Das endzeitliche Zusammenkommen Israels und der Weltvölker
Ein Höhepunkt der neutestamentlichen Offenbarung besteht in der Aussage im siebenten Kapitel der Offenbarung des Johannes (Apokalypse), dass am Ende der Zeiten, zusammen mit den Stämme und Generationen des israelitisch-jüdischen Volkes, allen Völkern die verheißene endzeitliche Rettung und ihre Hineinnahme in das Reich Gottes zugesagt wird. Der Verfasser (ca. 90 n.u.Z.) sah im Leben, im Martyrium, im Tod und in der Auferstehung Jesu die Basis für den Zugang zum Reich Gottes, nicht allein für das jüdische Volk, sondern für alle Völker. Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels (70 n.u.Z.) und die damit verbundene Vertreibung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung bedeutete für ihn einen furchtbaren Frevel mächtiger Heiden und Dämonen. Aber er sah darin auch eine Voraussetzung für das neue Jerusalem, das Gott selbst als Ort des Königs bewohnen wolle (vgl. Offb 11,1 f.; 21,10-22,5). Johannes war auch wegen der Verfolgungen der Christen seitens der römischen Kaiser Nero (54-68) und Domitian (81-96) beunruhigt. Er deutete die von den heidnischen Herrschern verursachten Leiden als Nachfolge des Leidens und Sterbens Jesu und daher als übernatürliches Ereignis. Die Himmelsvision mit dem Lamm am Thron Gottes, den vier Wesen und den vierundzwanzig Ältesten (Offb 4,1-11) wirkt wie ein Schlüssel, der den gequälten und leidenden Menschen das Tor in das Endreich Gottes öffnet.
Dreiundzwanzig mal wird in der Apokalypse vom Lamm gesprochen. Basierend auf Jes 53,4-8 wird der „Knecht Gottes” als Opferlamm gedeutet, das dem Volk Israel Rettung und Heil bringt: „[..] Wir meinten, er sei von Gott geschlagen [...]. Doch wegen unserer Sünden wurde er durchbohrt. [ ..] Wir hatten uns alle verirrt wie Schafe. Jeder ging für sich seinen Weg. Doch der Herr lud auf den , Knecht‘ die Schuld von uns allen. [...] Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt, tat er seinen Mund nicht auf. [...] Er wurde [...] wegen der Verbrechen seines Volkes zu Tode getroffen."
Schon vor der Zeit dieses jesajanischen Gottesknechtliedes wurde das geschlachtete Lamm vom israelitischen Volk nicht nur als Sühneopfer Gott dargebracht. Es herrschte auch die Überzeugung, dass mit dem geopferten Lamm alle Bitten und Verdienste des gläubigen Volkes zu Gott empor getragen werden. Wenn Jesus im Neuen Testament als Lamm bezeichnet wird, dann ist dies sowohl eine Anerkennung seiner die Sünden tilgenden Erlösungskraft als auch das gläubige Wissen, dass Menschen durch Werke und Worte an der Erlösung der Mitmenschen mitwirken können.
1. Berufung aller Israeliten
Laut Offb 7,1-8 sah der Visionär an den vier Enden der Erdoberfläche vier Engel stehen. „Sie hielten die vier Sturmwinde der Erde fest, damit kein Wind über das Land brause und auch nicht über das Meer und auch nicht gegen einen Baum.” Dann sah er am Ort des Sonnenaufgangs einen anderen Engel, der „das Siegel des lebendigen Gottes” bei sich trug. Dieser rief den vier Engeln zu: „Schädigt nicht das Land, nicht das Meer und nicht die Bäume, bis wir den Knechten Gottes das Siegel auf die Stirn gedrückt haben.” Die Zahl der Gekennzeichneten aus den zwölf Stämmen Israels betrug hundertvierundvierzigtausend. Der vom Sonnenaufgang erscheinende Engel wird von christlichen Exegeten als der verherrlichte Erlöser (Messias) gedeutet.
Im neunten Kapitel des Buches des Propheten Ezechiel wird von der Zerstörung der Stadt Jerusalem berichtet. In einer Vision sieht der Prophet, wie sechs Männer mit Zerstörungswerkzeugen den Tempel betreten, um im Auftrag des zornerfüllten Gottes den Tempel zu zerstören. Einem der Männer befiehlt der über den Cherubim schwebende Gott: „Geh durch die Stadt Jerusalem und schreib ein Taw auf die Stirn aller Männer, die wegen den inder Stadt begangenen Gräueltaten seufzen und stöhnen.”
Die mit dem hebräischen Buchstaben Taw Gekennzeichneten blieben verschont. Alle anderen Bewohner der Stadt Jerusalem wurden erschlagen.
In der Johannesapokalypse wird diese Erzählung wieder aufgegriffen. An die Stelle des Taw treten das Alpha und das Omega, der erste und der letzte Buchstabe des griechischen Alphabets, entsprechend den Worten des unendlichen, die Geschichte der Menschheit lenkenden Gottes: „Ich bin das Alpha und das Omega, der Anfang und das Ende. Ich will den Durstigen umsonst aus der Quelle des Lebenswassers zu trinken geben” (Offb 21,6; vgl. Offb 22,13).1 Beide Zitate nehmen Bezug auf Jes 44,6: „So spricht der König Israels und sein Erlöser, der Herr der Heere: Ich bin der Erste und der Letzte; außer mir gibt es keinen Gott” (vgl. auch Jes 41,4; 48,12). Die symbolische Zahl der 144 000 Gekennzeichneten aus den zwölf Stämmen Israels sind die Gerechten aller Zeiten, die beauftragt sind, das gottgefällige Leben der Israeliten zu fördern und die götzendienerischen Feinde Israels zu bekämpfen. Bereits Moses und David hatten stets 12 000 bzw. 24 000 Israeliten aus allen israelitischen Stämmen zur Verteidigung des Landes, der Sitten und des Glaubens bestellt (Num 31,4-6;1 Chron 27,1-15). Im Römerbrief heißt es ähnlich: „Gott hat alle (Juden und Nichtjuden) im Ungehorsam zusammengeschlossen, um sich aller zu erbarmen” (Röm 11,32; vgl. Gal 3,22). Laut Lk 23,34 rief Jesus am Kreuz: „Vater, vergib ihnen, dennsie wissen nicht, was sie tun.” Vom Geist Gottes erhielt der sterbende Jesus die Botschaft, dass
Gott allen Israeliten, der früheren Zeiten und auch den gegenwärtigen Gegnern Jesu, die Sünden verzeiht und sie in das Reich Gottes hinein nimmt.
2. Die Trinity Apokalypse
Etwa in der Mitte des 13. Jh. schuf ein unbekannter Künstler einen Bilderzyklus über die 22 Kapitel der Johannesapokalypse. Der Zyklus ist im Trinity College in Cambridge aufbewahrt und darum als „Trinity-Apokalypse” bekannt.2Die den neutestamentlichen Texten eindrücklich angepassten Kunstwerke sollten der religiösen Unterweisung dienen. Sie thematisieren die Herrschaft Gottes über alle Welt, Völker und Zeiten, die Erlösungstaten Christi und das begnadigende Wirken des Geistes Gottes, Verführungsstrategien des Teufels und die himmlische Belohnung der durch Verfolgungen und Martyrien hindurch im Glauben treu Gebliebenen; und schließlich das Endziel der Offenbarung, das „jüngste Gericht” (Offb 20,11-15), und das Kommen der Endherrschaft Gottes.
Im Zentrum des als „7 r” bezeichneten Bildes der Trinity-Apokalypse (zu Offb 7,1-8) sind – in einem Rahmen von zwölf Feldern – die zwölf Stämme Israels als Repräsentanten der 144 000 abgebildet: Juda, Ruben, Gad, Aser,Naftali und Manasse (obere Reihe);Simeon, Levi, Issachar, Sebulon, Josefund Benjamin (untere Reihe). Die Schar der Auserwählten ist umrahmt vom Erdkreis: außen rot für das Blut der jüdischen Märtyrer und Bekenner, innen umspült eine mächtige Woge grünen Meeres den Erdkreis.
An den vier Himmelsrichtungen halten vier Engel die Kräfte der Natur festin den Händen – Wind, Sturm, Erdbeben, Überschwemmungen und Feuerbrände – dargestellt als Köpfe mit Flügeln. Rechts oben, außerhalb des Erdkreises und von der aufgehenden Sonne kommend, schwebt ein fünfter Engel. Er trägt das „Siegel des lebendigen Gottes” und hebt die rechte Hand als Symbol der rettenden Hand Gottes. Den über die drohenden Stürme herrschenden vier Engeln ruft er mahnend zu: „Fügt dem Land, dem Meer und den Bäumen keinen Schaden zu, bis wir den Knechten unseres Gottes das Siegel auf die Stirn gedrückt haben" (Offb 7,3). Links unten, außerhalb des Geschehens, steht Johannes, der Verfasser der Apokalypse. Weil der Heiligenschein des vom Sonnenaufgang kommenden Engels ein Kreuz darstellt, deuten die meisten christlichen Interpreten diesen Engel als den sich vor den zwölf Stämmen Israels verhüllenden Christus.
Mit den 144 000 auserwählten und in das Reich Gottes berufenen Israeliten sind zunächst die von Gott dem Stammvater Abraham verheißenen Nachkommen gemeint, die zahlreich sein werden „wie die Sterne am Himmel und wie der Sand am Meer” (Gen 15,5; Ex 1,7; Dtn 1,10). Die Worte der Apokalypse sind aber auch eine Erhörung der jüdischen Hoffnung auf das Hineingelangen des ganzen Bundesvolkes Gottes in das neue Leben im Reich Gottes: „Ganz Israel hat Anteil an der zukünftigen Welt. Es heißt ja: ,Dein Volk besteht aus lauter Gerechten; für immer werden sie das Land besitzen, als Sprösslinge von mir gepflanzt, als meiner Hände ehrenvolles Werk‘ (Jes 60,21).3 Die „ganz Israel” umfassende Zahl von 144 000 (zwölf-mal zwölftausend) deutet an, dass die am Ende ihres irdischen Daseins in das Reich Gottes aufgenommenen Israeliten unzählbar viele sein werden. Alle Stämme und Generationen sollen als Ganzheit von Gott angenommen werden. Das jüdische Volk wird nicht verworfen, sondern als bleibendes Volk Gottes vom Himmel her gewürdigt.
Überwältigend ist auch die Schilderung, dass vier Engel mit den Kräften der Natur — den Stürmen, Feuerbränden, Erdbeben und Überschwemmungen — bereitstehen, um die für das Reich Gottes gekennzeichneten Israeliten einer Schlussprüfung zu unterziehen (vgl. auch das Bild). In der Tora, bei den Propheten und in apokalyptisch-biblischen Passagen werden Stürme wiederholt als Zeichen des wegen der Sünden der Menschen in die Welt herabsteigenden zornigen Gottes gedeutet (z.B. in 1 Kön 19,9-18). Und jedes mal, wenn Stürme Israel trafen, wurden die Tempelpriester und Gemeindevorsteher von Reue ergriffen, und sie fassten Vorsätze der Besserung.
In Offb 7,1-8 werden alle Generationen der zwölf Stämme Israels an frühere Naturkatastrophen erinnert.4 Weigern sie sich aber, sich an die Stürme und an ihr damaliges Verhalten zu erinnern, werden die vier Engel die Stürme erneut über sie loslassen. Die Erinnerung daran ist aber nur das eine Anliegen, über das sich die mit dem Siegel Gezeichneten Gedanken machen müssen. Entscheidender ist die Frage nach der Heilsgestalt des Messias. Im Text wird vorausgesetzt, dass „ganz Israel” Christus als Messias anerkannt hat und daher in das Reich Gottes und in die Gemeinschaften der Gott lobenden Geschöpfe hinein genommen wird (vgl. auch Mt 27,51-53).
3. Berufung aller Völker
Im ersten Vers des 14. Kapitels der Apokalypse wird gesagt, dass das LammGottes auf dem Berg Zion steht, „und mit ihm 144 000, die seinen Namen und den Namen des Vaters auf ihrer Stirn geschrieben tragen”. Mit dem Zeichen des Lammes wird ausgedrückt, dass – mit dem Bundesvolk Gottes – auch die an Christus Glaubenden in unzählbarer Zahl in das Reich Gottes kommen. Der Hinweis, dass Christen zusammen mit dem Lamm auf dem Berg Zion stehen, deutet die religiöse Verwandtschaft zwischen dem jüdischen Volk und den christlichen Völkern an.
Das siebte Kapitel enthält die vermutlich großmütigste Aussage: „Dann sah ich: eine große Zahl, die niemand zählen konnte aus allen Nationen, Stämmen, Völkern und Sprachen. Sie standen vor dem Thron und vor dem Lamm, in weiße Kleider gehüllt und mit Palmen in den Händen” (V. 9). Mit lautem Rufen bezeugen sie, dass dem thronenden Gott, zusammen mit dem Lamm, Dank und Ehre für die Gewährung des vielfältigen Lebens im himmlischen Reich gebührt. Die bereits Geretteten rufen jubelnd aus: „Lob und Herrlichkeit, Weisheit, Dank, Ehre, Macht und Stärke ist in unserem Gott in Ewigkeit. Amen!” (V. 12). Von einem der vor dem Thron Gottes stehenden „Ältesten” erfährt Johannes, dass die in weiße Kleider Gehüllten „ihre Gewänder im Blut des Lammes gewaschen und weiß gemacht haben” (V. 14). Alle, die wie das Lamm, Leid und Tod auf sich genommen haben, „sind vor den Thron Gottes gekommen und dienen ihm bei Tag und Nacht in seinem Heiligtum. Der thronende Herrscher wird über ihnen sein Zelt aufschlagen” (V. 15).
Damit wird feierlich verkündet, dass Juden und Christen gleichermaßen uneingeschränkt in das Reich Gottes aufgenommen werden. Juden und Christen stehen hier exemplarisch für alle anderen Völker. Die gemeinsam in dasReich Gottes gelangende Vollzahl beider Bundesvölker wird das fruchtbare und gewaltige Ergebnis der von Gott der Prüfung unterzogenen Menschheit sein.
4. Dialog über Gemeinsamkeiten auf das Reich Gottes hin
Die in der Johannesapokalypse mehrfach geschilderten furchtbaren endzeitlichen Schrecken, Plagen und Strafgerichte, die über Israel, über die christlichen Gemeinden und die Völker hereingebrochen sind und noch hereinbrechen werden, sind Prüfungen der Bewährung auf das Reich Gottes hin. Mehrmals heißt es, das Königtum Gottes und seines Messias sei bereits in die Welt gekommen. Gott herrsche als König in alle Ewigkeit (Offb 11,15.17; 12,10; 19,6). Im 21. Kapitel wird das Endreich Gottes in der erneuerten Welt geschildert: „Ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde. [...] Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem von Gott her aus dem Himmel herab kommen. [...] Und ich hörte eine laute Stimme vom Thron her rufen: Seht das Zelt Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen, und sie werden sein Volk sein. [...] Der auf dem Thron Sitzende sprach: Ich mache alles neu. [...] Ich werde jedem, der dürstet, Quellwasser des Lebens als Geschenk geben. [...] Ich werde ihm Gott sein, und er wird mir Sohn sein” (Offb 21,1-3.5-7).
Die Aussagen der Johannesapokalypse über Israel, über die Völker Christi und die Weltvölker betreffen die Begriffe ganz Israel und communio ecclesiarum. Wichtig ist die Aussage, dass auch Nichtchristen und Nichtjuden das Reich Gottes erreichen können, wenn sie ein Leben führen, das dem Leben und den Pflichten der jüdischen und der christlichen Glaubensgemeinschaften entspricht. Alle, die aus den Nationen, Stämmen, Völkern und Sprachen als Gerettete das Reich Gottes erreichen, gehören zu der großen Zahl derer, die niemand zählen kann. Es wird also im Reich Gottes eine übernatürliche Gemeinsamkeit aller Menschen und aller Bekenntnisse geben.
Mit der Beschneidung bzw. durch die Taufe tragen Juden und Christen bereits das „Siegel des lebendigen Gottes” und das „Siegel der Erwählung”. Nach der geisterfüllten Überzeugung des Verfassers der Apokalypse hat Jesus aber ein endgültiges gnadenhaftes Zusammenfinden aller Völker bereitet. Da nach dem Willen des Einen Gottes die irdische Völkergemeinschaft durch Nächstenliebe zueinander gelangen soll, muss das endzeitliche Zusammenfinden schon jetzt von den Völkern in kommunialer Weise eingeübt werden. Darum ist auch jede gegenseitige Missionierung ausgeschlossen. Nach den Worten von Johannes Paul II. muss sich das Christentum vorallem „zu echter Brüderlichkeit mit dem Volk des Bundes Gottes” verpflichten.
ANMERKUNGEN
- Vgl. Richard Bauckham, The Climax of Prophecy. Studies on the Book of Revelation, Edinburgh 1993, 29-37.
- Alle entsprechenden Kommentare sind in Frankreich und England erarbeitet worden. Für eine gründliche Übersicht vgl: David McKitterick, Die Trinity-Apokalypse. Kommentar. Faksimile Verlag, Luzern 2004, 394 Seiten (mit vielen Abbildungen).
- mSan 10,1; bSan 90a. Zu ähnlichen biblischen Aussagen vgl. z.B. Ps 25,13; 37,22.
- Vgl. die ersten sechs Siegelöffnungsvisionen in Offb 6.