Dabru Emet - eine Bewertung aus jüdischer Sicht

Auszug aus einer Dankansprache aus Anlass der Verleihung der Hermann-Maas-Medaille in Gengenbach am 28. Januar 2001 an Dr. Edna Brocke Leiterin der Gedenkstätte 'Alte Synagoge Essen'.

Edna Brocke

Dabru Emet – eine Bewertung aus jüdischer Sicht

 

Auszug aus einer Dankansprache aus Anlass der Verleihung der Hermann-Maas-Medaille in Gengenbach, am 28. Januar 2001, an Dr. Edna Brocke Leiterin der Gedenkstätte „Alte Synagoge Essen".

Neue Wege im Verhältnis von Christen zu Juden zu suchen bedeutet eben nicht eine „Erneuerung", – die ja dasselbe in Dunkelgrün wäre – sondern etwas Neues. Gerade weil es sich aus meiner Sicht um einen Neuanfang und nicht um eine Erneuerung handelt, bedeutet dies auch, dass von unserer, also von jüdischer Seite, Schritte gemacht werden müssen. Zunächst – so scheint es mir – sind von unserer Seite Antworten auf die vielen Versuche christlicherseits geboten, also jüdische Antworten auf kirchliche Dokumente ebenso wie auf den persönlichen Einsatz vieler Christen. Deshalb möchte ich Ihnen heute eine Stellungnahme zu „Christen und Christentum" vorstellen, die am 10. September 2000 von vier amerikanischen und kanadischen jüdischen Gelehrten in der New York Times veröffentlicht wurde, eine Stellungnahme, die inzwischen über 200 weitere Rabbinerinnen und Rabbiner sowie andere jüdische Persönlichkeiten unterzeichnet haben. In Anbetracht der Tatsache, dass es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zahlreiche offizielle kirchliche Erklärungen zum Verhältnis der Christenheit zum jüdischen Volk gab, wollten die Unterzeichner eine wohl durchdachte jüdische Antwort formulieren – wie die Verfasser betonen. Mein Eindruck ist, dass diese Stellungnahme in Europa kaum wahrgenommen wurde, jedenfalls hat sie keine öffentliche Reaktionen hervorgerufen. Deshalb möchte ich sie Ihnen heute kurz vorstellen.

Den besonderen Wandel in offiziellen kirchlichen Dokumenten würdigen die Autoren der Stellungnahme ihrerseits in 8 Punkten. Ich möchte diese Punkte nacheinander vortragen und sie dann meinerseits kommentieren.

1. Juden und Christen beten den gleichen Gott an

Je länger ich mich im theologischen Dialog mit Christen befinde, um so größer werden meine Zweifel an der Richtigkeit dieser ersten These.

Die jüdische Bibel (von Christen „Altes“ Testament genannt) berichtet davon, dass Gott und Abraham miteinander einen Bund schlossen. Dieser Bund ging später auf Abrahams Sohn Isaak und dann auf dessen Sohn Jakob (nicht jedoch auf Esau, den Erstgeborenen) über. Mit diesem Bund war eine Verheißung, war ein Segen verbunden. Verheißung und Segen gingen von Jakob – der zu Israel umbenannt wurde – auf die ,Söhne Israels’ (Bnej Jissra"el), also auf die Israeliten über. Somit sind die Kinder Israels – als Nachkommen Abrahams – die Träger der biblischen Verheißung.

Die Bezeichnung Gottes als Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs ist keine geistige, sondern eine reale, praktische, mit einer ethnischen Bindung. Diese Bindung ist in der jüdischen Bibel grundgelegt und sie lässt sich aus meiner Sicht weder in eine abstrakte Bindung umdeuten noch lässt sie sich universalisieren. Ich bin mir der Tragweite dieser knappen Ausführung zu einem so zentralen Thema wohl bewusst, bitte Sie gleichwohl um Nachsicht, dass ich es an dieser Stelle nicht ausführlicher ansprechen kann. Zwar hat bereits Maimonides – der berühmte jüdische Gelehrte des Mittelalters – auch so argumentiert wie die Verfasser der Stellungnahme und insofern beziehen sich die Autoren auf eine große jüdische Autorität, gleichwohl kann ich mich dieser Sicht nicht anschließen.

2. Juden und Christen stützen sich auf die Autorität ein und desselben Buches – die Bibel (das die Juden „Tenach“ und die Christen das „Alte“ Testament nennen)

Auch hier muss ich leider widersprechen. Der TaNaCh (eine der häufigeren Bezeichnungen der jüdischen Bibel durch Juden) ist zunächst einmal formal nicht mit dem, was Christen das „Alte“ Testament nennen gleichzusetzen.

Der katholische Kanon hat sowohl eine andere Reihenfolge als auch eine andere Anzahl von Büchern in seinem „Alten“ Testament. Luther, der zur Biblia Hebraica zurückkehrte, tat dies aber nur im Hinblick auf die Zahl – die mit dem jüdischen Kanon identisch ist – nicht jedoch bezogen auf die Reihenfolge. Hierbei orientierte er sich am katholischen Kanon. Daraus folgt jedoch ein weitreichender, aber auch tiefer inhaltlicher Unterschied. Für Christen beider Konfessionen endet ihr „Altes“ Testament mit dem Buch des Propheten Maleachi. Dort werden sie auf messianische Zeiten verwiesen, die ja für Christen angebrochen sind und in den Jesus-Schriften des Neuen Testamentes ihre Fortsetzung gefunden haben. Der TaNaCh, die jüdische Bibel, hingegen endet mit dem 2. Buch der Chronik, das jeden in Judäa aufruft, mit Adonaj nach Jerusalem hinaufzuziehen. Dieser Unterschied führt zu unterschiedlichen kollektiven Lebensentwürfen.

Folgerichtig genießen die Texte ganz andere Gewichtungen und erhalten auch andere Funktionen im Alltagsleben. Hinzu kommt, dass all jene Teile der jüdischen Bibel, des „Alten“ Testamentes, die viele Anleitungen zum praktischen Leben enthalten, christlicherseits so gut wie nicht wahrgenommen werden. Oder hat jemand unter Ihnen z.B. öfters im Buch Leviticus (= 3. Buch Mose) gelesen, oder in den Königsbüchern, die die Geschichte des jüdischen Volkes erzählen? Deshalb kann man nicht behaupten, dass Juden und Christen sich auf die Autorität ein und desselben Buches stützen.

3. Christen können den Anspruch des jüdischen Volkes auf das Land Israel respektieren

Diese Formulierung versucht das Dilemma der Spannung, die in theologischen Interpretationen politischer Ereignisse liegt, zu umgehen. Die Jüdische Bibel, das „Alte“ Testament berichtet von einer realen Bindung, die reale Menschen zu einem realen Land haben. Dass darin eine Spannung liegt, war bereits Paulus klar und ist keineswegs eine Erscheinung der Neuzeit. War dieses Thema den Autoren vielleicht zu heikel? Umgingen sie es womöglich deshalb?

4. Juden und Christen anerkennen die moralischen Prinzipien der Tora

Dieser Satz scheint mir sehr ungenau. Die moralischen Prinzipien der Tora auf die Erklärung der Menschenrechte zu reduzieren, scheint mir die vorhandene Komplexität des Themas außer Acht zu lassen. Deshalb ist der Satz zwar nicht falsch, aber eigentlich auch nicht richtig. Um die Komplexität vorzustellen, müsste ich aber einen langen Vortrag halten ...

Das tue ich dann vielleicht ein andermal.

5. Der Nazismus war kein christliches Phänomen

Dieser Abschnitt scheint wohl mit der schwierigste in dieser Stellungnahme zu sein. Es ist zu bedauern, dass die jüdischen Verfasser dieses Abschnittes so weit hinter deutlichen kirchlichen und christlichen Äußerungen zum Thema hinterher hinken.

So hat z.B. die Evangelische Kirche im Rheinland in ihrem bekannten Synodalbeschluss von 1980 als einen von vier Gründen, die sie zu einem neuen Verhältnis zum jüdischen Volk veranlassen – ich zitiere – „Die Erkenntnis christlicher Mitverantwortung und Schuld an dem Holocaust, der Verfemung, Verfolgung und Ermordung der Juden im Dritten Reich" betont. Aber auch in den USA finden sich solche Texte, so z.B. der United Methodist Church, die auf ihrer Jahresversammlung 1996 wie folgt formulierte: „Besonders kritisch war für Christen ... das Ringen um die Anerkennung des Schreckens des Holocausts als katastophischen Höhepunkt einer langen Geschichte antijüdischer Haltungen und Handlungen, in denen Christen und zuweilen die Kirche selbst tief verstrickt waren."

Hierauf macht Rabbiner James E. Rudin, der langjährige Leiter der Abteilung des interreligiösen Dialogs beim American Jewish Committee mit Nachdruck aufmerksam und begründete damit, warum er sich nicht einer Unterzeichnung anschließen wollte. Auch die in christlichen Kreisen öfters vorgetragene und hier wiederholte Behauptung, die Christenheit wäre sozusagen „die nächste an der Reihe" nach dem Judentum gewesen, ist nicht nur unbeweisbar, sondern alles, was wir aus der Geschichte wissen, deutet darauf hin, dass diese Behauptung schlicht falsch ist. Hierzu zitiert Rudin einen zutreffenden und erhellenden Satz von Elie Wiesel, einem Holocaustüberlebenden und Nobelpreisträger: „Nicht jedes Opfer der Nationalsozialisten war ein Jude, aber jeder Jude war ein Opfer der Nationalsozialisten."

6. Der nach menschlichem Ermessen unüberwindbare Unterschied zwischen Juden und Christen wird nicht eher ausgeräumt werden, bis Gott die gesamte Welt erlösen wird, wie es die Schrift prophezeit

Diese – gemeinsame – Hoffnung, kann man nur teilen. Gleichwohl muss auch hier bei aller Suche nach Gemeinsamkeiten unterstrichen werden, dass die Beziehungen von Christentum und Judentum von einer grundlegenden Asymmetrie geprägt sind und dies auch bleiben werden.

7. Ein neues Verhältnis zwischen Juden und Christen wird die jüdische Praxis nicht schwächen

Dieser siebte Punkt ist eine Argumentation „nach Innen" enthält er doch eine Position liberaler Juden die auch andere jüdische Traditionen im Blick haben. Ich persönlich kann mich der hier vertretenen Position im Großen und Ganzen anschließen, wissend, dass eine solche Sicht der Beziehungen in jüdisch-orthodoxen Kreisen wenig Anklang finden dürfte – wofür es aber auch viele gute Gründe gibt.

Dies könnte spiegelbildlich auch für Christen zutreffen, die eine neue Gestaltung der Beziehung zum Judentum fürchten. Sie könnten durch einen solchen Prozess ihrer eigenen Geschichte begegnen und würden möglicherweise eine tiefe Verunsicherung erleben.

Obwohl ich jetzt zwei Seiten einer Medaille benenne, möchte ich dadurch die bleibende, weil konstitutive Asymmetrie zwischen Christentum und Judentum weder wegreden, noch ausblenden. Die Autoren der Stellungnahme möchten mit diesem Abschnitt primär eine mögliche Kritik (oder auch Sorge) von anderen Juden vorwegnehmen und entkräften.

8. Juden und Christen müssen sich gemeinsam für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen

Mit diesem schönen, hoffnungsträchtigen Bild kann ich mich nur bedingt auf den Weg mitnehmen lassen, einfach deshalb, weil es für uns gilt, dieses Bild nicht abstrakt, sondern ganz konkret zu erfahren. Der Berg, den Jesaja 2 nennt, liegt nicht irgendwo in der Welt und stellt auch keine nur ideell gedachte Größe dar, sondern befindet sich im Land Israel. Dorthin sollen am Ende der Tage alle Juden hinaufziehen. Erneut eine partikulare Pflicht.

Soweit meine Einzelbemerkungen zu einer Erklärung, die überfällig war und prinzipiell erst einmal zu begrüßen ist. Wenn ich so viele Anmerkungen machte, so verstehen Sie diese bitte vor dem Hintergrund eines Gespräches, dass wir hier in der Bundesrepublik anscheinend intensiver und weiterführend bereits praktizieren. Deshalb bedaure ich sehr, dass der Text keinen einzigen Blick auf die Situation des Dialogs in Europa (oder in der Bundesrepublik) lenkt und nicht wahrnimmt, wie mutig hier bereits argumentiert wird.

Abschließend noch eine kurze Bemerkung zum Titel. Die Autoren gaben ihrer Stellungnahme den Titel: DABRU EMET = Redet Wahrheit. Ich höre in ihm ein Element von Belehrung, um nicht zu sagen von Überheblichkeit. So als seien die Autoren die ersten, die endlich Wahrheit sprächen ... Wir hier in Gengenbach, in der Bundesrepublik, in Europa – wir werden auch weiterhin um solche und andere Texte ringen und vielleicht wird diese jüdische Stellungnahme aus den USA Anlass für Juden anderwärts sein, ihrerseits ein Dokument zu verfassen.

Editorische Anmerkungen

Quelle: Freundeskreis Kirche und Israel in Baden, Rundbrief 59, Mai 2001

Das Dokument: Dabru Emet. Eine jüdische Stellungnahme zu Christen und Christentum

 

Siehe auch: A. James Rudin: Dabru Emet. Eine jüdische Gegenstimme