„Das Gesetz: es zügelt uns und macht uns frei“

Der Rektor des Abraham Geiger Kollegs, Rabbiner Prof. Walter Homolka, hat im Rahmen der Fastenpredigtreihe 2020 „DEMUT – Was zügelt uns?“ am 8. März 2020 im Dom zu Berlin eine Predigt zu „Das Gesetz: Es zügelt uns und macht uns frei. 5. Buch Mose, 4“ gehalten. Nachfolgend der zugrunde liegende Evangeliums- und Predigttext sowie die Predigt von Rabbiner Homolka.

Evangeliumstext: Johannes 3, 14 – 21 - Jesus und der Pharisäer Nikodemus:

Und wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, 15 auf dass alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben. 16 Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. 17 Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde. 18 Wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet, denn er hat nicht geglaubt an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes. 19 Das ist aber das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse. 20 Wer Böses tut, der hasst das Licht und kommt nicht zu dem Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden. 21 Wer aber die Wahrheit tut, der kommt zu dem Licht, damit offenbar wird, dass seine Werke in Gott getan sind.


Predigttext Dtn 4, 1 – 2. 5 – 9.

1 Und nun höre, Israel, die Gebote und Rechte, die ich euch lehre, dass ihr sie tun sollt, auf dass ihr lebt und hineinkommt und das Land einnehmt, das euch der HERR, der Gott eurer Väter, gibt. 2 Ihr sollt nichts dazutun zu dem, was ich euch gebiete, und sollt auch nichts davontun, auf dass ihr bewahrt die Gebote des HERRN, eures Gottes, die ich euch gebiete. […] 5 Sieh, ich habe euch gelehrt Gebote und Rechte, wie mir der HERR, mein Gott, geboten hat, dass ihr danach tun sollt im Lande, in das ihr kommen werdet, um es einzunehmen. 6 So haltet sie nun und tut sie! Denn darin zeigt sich den Völkern eure Weisheit und euer Verstand. Wenn sie alle diese Gebote hören werden, dann müssen sie sagen: Was für weise und verständige Leute sind das, ein herrliches Volk! 7 Denn wo ist so ein herrliches Volk, dem Götter so nahe sind wie uns der HERR, unser Gott, sooft wir ihn anrufen? 8 Und wo ist so ein großes Volk, das so gerechte Ordnungen und Gebote hat wie dies ganze Gesetz, das ich euch heute vorlege? 9 Hüte dich nur und bewahre deine Seele gut, dass du nicht vergisst, was deine Augen gesehen haben, und dass es nicht aus deinem Herzen kommt dein ganzes Leben lang.


Liebe Gemeinde,

Im Evangelium haben wir gehört: „wer nicht an Jesus glaubt, der ist schon gerichtet (Joh 3, 18).“

Da ist sie wieder, die Botschaft, die das Verhältnis von Juden und Christen 2000 Jahre lang vergiftet hat. Der Anspruch des Christentums, in der Nachfolge Jesu den Bund Gottes mit seinem Volk Israel aufgehoben zu haben, oder fortgeführt, oder vollendet.

Der Tempel in Jerusalem zerstört, das Volk Gottes in alle Winde zerstoben, als Mahnmal des wandernden Verstoßenen, Exempel der Verwerfung durch Gott, weil Juden nicht geglaubt haben und nicht glauben. Denn „wer nicht an Jesus glaubt, der ist schon gerichtet (Joh 3, 18)“.

Joseph Ratzinger hat das kürzlich noch so formulieren können:

„Auf diese Weise haben die Juden gerade durch ihre endgültige Zerstreuung in der Welt die Tür zu Gott geöffnet. Ihre Diaspora ist nicht bloß und nicht primär ein Zustand der Strafe, sondern bedeutet eine Sendung.“[1]

Und was für eine Mission könnte das sein? Zeugnis abzulegen für Gottes Verwerfung seiner ursprünglichen Liebe zugunsten derer die dem Licht Jesu gefolgt sind. Die Juden dagegen lieben die Finsternis mehr als das Licht (Joh 3,19).

Kein Wunder, dass im Umfeld von Karfreitag und Ostern jahrhundertelang Exempel statuiert wurden an den jüdischen Gemeinden vor Ort. Wut über die jüdische Verstockung und den Mord am Herrn Jesus Christus entluden sich über den jüdischen Nachbarn. Folge waren Ghettoisierung, Entrechtung, Plünderung, Vertreibung und Ermordung.

Dabei blicken Juden und Christen in Deutschland auf 1700 Jahre gemeinsames Leben zurück. „Allen Stadträten gestatten wir, die Juden in die Kurie zu berufen.“ Mit diesem Satz ordnete der römische Kaiser Konstantin im Jahr 321 an, dass Juden in Köln öffentliche Ämter in der Stadtverwaltung bekleiden dürfen. Das Edikt, dessen Original sich im Vatikan befindet, gilt als die Geburtsurkunde der nachweislich ältesten jüdischen Gemeinde im Europa nördlich der Alpen.

Wie aus einem jahrhundertelangen Neben- und Gegeneinander ein Miteinander werden kann, haben Juden und Christen seit der ungezügelten Ermordung von 6 Millionen in der Schoa mühsam lernen müssen. Das Herantasten aneinander brauchte wohl den Schock, dass in einem christlich geprägten Land kein Wall christlicher Werte diesen Völkermord verhindert hatte. Den Grund sah der Berliner Rabbiner Leo Baeck im engen Verhältnis von Staat und evangelischer Kirche. 1926 schrieb er an Rabbiner Caesar Seligmann:

„Es ist ein geistiges und moralisches Unglück Deutschlands, daß … man aus dem Deutschtum eine Religion gemacht hat. Anstatt an Gott zu glauben, glauben sie – lutherische Pfarrer voran – an das Deutschtum.“[2]

So nahm das Unglück seinen Lauf. Nach dem großem Sterben war es ein Weg der kleinen Schritte, jahrzehntelang, ermöglicht durch das Stuttgarter Schuldbekenntnis des Rats evangelischer Kirchen von 1945. Dort heißt es:

„Mit grossem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“

Dieses Bekenntnis war ein Akt der Demut – der Demütigung – angesichts der Folgen einer verbrecherischen Selbstermächtigung des Menschen gegen den Menschen.

Seitdem hat sich der Blick auf Jesus geweitet. Ein Bild von Moshe Hoffmann aus dem Jahr 1967 macht es sinnfällig. Es stammt aus der Serie von Holzschnitten „6 Millionen und eins“. Wir sehen, wie Jesus durch einen NS-Schergen vom Kreuz geholt wird und einreihen muss in die Selektionsschlange eines Konzentrationslagers. So wird Jesus erneut zum Opfer, diesmal im Kontext seines eigenen Volkes. Auf einmal entsteht eine solidarische Linie vom Leiden Jesu zum Leid des jüdischen Volkes. Im Kreuzestod Jesu zeigt sich für Moshe Hoffman der Tod des Göttlichen, des Lichts, aber auch das Vertrauen in die Berufung des Menschen zur schöpferischen Gestaltung der Welt. Der Gegensatz zwischen Juden und Christen löst sich auf, die Darstellung des ins KZ verschleppten Jesus macht aber deutlich, dass Jesus zuallererst Jude war. Damit deckt der Künstler eindrücklich das Versagen der Menschen auf, die sich auf Jesu Lehren beziehen und doch das Volk Jesu stets missachtet und verfolgt haben. Ob diese Beziehung des Juden Jesus zum Judentum nicht letztlich inniger ist, als die der Christen zu ihrem vermeintlichen Religionsgründer?[3] Was für eine steile Behauptung.

Heinrich Heine hat schon 1838 ein zugespitztes Bild dafür gefunden:

„Ich kenne einen guten Hamburger Christen, der sich nie darüber zufrieden geben konnte, daß unser Herr Heiland von Geburt ein Jude war. Ein tiefer Unmut ergriff ihn jedesmal, wenn er sich eingestehen mußte, daß der Mann, der, ein Muster der Vollkommenheit, die höchste Verehrung verdiente, dennoch zur Sippschaft jener ungeschneuzten Langnasen gehörte, die er auf der Straße als Trödler herumhausieren sieht, die er so gründlich verachtet, und die ihm noch fataler sind, wenn sie gar, wie er selber, sich dem Großhandel mit Gewürzen und Farbestoffen zuwenden, und seine eigenen Interessen beeinträchtigen.“[4]

Und hier kommt der Predigttext ins Spiel. Im 5. Buch Mose wird das jahrhundertelang herabgewürdigte Volk als „herrliches Volk“ beschrieben, „weise und verständige Leute“ (Dtn 4, 6), ein „großes Volk mit gerechten Ordnungen (Dtn 4, 8)“, von Gott gegeben. „Ihr sollt nichts dazutun zu dem, was ich euch gebiete, und sollt auch nichts davontun“, heißt es in Kapitel 4, Vers 2.

Eine gute Ordnung also hat Gott dem jüdischen Volk gegeben, in der wir alles finden, wenn wir sie nur hin- und herwenden, darüber ins Streitgespräch kommen, wie Jesus der Jude mit seinen Mitpharisäern - wie dem Pharisäer Nikodemus aus dem Johannesevangelium.

In Deuteronomium 4 findest sich eine ganz andere Beurteilung des Gesetzes, als die protestantische, die ich einmal so zusammenfassen will: „Wer das Gute von der Erfüllung der Gebote und Pflichten erwartet, der lebt unter dem Joch des Gesetzes.“[5] oder, wie Luther es formuliert, er „besudelt sich am Gesetz“.

In der Gewissheit der Erlösung scheint Luther zugleich allem menschlichen Bemühen jeden Wert abzusprechen und das Heil einzig und allein von der Gnade und vom Glauben abhängig zu machen. Die Erlösung allein aus Glauben wird nicht „erarbeitet“, sondern empfangen, und zwar nach einem von Anfang an vorherbestimmten göttlichen Plan.[6] Im Glauben kommt das „Wort“ über den Menschen und bringt ihn ganz ohne sein Zutun dazu, es anzunehmen. Durch „Wort“ und Sakrament wird der Mensch ergriffen und in den Stand der Erlösung versetzt. Er fragt nun nicht mehr nach dem, was er tun muss, sondern allenfalls danach, ob ihm die Erlösung bereits geschenkt wurde.

Für das sittliche Handeln des Menschen und die Pflicht zur Gestaltung der Welt bleibt in diesem Modell der Reformation kein Raum.[7] Es lebt von der Abkehr von der sittlichen Freiheit, die das Gute, indem es durch den Einzelnen verwirklicht wird, für ihn möglich macht. Diese pessimistische Sicht des Menschen – eingepfercht zwischen Staat und Kirche – ist in jüdischer Perspektive einer der schwerwiegendsten Irrtümer der lutherischen Theologie.

Das Gemeinsame ist: Beide, Jude wie Christ, leben aus der Gnade, sei es nun aus der Gnade Gottes und seiner Weisung oder aus der Gnade Christi.[8] Der Konflikt zwischen beiden Positionen bricht erst an der Frage auf, ob der Mensch in der Lage ist, sich durch sein Tun vor Gott zu rechtfertigen. Während Luther dies verneint, bejaht das Judentum die Vorstellung von der gerechten Ordnung Gottes: Die höhere Welt dringt in der Form des Gebotes immer wieder in die niedere ein und möchte Menschen ergreifen. Das Gebot schließt in sich Güte, Treue, Selbstlosigkeit, Zuversicht und Versöhnung ein. „Erwählung“ meint also hier nicht ein passives Ergriffenwerden von der Gnade, sondern ein Annnehmen des göttlichen Anrufs: bewahrt die Gebote des HERRN, eures Gottes(Dtn 4, 2).

Das schließt aus Sicht des Judentums die Freiheit des Menschen ein, die Chance der Rechtfertigung durch Treue zu Gottes Gebot zu ergreifen oder auszuschlagen, ganz nach seinem Willen. Das Ziel unseres Lebens vor Gott sollte sein: Gerechtigkeit üben und Gerechtigkeit suchen. Gerechtigkeit aber wird durch Werke und Leistungen, durch Pflichterfüllung und das Ringen um das Gebot erlangt.

Denn, so das Judentum: Religion soll nicht ein gutes Gewissen schenken, sondern das Gewissen in einen ständigen Zustand der Unruhe und Herausforderung versetzen. Nur dann ist sie wahrhaft Religion. Sie muss fähig sein und entschlossen, jeder geschöpflichen Macht Widerstand anzusagen und Widerstand zu leisten, wenn es gilt, das Ewige zu verteidigen.

Das Leben unter Gottes guter Weisung behütet und bewahrt uns vor der Selbstermächtigung des Menschen, die so oft in die Krise führt. Insoweit zügelt uns das Gesetz und macht uns frei.

Jesus hat die Kunde von Gottes Weisung allen Menschen eröffnet und zugänglich gemacht. Unser Bruder hat damit Großes geleistet. Christliche Theologen haben längst die Aufgabe erkannt: eine Lehre von Jesus als Christus zu formulieren, die ohne eine Karikatur des Judentums auskommt, seine bleibende Erwählung ernst nimmt und eine positive Einstellung zur Willensfreiheit der Menschen wertschätzen kann.

Wo ist so ein großes Volk, das so gerechte Ordnungen und Gebote hat wie dies ganze Gesetz, das ich euch heute vorlege? fragt Gott im 5. Buch Mose (4, 8).

Mitten unter Euch ist es, und Jesus ist einer davon. Uns Juden ist er Bruder, Euch ist er Herr. Jesus weist uns gemeinsam auf eine Lebensaufgabe hin: jeder möge sagen können: seine Werke seien in Gott getan (Joh 3, 21)

Amen.

[1] Joseph Ratzinger, Gnade und Berufung ohne Reue, Anmerkungen zum Traktat „De Judaeis“, in: Internationale Katholische Zeitschrift Communio 47 (2018), S. 402.

[2] Leo Baeck Werke, Band 6, S. 205.

[3] Walter Homolka, Der Jude Jesus – Eine Heimholung, Freiburg 2020. S 15 f.

[4] Heinrich Heine, Shakespeares Mädchen und Frauen (1838).

[5] Leo Baeck, Werke, Band 6, S. 100.

[6] Leo Baeck Werke. Bd. 4, S. 69, vgl. auch 85; Martin Luther, Werke, Weimar 24, 18: „Denn ein solch mensch mus allen dingen gestorben seyn, dem guten und bösen, dem tod und leben, der hell und dem hymel und von hertzen bekennen, das er aus eygnen krefften nichts vermag.“; Die Deutsche Bibel 7, 23 (1906): „Zu Röm 9–11 „leret er von der ewigen Versehung Gottes, Daher es ursprunglich fleusset, wer gleuben, oder nicht gleuben sol, von suenden los oder nicht los werden kann. Damit es je gar aus unsern henden genomen, und alleine in Gottes hand gestellt sey, das wir frum werden.“

[7] Leo Baeck Werke. Bd. 3, S. 287.

[8] Robert Brunner (Hrsg.): Gesetz und Gnade im Alten Testament und im jüdischen Denken. Zürich 1969, S. 78.

Editorische Anmerkungen

Quelle: Abraham Geiger Kolleg, Potsdam