ich das vor.“ Darauf sagt Moses: „Wenn der Mann so groß ist, warum gibst du dann die Lehre nicht durch ihn?“ Gott sagt: „Schweig, so habe ich es beschlossen.“ Moses bittet Gott, er möchte einmal diesen Mann sehen. Gott führt ihn hinaus in die Welt, die später einmal sein wird, viele hundert Jahre später. Moses setzt sich bescheiden hin und hört zu, wie Rabbi Akiwa mit seinen Schülern lernt, und er versteht kein Wort. Da wird ihm etwas mulmig zumute, bis endlich einer der Schüler sich an den Rabbi wendet und fragt: „Rabbi, woher hast du das?“ Der Rabbi antwortet: „Das ist doch die überlieferte Lehre von Moses.“ Moses atmet auf. Ich werde die Geschichte in meiner Generation zu Ende führen. Es gehört nicht zu unserer Erzählung, wie wir sie benötigen. Moses sagt, als er zu Gott zurückkommt: „Du hast mir eine Lehre gezeigt. Zeige mir seinen Lohn.“ Da wird ihm gezeigt, wie dieser Rabbi Akiwa bei lebendigem Leibe verbrannt wird. Da ruft Moses aus: „Das ist die Lehre und das ihr Lohn?“ Gott antwortet: „Schweig, so habe ich es beschlossen.“ Ich brauche nicht zu erklären, was für unsere Generation diese Fortsetzung bedeutet. Aber gehen wir nun zurück zu dem, was uns wichtig ist an dieser Erzählung. Diese Erzählung, wenn ich es mit eigenen Worten sage, bedeutet doch eigentlich, daß genauso, wie wir an den Früchten und Blüten häufig nicht mehr den Kern erkennen können, der einmal in die Erde gesenkt wurde, so können wir manchmal nur schwer den Zusammenhang zwischen der schriftlichen und der mündlichen Lehre finden, aber das eine wäre nicht möglich ohne das andere. Das ist eine Diskussion, die sich fortsetzt bis in unsere Zeit, ein Lernen, ein Forschen, eine Auslegung, die nie ihr Ende finden wird. Aber sie muß im Rahmen dieser Kette bleiben.

Jetzt kann man fragen: Es kann also jeder hingehen und nach Gutdünken die Lehre auslegen, aber auch darauf gibt ein Midrasch eine Antwort. Wir sind im Lehrhaus. Im allgemeinen wurden im Lehrhaus Probleme anhand eines bestehenden Falles besprochen. Stellen wir uns vor, daß hier ein Gerät ist. Da sitzen die Gelehrten um den Tisch herum und da gibt es einen Starrkopf, den Rabbi Elieser, und der sagt: „Dieses Gerät ist rein.“ Eine Frage, die heute keine Bedeutung hat. Es ist eine kultische Frage, ob es für den Tempel rein ist. Alle anderen sagen: „Nein, dieses Gerät ist unrein.“ Aber dieser Rabbi gibt nicht nach.

Er sagt: „Wenn ich recht habe, wird jetzt der Johannesbrotbaum sich entwurzeln.“ Das geschieht. Darauf Rabbi Josua unerschütterlich: „Auf Wunder geben wir nichts.“ Darauf sagt Rabbi Elieser: „Wenn ich recht habe, wird jetzt der Wasserlauf vor dem Lehrhaus rückwärts fließen.“ Auch das geschieht. Daraufhin sagt Rabbi Josua: „Auf Wunder geben wir nichts.“ Rabbi Elieser: „Wenn ich recht habe, werden sich jetzt die Wände des Lehrhauses über uns beugen.“ Auch das geschieht. Da springt Rabbi Josua auf, brüllt die Wände an: „Wenn Gelehrte miteinander diskutieren, was geht euch das an?“ Da sagt der Midrasch humorvoll: Aus Ehrerbietung gegenüber Rabbi Elieser haben sie sich nicht mehr aufgerichtet. Aus Ehrerbietung gegenüber Rabbi Josua haben sie sich nicht weitergesenkt. So stehen sie noch heute da. Nun aber spielt Rabbi Elieser seinen letzten Trumpf aus: „Wenn ich recht habe, wird jetzt eine göttliche Stimme ertönen und die soll entscheiden.“ Man hörte eine Stimme vom Himmel: „Was wollt ihr von meinem Sohn Elieser, die Entscheidung richtet sich nach ihm.“ Anders formuliert: Objektiv hat er recht. Da wendet sich Rabbi Josua nach oben und sagt: „Du hast im fünften Buch Mose geschrieben, die Lehre sei nicht im Himmel, sie sei uns Menschen gegeben, damit wir sie mit unserem menschlichen Verstand klären, erforschen. Im zweiten Buch Mose hast du eine Regel festgelegt, wir hätten uns nach der Wahrheit zu richten; so, jetzt wird abgestimmt und damit ist der Fall erledigt.“ Einige Tage später, so erzählt der Midrasch weiter, trifft Rabbi Nathan, einer der Teilnehmer, den Propheten Elias, der noch ab und zu den Menschen erscheinen soll, und fragt ihn: „Sag mal, was hat Gott in dieser Stunde getan? Ist es nicht eine Frechheit, so mit Gott zu sprechen?“ Elias antwortet: „Gott hat gelächelt und gesagt: Meine eigenen Kinder haben mich besiegt.“ Das ist eine typisch jüdische Geschichte.

Ich fürchte immer, daß das für nicht-jüdische Ohren blasphemisch klingt, aber wir sprechen so mit Gott, wir fühlen uns ihm so nah. Wir haben so viel für Gott gelitten, daß wir glauben, so mit ihm sprechen zu dürfen.

Nun möchte ich anhand von drei Beispielen konkretisieren, was Mendelssohn sagt: Das Gesetz macht dich zum Juden. Vieles trennt uns so entscheidend in der Lebensführung, z.B. unser getrenntes Essen, wie unsere Gesetzesreligion es verlangt. Die drei Beispiele sind:

  • Sabbath,
  • Speisegesetze,
  • Sexualvorschriften.

1. Der Sabbath

Sie wissen, daß wir am Sabbath sehr, sehr schwierige Vorschriften haben. Das hat nichts mit körperlicher Arbeit zu tun. Es gibt darüber viele falsche Vorstellungen. Man kann beispielsweise nicht verstehen, warum ein gesetzestreuer Jude keinen Brief schreibt und keine Elektrizität entzündet –aber Kohlen dürfte ich theoretisch am Sabbath schleppen, weil es keine schöpferische Arbeit ist. Der Gedanke ist: Gott hat von der Schöpfung geruht, gleichsam ihn nachahmend sollen auch wir von der Schöpfung ruhen. Das bedeutet, daß das, was meine alltägliche Beschäftigung ist, am Sabbath aufhört. Ein Beispiel aus meiner Schulpraxis: Ich habe aus diesem Prinzip niemals meinen Schülern eine Prüfung für den Sonntag auferlegt. Nicht einmal in Bibelkunde, obwohl es eine wohlgefällige Tat ist, in der Bibel zu lernen - aber eben nicht für eine Prüfung, denn das ist eine alltägliche Beschäftigung.

Nun möchte ich einen guten Freund zitieren, er hat mein Buch herausgegeben, Professor Sauer. Wir haben uns durch meine Forschungsarbeit kennengelernt. Ich war aus praktischen Gründen einige Male am Sabbath bei ihm in einem kleinen Dorf in der Nähe von Stuttgart. Ich mußte ihm erklären, was ich darf, und was ich nicht darf. Am ersten Sabbath war ihm das merkwürdig. Das zweite Mal war es ihm immer noch fremd, aber schon verständlicher und nach dem dritten Sabbath sagte er, ein gläubiger Protestant: „Wissen Sie, Dr. Walk, wenn ich meinen Sonntag mit ihrem Sabbath vergleiche: ich habe mir Arbeit aus dem Archiv mitgebracht, Privatbriefe muß man ja auch schreiben, der Garten will ja auch gejätet werden.“ Einmal wollte er mit mir über Dokumente sprechen, die noch liegengeblieben waren. Ich sagte: „Tut mir leid, das ist meine alltägliche Beschäftigung.“ Daraufhin sagte er: „Zu einer solchen Abgeschlossenheit kann man nur kommen, wenn man einen Zaun um die Lehre baut.“ So steht es auch im Talmud. Wir haben so viele Vorschriften, die es einem eben nicht ermöglichen, den Samstag zu begehen wie einen Wochentag. Aber selbstkritisch füge ich hinzu, was ein deutscher Rabbiner einmal gesagt hat: Ein Zaun ist noch kein Garten. Man kann auch erstarren, man kann auch stehenbleiben bei den einschränkenden Gesetzen. Jedoch der Grundgedanke bleibt. Sie hätten dem ärmsten Trödler in Osteuropa am Sabbath ein Geschäft anbieten können, das ihn ernährt hätte für eine ganze Woche, er hätte es nicht gemacht. Um es wiederum ein wenig zu erleichtern, hier eine Anektdote über Rothschild. Der Gründer des Hauses, Amschel Rothschild, war ein gesetzestreuer Jude. Als solcher hat er am Sabbath die Bank geschlossen. Wenn nun ein Brief kommt, der amtlichen Charakter hat oder ein Telegramm öffnet man es nicht. Es kommt ein Telegramm, Rothschild legt es beiseite. Nach einer Stunde kommt wieder ein Telegramm, er legt es beiseite. Es kommen noch viele Telegramme, es häuft sich bis zum Abend. Am Abend zum Sabbathausgang nimmt Rothschild das unterste Telegramm hervor. Es ist die Anfrage eines deutschen Fürsten, die sollen ja manchmal verschuldet gewesen sein. Er bittet um eine Anleihe zu 5%. Da keine Antwort kommt, bietet er 10%. Es kommt keine Antwort, der Fürst bietet 15%, 20% usw., bis 40%. Aber zur Ehre von Rothschild sei gesagt, daß er sich an das talmudische Gesetz gehalten hat, man dürfe einem Käufer nicht mehr abnehmen, als man ursprünglich vorgehabt hatte. Und er ist trotzdem, oder gerade deswegen, reich geworden.

Der Sabbath hat also die Bedeutung, den Menschen dazu zu erziehen, daß er einen der stärksten Triebe, den Erwerbstrieb, im Zaum hält.

2. Die Speisevorschriften

Wir dürfen z.B. bestimmte Tiere nicht essen, das bekannteste Beispiel ist das Schwein. Die Tiere, die wir essen, müssen auf eine bestimmte Art geschächtet sein, eine Methode, die übrigens sehr human ist. Wir dürfen nicht fleischig und milchig zusammen essen. Wir müssen einen Segensspruch vor und nach dem Essen sprechen. Wir können uns nicht auf das Essen stürzen wie ein Tier. Wir müssen einen Moment nachdenken und überlegen, was ist dir erlaubt, und was ist dir nicht erlaubt. Bekanntlich ist ja schon der erste Mensch daran gescheitert. Hier sollen wir wieder lernen, den Essenstrieb, der ja ein Grundtrieb ist, im Zaum zu halten.

3. Sexualvorschriften

Dafür kann ich ihnen nur ein Beispiel geben. So müssen wir uns während der Menstruation und eine Woche danach vom Eheleben zurückhalten. Psychologen haben herausgefunden, daß das dem Eheleben guttut. Lassen wir Psychologie beiseite. Jedenfalls ist es so, daß diese Vorschriften den Sinn haben, auch den Sexualtrieb in den Grenzen zu halten. Wiederum hat uns der Talmud in einer kleinen Erzählung nahegebracht, daß es sich nur darum handelt, ihn in Grenzen zu halten, und nicht darum, ihn abzutöten. Wir haben ja kein Mönchtum. Da wird also erzählt, daß eines Tages die Weisen zu Gott kommen und sagen: Weißt Du, mit dem Trieb des Götzendienstes sind wir fertig geworden, das zieht nicht mehr, aber mit dem Sexualtrieb können wir nicht fertig werden, das kann im Grunde genommen keiner. Kannst du ihn nicht einen Tag einsperren? Und Gott erfüllt ihre Bitte. Wissen Sie, was das Ergebnis war? Am nächsten Tag gab es auf der ganzen Welt kein Ei mehr. Da haben sie schnell gebeten den Sexualtrieb wieder frei zu lassen, denn ohne ihn gibt es keine Fortpflanzung, kein Leben und keine Menschheit.

Wenn wir zusammenfassen, ist es das, was einer unserer großen Dichter und Gelehrten im Mittelalter sagt: Wir sollen lernen Herr unserer Triebe zu werden, damit nicht die Triebe uns beherrschen. Gesetz, immer wieder Vorschriften. Kann das nicht u.U. dem Glauben, der Gesinnung abträglich sein? Besteht nicht ein Wiederspruch zwischen dieser strikten Erfüllung von Geboten und einer wirklichen Frömmigkeit? Dafür möchte ich drei Beispiele bringen:

  1. Ein Beispiel aus der chassidischen Glaubenswelt,
  2. eines aus dem deutschen Judentum und
  3. ein sehr trauriges Beispiel aus der Shoa in Osteuropa

Das erste Beispiel

Wir müssen zwei Begriffe klären. Chassidismus bedeutet eine sehr verinnerlichte Frömmigkeit. Die hat manchmal leider auch zu Auswüchsen führt, wenn man z.B. den Rabbi zu sehr verehrt. Auf der anderen Seite gab es die Gegner, die sich auch so genannt haben „Misnagdim“. Ein Chassid ist ein Angehöriger des Chassidismus, meist in Polen vertreten. Die Misnagdim waren in Litauen vertreten und man nannte sie jiddisch „Litwag“. Wir deutschen Juden waren mehrheitlich in dieser Hinsicht eher zum litauischen Judentum geneigt, weil wir sehr rationalistisch eingestellt waren.

Einmal kommt ein Litwag in eine Gemeinde, die nur aus Chassiden besteht. Das kommt vor. Es kommen die hohen Feiertage, die Vorzeit, die Bußgebete, noch vor dem Neujahrsfest, noch weit vor dem Versöhnungstag. Es ist in Osteuropa üblich gewesen, daß um drei Uhr früh schon der Synagogendiener durch die Straßen geht und ruft: Juden, auf zum Gebet. Dann versammelt sich die ganze Gemeinde. Der Litwag geht auch. Er sieht sich um, die Gemeinde ist voll versammelt, und es fällt ihm auf, daß der Rabbi nicht da ist.

Da fragt er seinen Nachbarn: Sag mal, wo ist euer Rabbi? Er bekommt die Antwort: Psst, wenn alle beten, steigt die Seele des Rabbi zu Gott auf und bittet eine Fürbitte. Der Litwag sagt: Ach, solche Dummheiten! Wer glaubt denn an solche Ammenmärchen? Der Chassid bleibt dabei und der Litwag, das sind Starrköpfe, sagt er wird der Sache auf den Grund gehen. Eines Tages schleicht er sich in das Haus des Rabbi und legt sich unter das Bett. Nachher hat er zugegeben, daß es ihm doch ein bißchen unheimlich gewesen war. Er wartet ab, was da geschehen wird. Nachts (man hört schon die Stimme des Synagogendieners, der ruft: Juden auf zum Gebet) sieht er, daß der Rabbi aufsteht und in die Küche geht; er zieht die Kleider eines russischen Bauern an, nimmt Stricke und eine Axt. Der Litwag denkt schon, daß der Rabbi vielleicht am Tag ein Heiliger ist und in der Nacht ein Mörder. Der Rabbi wartet, bis das ganze Städtchen in der Synagoge versammelt ist, geht aus dem Haus und der Litwag folgt ihm wie ein Schatten. Der Rabbi schleicht sich an den Häusern entlang, geht in den Wald und fällt Holz, bündelt es mit den Stricken. Nachdem er glaubt, genug zu haben, geht er zurück und der Litwag, wie ein Schatten, hinter ihm her. Das Städtchen ist leer, und der Rabbi geht bis zum allerletzten Gäßchen, wo die Ärmsten der Armen wohnen. Er kommt an ein Häuschen und klopft. Von innen hört man die Stimme einer kranken Frau: Wer ist da? Der Rabbi antwortet auf russisch: Ich, Wassil. - Was willst du, Wassil? - Ich habe Holz zu verkaufen. – Ich hab kein Geld, um Holz zu kaufen. - Dumme Jüdin, du hast einen großen Gott. Ich bin bereit dir zu stunden und du verläßt dich nicht auf deinen Gott! - Aber es ist niemand da, der anzündet. - Na, das laß mich mal machen. Der Rabbi geht hinunter, und als er das erste Scheit anzündet, sagt er das erste Bußgebet. Als er das zweite anzündet, sagt er das zweite Bußgebet. Und als die Stube warm war, hatte er alle Bußgebete gesagt. Als am nächsten Tag der Chassid den Litwag fragt: Nun, was sagst du jetzt? Stimmt es, daß die Seele des Rabbi aufsteigt bis zum Himmel? Darauf soll er geantwortet haben: Wenn nicht noch höher. Und er wurde ein Chassid.

Die zweite Erzählung.

Einer der größten Rabbiner in Deutschland, einer der letzten Generation, war Rabbiner Joseph Carlebach aus Hamburg. Er hatte neun Kinder. Beim neunten Kind hat ihm noch Hindenburg ein Glückwunschtelegramm geschickt, nach der damals üblichen Sitte. Nicht gerade, weil er Jude war, sondern weil es das neunte Kind war. Der nächste Reichskanzler hat ihm dann den Tod geschickt. Vier seiner Kinder blieben mit ihm zurück. Ein Verwandter dieses Rabbi, aber es hätte auch ihm passieren können, war in Leipzig Schulleiter und Rabbiner. Es kam nun vor, daß die Sommerferien in die Trauerzeit fielen. Diese Trauerzeit um den Tempel in Jerusalem dauert drei Wochen. Sein Sohn wurde später Schriftsteller und Journalist in Israel und er erzählte, daß die Kinder schon ängstlich auf den Kalender gesehen haben, denn sie wußten, wenn die großen Ferien in diese Trauerzeit fallen, dann gibt es keine Freude, keine Süßigkeiten, man geht nicht ins Theater oder ins Konzert. Aber Schule ist Schule und der Rabbiner ist an die Schule gebunden, weil er Schulleiter ist. Diesmal war es wieder so, daß die drei Wochen Trauerzeit in den Sommerferien liegen. Der Rabbiner Carlebach geht also mit seinem Sohn, was kann er schon machen, im Wald spazieren. Er lernt dabei aus dem Talmud, das ist für ihn selbstverständlich, daß er einen Teil des Talmud auswendig kann. Sie gehen, bis sie plötzlich an eine Lichtung kommen. Sie sehen ein Kaffeehaus, wo gute Bürger sich Kaffee kaufen können. Da ist ein alter Geiger, der spielt und kein Mensch kümmert sich um ihn. Dastut dem Rabbiner weh. Er möchte dem armen Mann eine Freude machen. Damals, in der Weimarer Zeit trug er einen Zylinder und er sah vornehm aus. Er beginnt zu klatschen. Als die deutschen Bürger sehen, daß ein Mann mit Zylinder klatscht, fangen sie alle zu klatschen an. Der Geiger freut sich und verbeugt sich. Aber, Musik darf man ja nicht hören, in den drei Trauerwochen. Kaum beginnt er zu spielen, verschwindet der Rabbiner mit seinem Sohn im Wald. Kaum hat der Geiger aufgehört, erscheint der Rabbiner auf der Lichtung und beginnt zu klatschen, denn es ist eine religiöse Pflicht, einem armen Mann, im weitesten Sinn, sei er Jude oder nicht, eine Freude zu machen. Andererseits darf man nicht Musik hören. Das ist nicht im Gegensatz zueinander, und er verstand es zu vermitteln.

Der Rabbiner aus Hamburg hatte eine viel schwierigere Situation. Er blieb bei seiner Gemeinde und er wußte, daß er seine Frau und seine vier Kinder, die bei ihm geblieben waren aufs Spiel setzte. Es gibt einen Brief von ihm, den er in der letzten Nacht geschrieben hat, bevor er mit seiner Gemeinde nach Riga gehen mußte, wo er erschossen wurde. In diesem Brief stand, daß er jetzt befreit ist von einem Dilemma, aus dem er keine Lösung wußte: Zum einen der Verantwortung gerecht zu werden, die er für seine Gemeinde trägt, und zum andern der Verantwortung, die er seiner Familie gegenüber hat. Nun opfert er nicht nur sich selbst, sondern auch seine Familie. Wiederum ein gesetzestreuer Jude.

Das letzte Beispiel aus der Shoa

Wir sind in einem Ghetto, 1942. Wiederum haben die Nazis, die den jüdischen Kalender sehr gut kannten, für den zweiten Neujahrstag eine Aktion festgesetzt. Hundert Kinder haben sich am Sammelplatz einzufinden. Da ist ein Vater, ein Litwag, der einen einzigen Sohn hat, dieser steht auf der Liste. Der Vater ist verzweifelt. Er läuft im Zimmer auf und ab und weiß nicht, was er tun soll. Plötzlich öffnet sich die Tür und sein Nachbar erscheint. Hör mal zu, ich hab doch dein kleines Mäuschele so lieb, ich kenn es doch von der Wiege auf. Morgen werde ich dir meine Mütze geben, ich bin in der Ordnungspolizei, und du kannst das Kind aus dem Zug herausholen. Der glückliche Vater will ihn umarmen, als der Mann plötzlich stehenbleibt, und sagt: Aber eins mußt du wissen, es müssen hundert sein. Er läßt den ratlosen Vater zurück. Der läuft zum Rabbi und fragt: Rabbi, was soll ich tun? Mein einziges Kind, meine ganze Welt, wie soll ich mich verhalten? Der Rabbi sagt:Wie kann ich dir raten? Ich kann dir keinen Rat geben. Aber du bist mein Seelsorger, du mußt mir raten! Der Rabbi sagt: Ich weiß keinen Rat. Da richtet sich der Mann auf und sagt: Deine Nichtantwort ist auch eine Antwort. Am nächsten Tag hat er eigenhändig sein Kind zum Sammelplatz geführt, und es ist der zweite Neujahrstag, an dem wir in der Synagoge die Bindung Isaaks lesen. Dann ist dieser Mann im Ghetto auf- und abgegangen und hat laut diesen Abschnitt vor sich hergesagt, von der Bindung Isaaks. Dann wandte er sich an Gott und sagte: Abraham war bereit seinen einzigen Sohn zu opfern, ich habe heute auch meinen einzigen Sohn geopfert.

Alle drei, die ich erwähnt habe, waren sogenannte gesetzestreue Juden, die unter dem Joch des Gesetzes standen. Sie waren jedoch tief gläubig und haben ihren Glauben unter Beweis gestellt.

Nun gibt es Gesetze zwischen Mensch und Gott, die wir nicht von selbst gefunden hätten, so wie Sabbathgesetze, Speisegesetze usw. Es gibt auch Gesetze zwischen Mensch und Mensch. Was ist nun, wenn die miteinander kollidieren, z.B. Menschenleben retten und Sabbathgesetze? Auch dafür haben wir eine Antwort gefunden.

Da wird erzählt, daß zu einem Rabbi einer seiner Gläubigen kommt und etwas anmaßend sagt: Rabbi, ich kann alle Gebote erfüllen! Nur ein Gebot kann ich nicht erfüllen. So, sagt der Rabbi, nur ein Gebot nicht? Welches denn? Es steht geschrieben: Du sollst den Ewigen, deinen Gott, lieben. Ich hab ihn nicht lieb. Darauf sagt der Rabbi: Mein Lieber, ich habe den Verdacht, daß du noch ein Gebot nicht erfüllst. Es steht geschrieben: Du sollst den Nächsten lieben, er ist wie du. Ich kann dir nur einen Rat geben, erfülle dieses Gebot und du wirst auch zu Gottes Liebe kommen.

Theologisch gesprochen muß man erst den Gesetzgeber anerkennen, um seine Gesetze auf sich zu nehmen. Aber pädagogisch gesprochen sollte man wohl umgekehrt vorgehen. Man sollte beginnen, wie auf einer Leiter, mit dem zehnten Gebot, mit dem Nächsten, und dann aufsteigen zu Gott. Ein großer, nicht sehr kirchlicher, aber sehr gläubiger Christ, Pestalozzi, der Waisenkinder erzogen hat, hat einmal in demselben Sinn gesagt: Wenn du dem Waisenkind von Gottvater sprichst, hast du wenig getan. Wenn du ihm aber gütig, wie Gottvater, entgegentrittst, wirst du es auch zu Gottvater führen. Ich glaube, daß sich hier wahres Judentum und wahres Christentum treffen. •

 

Editorische Anmerkungen

Vortrag auf der Tagung „Was eint und was trennt Juden und Christen?“, in Jauernick-Buschbach bei Görlitz, 9. März 1996