Christus im Kontext 2

Eine ausführliche Zusammenfassung des Buches von Paul M. van Buren: A Theology of the Jewish-Christian Reality. Part 3. Christ in Context, San Francisco, Harper & Row, 1988.

Paul M. van Buren

Christus im Kontext (2)

(Fortsetzung von Teil 1)

5 Christus ist auferstanden

Die Kirche vertraut darauf, daß sie Gottes Führung folgt, wenn sie bekennt, dem Juden Jesus als Gottes lebendigem Weg zu folgen und durch ihn Gott zur Verfügung zu stehen. Die Auferstehung ist das nicht ganz eindeutige Ereignis, in dem die Kirche erkennt, daß Gottes Vorhaben durch die Kreuzigung Jesu nicht an sein Ende gekommen ist. Zugleich erkennt sie im Auferstehungsereignis den Ernst des Konflikts, der zwischen dem Vorhaben Gottes und dem Mißbrauch menschlicher Macht besteht.

5.1 Christlicher Glaube als Auferstehungsglaube

Die Kirche beginnt mit dem Bundesereignis der Auferstehung. Das apostolische Zeugnis über Jesus entstand aus der Überzeugung, daß Gott Jesus in seiner Auferstehung bestätigt hat (Apostelgeschichte 13,35 und Psalm 16,10; Römer 1,4). Aber dieser Jesus ist der gleiche, der von Gott bevollmächtigt war, die Jünger in eine Erneuerung des Bundes mit Israel zu rufen. Diese Bestätigung Jesu in der Auferstehung war darum auch zugleich die Bestätigung des Bundes Gottes mit Israel, für den er gelebt hatte. Die Auferstehung Jesu ist zu allererst die Bestätigung des Bundes Gottes mit Israel und die Bestätigung Israels in der Bundesgemeinschaft mit Gott, weil Jesus diese Bundesgemeinschaft gelebt hatte. Die Auferstehung bestätigte Jesus, den Bund und Israel.

Die Kirche übersah fast völlig das unmittelbare Verhältnis, das Jesus mit seinem Volk hatte, und betonte dafür umso mehr den Zusammenhang der Auferstehung mit der gesamten Menschheit und der Schöpfung. Dieser Sprung vom Historischen zum Kosmologischen ist zu unvermittelt für ein Ereignis, das beanspruchte, "nach der Schrift" stattgefunden zu haben. Außerdem wird auch hier wieder zu schnell von Jesus auf die Kirche übergegangen, ohne sein Verhältnis mit Israel zu bedenken. Sollte die Auferstehung von der Kirche nicht "nach der Schrift" gepredigt werden, statt nach der gängigen Kirchenlehre? Wenn die Kirche den auferstandenen Jesus von Nazareth predigen will und nicht einen neuen, völlig anderen, dann wird sie darauf bestehen müssen, daß die Auferstehung zuerst Gottes Bestätigung Jesu und des Bundesvorhabens Gottes mit seinem Volk ist.

Christlicher Glaube ist Auferstehungsglaube, das Vertrauen darauf, daß Gott auch nach dem Tod Jesu fortfährt, die Kirche mit der Gabe und dem Anspruch der Liebe Gottes durch die Person Jesu zu konfrontieren. Es kann wohl jüdischen Glauben ohne die Auferstehung Jesu geben, aber für die Kirche gibt es keinen christlichen Glauben ohne diesen Auferstehungsglauben. Doch bedenkt man, was es bedeutet, daß es zuerst Juden waren, die behaupteten, der von den Römern hingerichtete Jude sei auferstanden, dann hört man darin etwas von dem Triumph des Gottes Israels über mißbrauchte politische Macht.

Jeder Bericht einer Erscheinung des Auferstandenen, angefangen bei Petrus bis hin zu Paulus, führte bei den Betreffenden zum Glauben. Es gibt keinen Bericht über jemanden, der nicht überzeugt wurde. Daraus haben manche auf eine Überzeugungskraft dieser Erscheinungen geschlossen, der man nicht zu widerstehen vermochte. Demnach war die Auferstehung allein Gottes Handeln; wer eine Erscheinung erlebte, blieb nur Empfänger. Andere wieder haben das Gegenteil behauptet: Die Erscheinungen waren die subjektiven Erlebnisse von bereits Gläubigen. So kann man dann sagen, daß Jesus in das Kerygma der Kirche auferstanden sei, in den gepredigten Glauben seiner Nachfolger.

Beide Anschauungen gehen am Bundescharakter der Auferstehung vorbei. Das Zeugnis über die Auferstehung stimmt überein mit dem Zeugnis über die Gesetzgebung am Sinai, wo Gott zwar den ersten Schritt tut, aber das Handeln der Zeugen dieser Initiative Gottes mit zum Ereignis selbst gehört, also ein das Ereignis konstituierendes Element ist. So auch bei der Auferstehung: Jesus wurde von Gott bestätigt, er wurde von denen, die sahen und glaubten, und schließlich auch von denen, die dem Wort der ersten Zeugen glaubten, bestätigt (Johannes 20,29). So ist die Auferstehung Jesu, wie alle Ereignisse der Geschichte Israels ein Bundesereignis, in dem zwar Gott allein den Anfang macht, aber dann den Bundespartner in das Ereignis selbst einbezieht.

Jesus als Emanuel, als "Gott bei uns", ist die Mitte des Auferstehungsglaubens. Die Unmittelbarkeit des Gottes Israels und die Macht der Liebe Gottes zu seinem Volk und sein Anspruch an den Dienst des Volkes im Vorhaben Gottes, dem Jesus es gegenübergestellt hatte, war nun nach seinem Tod mit neuer Kraft hervorgebrochen. Wie auch schon vorher in seiner Gegenwart entdeckten sie nun neu die Anwesenheit Gottes und machten sich durch ihn Gott verfügbar. Diese Entdeckung findet ihren angemessenen Ausdruck in der wöchentlichen Feier der Kirche am ersten Wochentag, dem Tag des Auferstehungsereignisses.

5.2 Das Auferstehungsereignis

Die Verschiedenheit des Zeugnisses über die Auferstehung warnt gegen eine zu einfältige Vorstellung dieses Ereignisses. Es wird allgemein angenommen, daß es sich bei 1. Korinther 15,3-8 um das erste niedergeschriebene Zeugnis der Auferstehung handelt, das uns zur Verfügung steht.

Die Mannigfaltigkeit der Zeugnisse sind uns als Glaubensbekenntnisse überliefert und als Lobpreis Gottes. Die Zeugen sagen uns, daß Gott etwas Neues und Geheimnisvolles getan hat, in das sie selbst in dieses Ereignis verwickelt wurden. Sie bedienen sich dabei der jüdischen Sprache und ihrer Ausdrücke, also auch des jüdischen Begriffs der Auferstehung, obwohl niemand von ihnen behauptet, die Auferstehung selbst beobachtet zu haben. Wovon sie reden sind eigentlich die vielen Folgen dessen, was sie Auferstehung nennen: Das leere Grab, die Erscheinungen, daß er lebt, daß er zur Rechten Gottes erhoben ist.

Was war denn nun das Ereignis der Auferstehung? Die Antwort der Kirche, daß Gott Jesus von den Toten auferweckt hat, ist das Vertrauen darauf, daß Gott ihn bevollmächtigt hatte, in Gottes Namen zu reden und zu handeln, und daß er nun nach seinem Tod als lebendige Wirklichkeit weiterlebt und weiterhin Menschen mit der Anwesenheit Gottes, mit Gottes Liebe und Anspruch konfrontiert.

Das Bekenntnis der Kirche zur Auferstehung nimmt nichts von der Mehrdeutigkeit des Zeugnisses über dies Ereignis. Paulus denkt in jüdischen Begriffen über die Auferstehung und einen nichtmateriellen Körper nach (1. Korinther 15), während andere Zeugen mit dem Auferstandenen gegessen haben. Wieder andere erzählen, daß er erschienen und wieder entschwunden sei in einer Weise, die einem menschlichen Körper unmöglich wäre, oder daß er nicht leicht zu erkennen gewesen sei. Markus erwähnt überhaupt keine Erscheinungen. Der Hebräerbrief sieht ihn unmittelbar zu Gott gehen, ohne eine Auferstehung zu erwähnen: "...nachdem er die Reinigung der Sünden bewirkt hat, setzt er sich zur Rechten der Majestät in der Höhe..." (Hebräer 1,3).

War nun die Auferstehung ein historisches Ereignis? Das hängt ganz davon ab, was man als historisch bezeichnen will. Die Regeln, nach denen moderne Geschichtswissenschaftler arbeiten, schließen Gottes Handlungen aus. Bultmann folgte nur diesen Regeln, wenn er behauptete, daß der moderne Historiker nicht hinter den Auferstehungsglauben als Grundereignis zurückfragen könne. Aus dem gleichen Grund könnten dann auch Gottes Bund mit Israel und seine Gabe der Tora am Sinai nicht als historische Ereignisse gelten.

Wenn auch die Erwählung und der Bund Israels als Ereignis geschichtswissenschaftlich nicht nachgewiesen werden kann, so kann doch kein Zweifel an den realgeschichtlichen Auswirkungen dieser Erwählung und dieses Bundes bestehen, die sich bis heute und bis hin zur Wiedersammlung Israels in seinem Land zeigen. Selbst kirchlicher Antijudaismus, rassistischer Antisemitismus und Holocaust sind geschichtliche Tatsachen, die auf ein Grundereignis im fortbestehenden Leben dieses Volkes hinweisen. Das wird nun heute für die Kirche wieder wichtig, denn auch sie kann von der fortlebenden Wirkung der geschichtlichen Person Jesu in ihrer und der Geschichte der Welt reden.

Es gibt aber absolut keinen Grund, warum die Kirche nicht zugeben sollte, daß ihre Definition des Auferstehungsereignisses, wie sie für ihren Auftrag nötig ist, nicht in die Kategorien einer Geschichtsforschung paßt, die von vornherein jedes Reden über die Geschichte Gottes mit der Schöpfung ausschließt.

Die Mehrdeutigkeit des Auferstehungsereignisses muß nun nicht bedeuten, daß die Kirche in ihrem Auferstehungsglauben unsicher sein müßte. Weder der Glaube der ersten Jünger noch der der Kirche ist auf das Wie oder Was der Auferstehung gegründet. Der Glaube der Kirche ist Antwort auf die Konfrontation mit Gott, die Jesus nach seinem Tod bewirkte — vom Tag der Auferstehung und bis heute. Entweder wird Jesus durch die Verkündigung des Evangeliums und die Wiederholung seiner letzten Mahlzeit mit den Jüngern in der Kirche lebendig oder nicht. Wo immer er lebendig und gegenwärtig erlebt wird, da ist Gewißheit seiner Auferstehung. Entweder die Kirche hört durch ihn die Einladung in Israels Geschichte und versteht ihn darum "nach der Schrift" und findet sich durch ihn in der Gegenwart Gottes, oder sie hört auf, Kirche zu sein. Wenn Jesus von Nazareth in seiner Kirche nicht lebendig ist und in ihr nicht mehr tut, was er unter seinem Volk und seinen Jüngern tat, dann ist es unwichtig, was wir über das Auferstehungsereignis denken. Die Auferstehung hätte dann ihre Wirkung für die Kirche verloren, und sie hätte aufgehört, lebendige Kirche zu sein. Solange Jesus aber in der Kirche lebendig ist, kann ich sagen: Wenn der Tod nicht das Ende der Geschichte Jesu bedeutete, und wenn ich in diese Geschichte hineingezogen bin und damit zugleich in die Geschichte Gottes mit Israel, dann wird auch mein Tod nicht das Ende meiner Verwicklung in diese Geschichte sein. Gott ist treu und wird sich nicht der Auseinandersetzung mit der aufsässigen Schöpfung entziehen. Das ist die frohe Botschaft der Auferstehung, an der die Kirche nicht zweifeln kann.

Die Überlieferung der Geschichte vom leeren Grab scheint nicht weniger zuverlässig zu sein, als die anderen Teile der Auferstehungstradition. Sie ist mit dem Hebräerbrief ebenso vereinbar, wie mit den leiblichen Erscheinungen. Sie sagt ja nur, daß kein toter Jesus zu finden war, und daß sich die Kirche darum mit keinem toten Jesus beschäftigen muß. Darum hat die Antwort der Kirche auf die Auferstehung immer im Lobpreis und der Anbetung Gottes bestanden.

5.3 Gottes Beharrlichkeit

Die Mitte der Auferstehungsbotschaft ist ohne Frage die Treue Gottes. Gott ist beharrlich und gibt nicht auf. Der Hirte Israels verläßt nicht ein einziges verlorenes Schaf der Herde (Jesaja 40,11; Jeremia 31,10; Hesekiel 34,12; Psalm 80,1; Lukas 15; Römer 8,38-39). Die Botschaft, daß Gott Israel niemals verwerfen wird, ist durch die Auferstehungsbotschaft bekräftigt. Die Auferstehung ist zuerst ein Bundesakt zwischen Gott und Jesus (Apostelgeschichte 1,27 und Psalm 16,10) und damit Israel, zu dem Jesus gesandt war. In ihrem Auferstehungsglauben unterstützt die Kirche das Vertrauen Israels in die Treue Gottes zum Bund mit ihm. So wird die Auferstehung auch zum Bundesakt zwischen Gott und der Kirche, denn sie nimmt den auferstandenen Juden Jesus als Gottes Gabe durch Israel an.

Gott war beharrlich im Leben und in den Handlungen Jesu. In ihm streckte Gott sich aus nach denen, die für den Bund verloren waren, nach den Sündern, den Steuereintreibern, den Prostituierten, den Aussätzigen und dämonisch Besessenen. Jesus handelte wie er meinte, Gott handeln zu sehen (imitatio dei). Durch das Auferstehungsereignis streckte Gottes Hand sich nun noch weiter aus hin zu den Nichtjuden, die Gott entfremdet waren (Epheser 3,12). Der Gott Israels ist beharrlich.

Doch die Auferstehung ist noch nicht Gottes endgültiger Sieg, wie ihn Israel und mit ihm die Kirche erwartet. Titel wie Christus victor oder "Christkönig" sind sehr fragwürdig, denn der Sieg ist noch nicht errungen. Sicher, es gibt genug Grund zum Feiern, denn viele Nichtjuden wurden mit der Botschaft der Liebe Gottes durch die Nachfolger Jesu erreicht. Doch die Kirche hat keinen Grund, sich selbst als siegreich oder triumphal darzustellen.

Das Vorhaben Gottes, durch Jesus von Nazareth das Volk Israel auf den Bund hin zu erneuern, hatte nach der Auferstehung einigen, wenn auch aufs ganze gesehen mäßigen Erfolg. Aber dieser wurde bald überschattet von dem überwältigenden Erfolg unter den Nichtjuden. Es scheint, daß die durch die Ereignisse um die Auferstehung in ihrem Vertrauen erneuerten Nachfolger Jesu die Rolle in der Welt übernahmen, die eigentlich ganz Israel hätte spielen sollen. Diese wenigen Juden wurden damit zum "Überrest" Israels, der für ganz Israel die Aufgabe übernahm, die in Gottes Bundesvorhaben für Israel vorgesehen war, nämlich die Nationen mit ihrem Gott bekannt zu machen. Paulus sah sich jedenfalls als Teil eines solchen Überrestes (Römer 11,1-5).

In dieser Entwicklung lag aber die Gefahr eines Mißverständnisses des Begriffs "Überrest". Israel versteht den Überrest als Mittel, wodurch das ganze Israel und das gesamte Vorhaben Gottes mit Israel gefördert wird, Israels besondere Weise sich durch Verengung zu erneuern (Franz Rosenzweig).

Im Gegensatz dazu hat die Kirche den Überrest als das einzig gültige Israel verstanden. Es sah den Überrest als den Teil Israels an, der das Ganze ablöst oder ersetzt. Schlimmer aber wirkte sich die Tatsache aus, daß die Kirche, die ja doch durch diesen jüdischen Überrest erst ins Leben gerufen worden war, nun stolz behauptete, sie selbst habe Israel abgelöst. Die Kirche vergaß sehr schnell, wo sie herkam, und daß sie von der Wurzel Israel getragen wurde (Römer 11,18). Dabei hatte der jüdische Überrest mit seiner Mission an die Welt doch nur Israel dienen wollen. So verpaßte die Kirche ihre Gelegenheit, dem Vorhaben Gottes zu dienen, dem doch Jesus gedient hatte — der Erneuerung Israels. Diese Erneuerung wurde durch die Nachfolger der Pharisäer, die Rabbiner von Javneh bewirkt.

Es ist an der Zeit, daß die Kirche ihr Verhältnis zu Israel wiederentdeckt, dem Jesus zum Diener wurde, "damit er die Verheißungen der Väter bestätige und die Nationen Gott für sein Erbarmen verherrlichen" (Römer 15,8-9).

Der weitere Verlauf des Bundes Gottes mit Israel ist immer noch ungewiß. Niemand kann mit Gewißheit sagen, ob der Versuch Israels, größere Verantwortung innerhalb des Bundes zu übernehmen — was neben anderem durch den Staat Israel zum Ausdruck kommt — erfolgreich sein wird im Blick auf das Vorhaben Gottes mit der Gesamtschöpfung. Die andauernden Feindseligkeiten zwischen palästinensischen Gruppen und Israel, die starken inneren Widersprüche in Israels junger Demokratie, die Zwietracht zwischen denen in Israel, die opferbereit den Frieden suchen und denen, die nach dem "größeren Israel" rufen, lassen viele Fragen offen.

Auch im Blick auf die Kirche ist der Verlauf des Bundes noch sehr ungewiß. Sie ringt um die rechte Gestalt und nach dem rechten Wort inmitten einer mächtig um sich greifenden Sekularisierung der westlichen Welt, einem neuen Selbstbewußtsein der Völker Afrikas und Asiens mit ihren unabhängig gewordenen Kirchen und deren sich neu entwickelnden Theologien. Wer kann sagen, ob die Kirche der Zukunft mehr zum Gelingen des Vorhabens Gottes mit der Schöpfung beitragen wird?

Noch ist jedoch die Geschichte dieses Vorhabens nicht vorüber, darum müssen Urteile über Erfolg oder Mißerfolg vermieden werden. Trotz aller Spannungen, die im Konflikt Gottes mit ihnen entstehen, steht Gott in beharrlicher Treue zu Israel, zur Kirche und zur ganzen Schöpfung.

5.4 Gottes Konflikt

Israels Geschichte vom Weltanfang (1. Mose 1-11) spiegelt die Überzeugung wider, daß der Weg der Welt nicht Gottes Weg ist, und daß darum jeder, der in den Weg Gottes berufen wird, damit in die Auseinandersetzung Gottes mit der Welt tritt.

Die Schriften Israels sind Zeugnis der Auseinandersetzung Gottes mit der Schöpfung in erster Linie durch die Geschichte des Konfliktes Gottes mit Israel selbst. Israel wurde erwählt, damit es in der Auseinandersetzung Gottes mit der Welt aufseiten Gottes stünde. Das aber setzt es in ein Spannungsverhältnis nicht nur mit der Welt, sondern auch mit Gott. Je mehr es seiner Berufung gerecht wird und sich auf die Seite Gottes schlägt, desto stärker wird die Spannung im Verhältnis zur Welt, und je mehr es seiner Berufung widersteht, desto stärker wird die Spannung in seinem Verhältnis zu Gott.

Diese Spannung wird der Völkerkirche deutlich an der Geschit ni Jesu von Nazareth. Jesus nahm seine israelitische Berufung an der Seite Gottes ernst, so daß zwischen ihm und seinem Gott kein Konflikt bestand. Die Geschichte offenbart zwar Augenblicke der Spannung — sein Ringen in Gethsemane und das, von dem der Hebräerbrief spricht. Aber einen Streit gab es nicht. Der Konflikt mit der Welt wurde daher umso deutlicher. Jesus starb völlig auf der Seite Gottes und darum in völligem Widerspruch zur Welt.

Der Konflikt mit der Welt, in den Israel und Israels Sohn Jesus hineingerufen wurden, ist grundsätzlich politischen Charakters, denn es geht in ihm um Machtansprüche, und Machtfragen sind immer politisch. Nach außen hin ging es in Israels Konflikt mit politischer Macht um Ägypten, Assyrien und Babylon. Wenn es um die inneren Konflikte ging, standen die Propheten auf Gottes Seite gegen Israels Könige und regierende Klasse.

Wenn die Auferstehung die Bestätigung des Gekreuzigten war, dann heißt das, Gott hat die Auseinandersetzung mit den politischen Mächten der Welt noch nicht aufgegeben. Politische Macht wird allerdings in den apostolischen Schriften nicht schlechthin als böse dargestellt. Cäsar hat seinen Platz und sein Recht, sagt Jesus, und jede Obrigkeit hat ihre von Gott gesetzte Aufgabe (Johannes 19,11; Römer 13,1).

Die Auferstehung zeigt uns nun, daß Gottes Kraft der politischen Macht nicht auf deren Ebene und unter deren Bedingungen begegnet. Gottes Kraft erscheint, gemessen am Maßstab des Mißbrauchs menschlicher Macht, immer als Schwachheit. Gottes Kraft wirkt gewaltlos durch Leiden und Liebe und Vergebung. Menschliche Macht im Dienst Gottes dient den Armen und Schwachen und schafft Recht und Versöhnung. Ganz in diesem Sinn war Jesus "bezeichnet als Sohn Gottes in Kraft nach dem Geist der Heiligkeit durch Auferstehung der Toten" (Römer 1,4).

Es ist irreführend, die Kraft Gottes als "geistliche Kraft" zu bezeichnen und sie damit von aller politischen Macht zu unterscheiden. Gottes Kraft ist weltliche Kraft, aber nach dem Geist der Heiligkeit. Sie ist nach der biblischen Geschichte politische Kraft, die durch Menschen wirksam wird, die Gott zur Verfügung stehen und die ihre Macht, ihr Ansehen, ihre Begabung, ihre Gefolgschaft nicht mißbrauchen.

Kreuzigung war fraglos die offizielle Form öffentlicher Hinrichtung für politische Vergehen, in erster Linie für Rebellion gegen die politische Macht des römischen Weltreiches. Daß Jesus durch die Römer hingerichtet wurde, weist darauf hin, daß er ihren Machtanspruch in Israel nicht anerkannt hatte und er ihnen als gefährlich erschien.

Nun erklärten seine Nachfolger, daß sie ihn gegen alle Erwartung gesehen und gehört hätten. Diese Verkündigung des von den Römern gekreuzigten und von Gott auferweckten Juden war somit ein hochpolitischer Akt. Gott hatte den, der durch den Konflikt mit dem Mißbrauch politischer Macht hingerichtet worden war, bestätigt und damit Gottes Willen im Blick auf den gerechten Gebrauch menschlicher Macht dargestellt. Das ist die "geistliche" Bedeutung der Auferstehung.

Hier wird der Widerspruch des Evangeliums gegen die bei Christen allgemeine Unterscheidung zwischen Religion und Politik deutlich. Wo man Religion und Politik als Gegensätze annimmt, da entzieht man das Kreuz und die Auferstehung der geschichtlichen, politischen Welt, in der sie sich ereigneten. Dadurch wird der Ernst des göttlichen Konflikts mit der Welt, mit ihrem Mißbrauch menschlicher Macht, nicht mehr deutlich. Die Bedeutung von Kreuz und Auferstehung wird reduziert auf menschliche Sünde, in erster Linie auf individuelles Versagen auf der ganz persönlichen Ebene.

Bei dieser Trennung der Auferstehung vom politischen Bereich ist Jesus nur für die persönlichen Sünden des einzelnen Menschen gestorben. Er ist dann nicht länger das Opfer des göttlichen Konflikts mit dem römischen Weltreich, und nur in den persönlichen Glauben des einzelnen Christen auferstanden zur persönlichen Errettung. Der Auferstandene ist dann nicht mehr der lebendige Beweis der göttlichen Beharrlichkeit in der Durchsetzung einer neuen Ordnung, einer neuen politischen Ordnung der Schöpfung Gottes. Eine Kirche, die sich in dieser Weise orientiert, wird persönliche Sünde natürlich sehr ernst nehmen, aber wird wenig zu sagen haben zur massiven Sünde des Mißbrauchs menschlicher Macht, die sich in erster Linie auf dem Gebiet sozialer, ökonomischer und politischer Ordnung vollzieht.

Die allgemeine Lähmung und Blindheit der Kirche Hitler und den Nazis gegenüber war neben anderem eine direkte Auswirkung ihres Mißverständnisses der Auferstehung. Wenn die Auferstehung kein weltlicher Sieg war, und natürlich war er das nicht, dann macht man ihn eben zum geistlichen Sieg. Die Welt mag dann ihren eigenen Weg gehen. Gottes Konflikt mit der Welt wird auf den privaten Bereich begrenzt und die Kraft Gottes zur Erneuerung der Welt auf das Gebiet persönlicher geistlicher Entwicklung und Erfüllung reduziert. Ein so "privatisiertes Evangelium" mag einer Kirche anstehen, die sich in der Kultur der mittelständischen Bürgerlichkeit angesiedelt hat. Es wird kaum tauglich sein zum Dienst am Vorhaben Gottes, in dem Jesus gekreuzigt und zu dessen Bestätigung er auferweckt wurde.

^  Inhalt

6 Jesus von Nazareth — Gottes Anwesenheit

Nach dem apostolischen Zeugnis erschien Jesus als Vertreter der Zukunft Gottdie die durch ihn unter seinem Volk bereits Gegenwart war. Das Zeugnis über ihn ist darum ein Zeugnis der liebenden Einmischung Gottes zuerst im Volk Israel und dann auch unter den Nichtjuden. Es geht dabei um eine bundesgemäße Anwesenheit Gottes, die sich bei Jesus in seiner Treue den Geboten gegenüber ausdrückt. Bei denen, die sich durch Jesus in seine Nachfolge rufen lassen, drückt sich eine bundesgemäße Antwort auf die Anwesenheit Gottes in der Anerkennung des Nächsten und in verantwortlichem Handeln ihm gegenüber aus.

6.1 Jesus und Gottes Zukunft

Jesus erschien in Galiläa als Verkünder der unmittelbar bevorstehenden Herrschaft Gottes auf der Erde (Markus 1,15). Diese "frohe Botschaft" machte nur Sinn im Zusammenhang mit der jüdischen eschatologischen Hoffnung des ersten Jahrhunderts. Es war die Hoffnung, daß eine neue Ära der Weltgeschichte eingeleitet werden würde. Die Freude dieser Erwartung bestand in der Erwartung seiner unmittelbaren Nähe.

Das frühe Zeugnis über Jesus stellt ihn dar als den, der die ersten Zeichen der Ankunft der neuen Zeit manifestiert. Diese Hoffnung stellt nach den Evangelien nicht nur den wesentlichen Zusammenhang der Botschaft und des Werks Jesu dar, sondern damit zugleich auch enorme Probleme für das rechte Verständnis. Wir können uns heute sehr leicht katastrophale Veränderungen durch moderne Waffen oder Umwelteinflüsse vorstellen. Derartige Katastrophen scheinen aber sehr wenig mit der Ankunft des Reiches Gottes, das die Zeugen Jesu erwarteten, zu tun zu haben.

Jesus selbst hat nie eine Zeit für den Beginn der Herrschaft Gottes angegeben. Aber die Kirche hat in ihrer Geschichte immer wieder und auf verschiedene Weise versucht, das Zeugnis des Evangeliums dem historischen Verständnis, das jeweils vorherrschte, anzupassen. Dadurch wurde die Botschaft eher entschärft. Es gibt die verschiedensten Versuche auch heute noch:

Viele behaupten, die Herrschaft Gottes ist eine innere, geistliche Angelegenheit, und darum ist das Reich Gottes bereits gekommen. Andere sagen, die Herrschaft Gottes findet nicht auf Erden, sondern im Himmel statt. Wieder andere haben die Kirche als das Reich Gottes bezeichnet, das sich über die Erde ausgebreitet hätte.

Alle diese Versuche leugnen die klaren politischen Dimensionen der Botschaft vom Reich, die in den Evangelien sehr deutlich zu erkennen sind. Keine der Positionen wird der frühen christlichen Eschatologie gerecht, in deren Zusammenhang das Zeugnis von Jesus steht. Das Reich Gottes war offensichtlich nicht so nah, wie es das Zeugnis über Jesus glaubte. Doch die Frage, um die es Jesus ging, bleibt bestehen: Wer sind wir "jetzt vor Gott" und "was sollen wir jetzt tun vor Gott"?

Jesus darzustellen als den, der Gottes Zukunft als Zukunft verkündet, war ein Fehler, gegen den Jesus gewarnt hatte; wir sollten niemals einen göttlichen Zeitplan aufgestellt haben. Jesus hat Gottes Zukunft als Gegenwart verkündet, darum stellt er heute noch die gleichen Fragen an uns wie damals. Zukunftssprache wollte nichts anderes, als auf die Gegenwart hinweisen. Die Auswirkungen der Anwesenheit Gottes auf das gesamte Leben, einschließlich des politischen Bereichs, steht zur Frage im apostolischen Zeugnis über das Reich Gottes.

Die Nachfolger Jesu bezeugen von ihm, daß er Gottes Heil, Gesundheit und Vergebung in Wort und Tat ausbreitete, und zwar zuerst in seinem Volk Israel. In ihm und durch ihn war die Zukunft Gottes schon gegenwärtig. Die Anwesenheit Gottes in ihm war bundesgemäß, das heißt, nicht nur Gott vergab durch ihn, sondern er erwartete, daß Menschen das gleiche taten und anderen ihre Vergehen vergaben (Markus 2,5-12). Wenn die Bezeichnung "Sohn des Menschen", die Jesus gebrauchte, eine Übersetzung des hebräischen oder aramäischen ben adam ist, was jeden Menschen meinen kann, dann ist es ein Mißverständnis des Bundes, daß nur Gott Sünden vergeben kann. Auch Israel kann mit dem Vergeben den Anfang machen und Gott schließt sich dem an (Matthäus 16,19; 18,18). Jesus wollte, daß seine Nachfolger jedem seine Fehltritte vergeben sollten.

Wenn Gott unter seinem Volk anwesend ist, finden sogar leibliche Heilungen statt. Jesus stand so völlig Gott zur Verfügung, daß er die heilende Gegenwart Gottes vermitteln konnte. Selbst einige Nichtjuden, die zu diesem Juden und damit zu Israel kamen, erfuhren die heilende Gegenwart Gottes.

Die Zukunft Gottes, die Jesus als bereits anwesend erklärte, barg Gericht in sich, ein Richten, das in Israels Überlieferung "gerade richten", Recht schaffen bedeutet. Weder in Israel selbst, noch zwischen Israel und den Nationen, noch in der Welt stehen die Dinge wie sie sollten. So wie Israels Propheten den Tag des Herrn vorausgesagt hatten, eine Zeit, in der Gott Recht schaffen würde, so stellt das Zeugnis über Jesus ihn dar als die Anwesenheit Gottes im Gericht. In seiner Gegenwart spürten Menschen, daß sie Hilfe brauchten, um vor Gott und mit Gott ins Reine zu kommen (Lukas 5,8). Die Begriffe "Sünde", "Umkehr", "Vergebung" entstammen Israels Wortschatz, den kein Heide verstehen konnte, es sei denn, er hätte von Israel gelernt, wie er zu gebrauchen ist.

Jesus wußte sich zwar nicht zu den Gerechten in Israel gerufen, dennoch galt Gottes Ruf zur Umkehr dem gesamten Israel. Wo Jesus der Selbstzufriedenheit begegnete, stellte er sie bloß als eins der Probleme, das im Verhältnis zu Gott in Ordnung gebracht, recht gemacht werden mußte. Das ganze Israel ist in den Bund mit Gott eingeschlossen, darum muß ganz Israel sich immer wieder zu Gott hin umwenden (Maleachi 3,2).

Sicher haben nicht sehr viele Menschen in Israel Gelegenheit gehabt, die Botschaft Jesu zu hören. Die meisten Juden hörten die Botschaft Jesu erst viel später und zwar in den Worten der Kirche. Israel war durch den Bund bereits bei seinem Gott und mußte allenfalls aus seinem Abfall zur Umkehr gerufen werden. Die Nichtjuden kannten den Gott Israels nicht. Wenn sie nun die Botschaft Jesu hörten, konnten sie sie nicht anders als die Gabe eines völlig neuen Lebens empfangen. So verwandelten sich die ursprünglichen Begriffe der Sprache Israels im Verständnis der Völkerkirche und wurden mit ihren neuen Erfahrungsinhalten gefüllt. Wenn nun die bereits judenfeindliche Völkerkirche später ihre Jesusbotschaft in Form von Judenmission zurückbrachte, dann stieß sie in Israel mit Recht auf Unverständnis und Ablehnung.

Schon im ersten Jahrhundert hat die Völkerkirche die Botschaft Jesu nicht vollständig gehört. Sie mußte ja nicht nur zum Gott Israels gerufen werden, sondern damit auch zum Israel Gottes. Das hätte geschehen können, wenn die Kirche Jesus als den Herold der gegenwärtigen Zukunft Gottes angenommen hätte. Wenn sie zu ihm gekommen wäre, hätte sie dann nicht bei ihm zugleich seinem Volk begegnen können? Als Gottes Gesalbter, als Christus, bindet er die Nationen der Welt an sein eigenes Volk, an das Volk des Bundes — Israel. Eine solche Bindung scheint sich nun endlich seit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts allmählich zu vollziehen. Die Kirche wird nur dann das Recht haben, von der Gegenwart der Zukunft Gottes in ihrer Mitte, oder von Jesus als dem Garanten dieser Gegenwart in ihrer Mitte zu reden, wenn sie hofft, betet und arbeitet, daß ihre Bindung an Israel zu dem führt, was Jesus nach dem Zeugnis von Lukas 4,18-21 in der Synagoge von Nazareth aus der Jesajarolle vorlas und auslegte (Jesaja 61,1-2).

Daß ausgerechnet der Name Jesus zum Ärgernis werden sollte zwischen seinem Volk Israel und denen, die sich nach seinem Namen Christen nennen, ist die größte Ironie und der beste Beweis für das Versagen seiner Mission. Wenn ein Baum an seinen Früchten zu erkennen ist, läßt die Frucht des Baumes "Kirche" sehr viel zu wünschen übrig.

Im Blick auf die Eschatologie genügt es wahrscheinlich nicht, wenn wir sagen, daß wir Gottes Zeitplan nicht kennen. Vielleicht hat Gott gar keinen solchen Plan. Es liegt doch im Gedanken des Bundesverhältnisses, das Gott mit Israel hat, daß die Zukunft nicht allein in Gottes Händen, sondern eben auch in den Händen Israels liegt — und wenn die Kirche es lernen sollte, neben Israel vor Gott zu leben, dann gewiß auch in ihren Händen. Wenn Gott lebt, dynamisch und nicht statisch ist und sich einmischt in den Lauf der Geschichte, dann sollten wir vielleicht gar nicht von der Zukunft Gottes, sondern nur von Gottes Gegenwart sprechen. Die brennende Frage bleibt dann: Was sollen wir jetzt tun? Gott erwartet mit Recht die Zusammenarbeit des Bundespartners. Gottes eigenes Handeln steht in engstem Zusammenhang mit der Treue oder Untreue des Bundespartners.

Wenn die Kirche über die Zukunft Gottes redet, sollte sie vermeiden, Christus Gott gleichzusetzen. In 1. Korinther 15, 28 macht Paulus deutlich, daß auch "der Sohn unterordnet sein wird..., damit Gott sei alles in allem." In der eschatologischen Zusammenfassung des Römerbriefes (11,25-36) fehlt jedweder christologische Hinweis. Es heißt nur: "der Erlöser trifft ein aus Zion". Die Eschatologie der Kirche sollte wie ihre Christologie allein auf die Ehre Gottes gerichtet sein, denn wo immer sie Christus statt Gott allein ehrt, da ist sie versucht, sich gegen Israel zu überheben.

6.2 Jesus und die Tora — Gottes Bindung an Israel und die Schöpfung

Die Evangelien berichten von keinem Fall, in dem Jesus auch nur das geringste Gebot der Tora gebrochen hätte. Er sah die Tora als den ausdrücklichen Willen Gottes an und rief alle auf, ihr von Herzen gehorsam zu sein. Alle Stellen in den Evangelien, die traditionell in der Kirche als Beweis dafür galten, daß Jesus gewisse Gebote nicht hielt oder übertreten hatte, haben sich im Dialog zwischen Christen und Juden und durch bessere Kenntnis des Judentums des ersten Jahrhunderts als innerjüdische Auseinandersetzungen um die Halacha, erwiesen.

Paulus schrieb, daß Jesus von Gott zum "Ziel" der Tora gemacht worden sei (nicht zur "Erfüllung" im Sinn ihrer Überwindung). Dieses Ziel der Tora besteht bei Paulus darin, daß durch Jesus jeder, das heißt auch die Nichtjuden, zur Gerechtigkeit des Glaubens kommen können (Römer 10,4). Dadurch wird Gottes Bundesvorhaben, das Abraham verheißen wurde, bestätigt und eingeleitet: Die Nichtjuden werden nun in dieses Vorhaben einbezogen.

Wenn Paulus im Römerbrief über das Gesetz redet, spricht er nicht zu Juden, wie die meisten Ausleger bisher vermuteten, sondern zu Nichtjuden. Nach seinem eigenen Zeugnis war er ja ausdrücklich zu den Nichtjuden gesandt. Er hat wahrscheinlich judaisierende nichtjüdische Christen vor Augen und nicht christliche Juden. Er sah die Welt der Nichtjuden unter der ewigen Tora, dem Gesetz Gottes, allerdings ohne die Gnade des Bundes, den Gott mit Israel geschlossen hatte. Ohne dieses Bundesverhältnis ist das Gesetz Gottes für sie eine schwere Last. Darum wurden sie nun eingeladen, Jesus in seinem Gehorsam Gott gegenüber zu folgen. Er zieht sie hinein in das Bundesverhältnis mit Gott, in dem ihr bisheriger Sklavendienst des Gesetzes beendet ist und die gerechten Forderungen des Gesetzes in ihnen erfüllt werden.

Das apostolische Zeugnis stellt Jesus als lebendigen Beweis dafür dar, daß Gottes Bindung an die gesamte Schöpfung den Charakter eines Bundesverhältnisses hat.

Die Kirche hat in ihrem Antijudaismus über die Jahrhunderte hin das Gesetz als unerfüllbare Forderung und als Last dargestellt, besonders durch den Einfluß Augustins und Luthers. Matthäus 11,29-30 spricht von der Tora, wie Jesus sie auslegte. Ein Joch macht das Ziehen oder Tragen einer Last leichter. Jesus wußte mit Israel, daß die Tora das Leben leichter und wirksamer macht. Sie erweist, wie sehr Gott am Weg des Volkes und den vielen Entscheidungen des Einzelnen und der Gemeinschaft interessiert ist. Gott überließ Israel nicht seinen eigenen Versuchen und Irrtümern, sondern reicht durch die Gebote hinein in die Einzelheiten des täglichen Lebens — sein Essen und Trinken, wie es sich dem Nächsten und dem Fremden gegenüber verhalten oder mit dem Land oder Geld umgehen soll und so weiter. Jesus greift diese bis ins Detail gehende liebevolle Bindung Gottes an Israel auf, wenn er davon spricht, daß Gott auch die Haare, die jemand auf dem Kopf hat, zählt.

Eins der wichtigsten Themen des apostolischen Zeugnisses ist Jesu unbeirrbarer Gehorsam dem Willen Gottes gegenüber. Sein Verhältnis zum Willen Gottes hatte diese beiden Seiten: Er kannte den Willen Gottes in seinem persönlichen Umgang mit Gott im Gebet und er kannte ihn als Ausleger der Tora.

Die frühen Zeugen sahen die Auferstehung als Beweis dafür, daß Jesus Gott gegenüber vollkommen gehorsam war (Römer 1,4). Allerdings wird im Leben Jesu auch deutlich, wie ganz anders sein Gehorsam aussieht, als das, was wir meistens heute darunter verstehen. Auferstehungsglaube war und ist die Überzeugung, daß das Leben Jesu erklärt, was vollkommener Gehorsam dem Gott Israels gegenüber ist. Er kannte den rer en Gottes. Seinem eigenen Befehlen ging das Hören des Befehls Gottes voraus, seiner Vergebung die Vergebung Gottes, Seinem Heilen das Heilen Gottes, seinen Worten das Wort Gottes. In ihm sahen darum die ersten Zeugen die Zweiseitigkeit und Wechselbeziehung des Bundes vollkommen gegenwärtig und ausgelebt. In ihm waren das Israel Gottes und der Gott Israels sich so nah, wie es schon immer der Wille Gottes gewesen war. Wer sich darum auf Jesus einließ, erlebte durch ihn Gottes Interesse an der Ganzheit menschlichen Lebens.

Wie andere Lehrer vor ihm sah auch Jesus die Zusammenfassung des Gesetzes im Liebesgebot. Dennoch ging es ihm nicht weniger um einzelne Gebote (Matthäus 5,22ff; Markus 10,19). Es wird bezeugt, daß er lehrte, der Sabbat sei für den Menschen geschaffen, und nicht der Mensch für den Sabbat. Doch der Sabbat war eben von Gott geschaffen und darum auch zu halten. Alle Gebote sollten bis auf das geringste befolgt werden (Matthäus 5,17.19).

Die Gebote sind für Israel Zeichen der Bindung Gottes an das Volk. Sie sind nicht zu schwer zu befolgen und sie umreißen den Raum, in dem Gott mit ihm im Bundesverhältnis lebt.

Warum sollte sich dann nicht jeder Jesusnachfolger zum Judentum bekehren und dem Beispiel der ersten Jünger folgen? Dies wurde tatsächlich zur dringlichsten und unvermeidlichen Frage des apostolischen Zeugnisses über Jesus. Während man anfänglich sicher als selbstverständlich annahm, daß die Jesus folgenden Nichtjuden durch die Beschneidung efähn werden müßten, wurden die Apostel sich schon früh einig, daß dies nicht dem Willen Gottes entspricht (Apostelgeschichte 15,1-29). Die Nichtjuden sollten als Nichtjuden in die Nachfolge Jesu gerufen werden. Sie bilden als Gemeinschaft die Kirche Gottes. Israel wurde von Gott als Volk berufen, die Kirche ist die von Gott berufene Gemeinschaft von Einzelnen aus vielen Völkern.

Die Kirche steht in ihrem Verhältnis zu Gott dem Israels in nichts nach. Doch während Israel durch die Tora mit Gott im Bund lebt, ist die Kirche durch Jesus Christus mit Gott verbunden. Aus dieser Feststellung ergibt sich dann natürlich die Frage, ob die Kirche ihren eigenen, völlig neuen, vorher nicht dagewesenen, oder zweiten Bund mit Gott hat. Es gibt in den apostolischen Schriften einige Anhaltspunkte für die Annahme eines zweiten Bundes. Aber die überwiegende Beweislast der Schriften steht dagegen.

Die apostolischen Schriften sind uns ja durchweg in griechischer Sprache überliefert und das griechische Wort für "Bund" wurde nicht oft gebraucht. Außer im Hebräerbrief erscheint es besonders in den Evangelienberichten über das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern und 1. Korinther 11,25 (hier auch im Zusammenhang mit diesem Mahl), und in Galater 4,24 und 1. Korinther 3,6.14.

Nur im Hebräerbrief wird der "frische" Bund (12,24) in einen Gegensatz zum Bund Israels gesetzt. Wenn der Brief an Nichtjuden geschrieben wurde, was unwahrscheinlich ist, dann ist diese Auffassung des frischen (nie vorher dagewesenen) Bundes im Sinn der Ablösungstheologie seines Schreibers zu verstehen. Wenn er aber an christliche Juden gerichtet war, dann handelt es sich um eine unter vielen Positionen innerhalb des Judentums des ersten Jahrhunderts, das nach den Erkenntnissen, die aus den Schriftrollen vom Toten Meer zu gewinnen sind, sehr mannigfaltig war. Es steht jedenfalls fest, daß das Jesusverständnis des Hebräerbriefes Jesus in Gegensatz zu seinem Volk setzt und zu Gottes fortbestehendem Bund mit ihm. Das widerspricht aber dem Zeugnis der Evangelien und dem, was Paulus darüber sagt. Wie könnte der Sohn das Werk des Vaters zunichte gemacht haben!

All dies macht das Reden von einem zweiten Bund sehr fragwürdig. Die Tischgemeinschaft der Kirche als Aufhebung des Bundes Gottes mit Israel zu betrachten, ist die schlimmste Irrlehre der Kirche.

Paulus redet nun im Galaterbrief (Kapitel 4) von zwei Bündnissen. Er stellt Sarah und Hagar einander gegenüber. Aber auch hier muß wohl an die Midrasch-Tradition gedacht werden, in der Paulus zu Hause war. Nach ihr standen die Völker unter der rücksichtslosen Herrschaft des Gesetzes. Israel wurde dieses Gesetz als Tora mit großem Glanz gegeben, obwohl noch besseres verheißen war, denn die Tora des Bundes zwischen Gott und Israel enthielt die Verheißung, die noch auf Bestätigung wartete, nämlich, daß die Nichtjuden ebenfalls zur Erkenntnis und zum Dienst Gottes geführt werden sollten.

Der eigentliche Vorwurf, den Paulus gegen seine Mitjuden hatte, war ihre Unfähigkeit, diese Verheißung in der Tora und deren Bestätigung und Erfüllung in der Mission des Paulus zu sehen und anzuerkennen. Es schien ihm ein Schleier über den Augen der Mitjuden zu hängen, der jedoch — wie er es ja an sich selbst erfahren hatte — schnell weggezogen werden würde, sobald sie erkannten, daß Gott in Jesus Christus tatsächlich die Tora-Verheißung verwirklicht.

Den Nichtjuden wurde in Christus ein Weg vom Tod zum Leben geschenkt. Für sie war dies etwas nie vorher Dagewesenes, ein völlig Neues. Aber im Blick auf den bestehenden Bund mit Israel war es nur dessen Bestätigung und Erneuerung in Jesus und seine Ausweitung auf die Nichtjuden hin.

So entspricht es wahrscheinlich dem apostolischen Zeugnis besser, wenn wir von dem einen Bund Gottes mit Israel reden, in dem Jesus, seine ersten Jünger und auch Paulus als Juden standen. Die Völkerkirche aber erfährt Jesus Christus als ihren Weg zum Bundesgott Israels, zur Gabe und zum Anspruch der Liebe Gottes. In ihm und in seiner Zusammenfassung der Gebote — dem Gebot der Liebe — findet sie den tiefsten Ausdruck für ihr Verhältnis zu Gott, nicht in einem neuen, von Israel gelösten Bund.

6.3 Das Liebesgebot

Jesus bestätigte das Sch"ma Jisrael (5. Mose 6,4-5). In ihm heißt es: "Du sollst den HERRN, deinen Gott liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller deiner Kraft." Diese Forderung ist sehr unpraktisch. Es ist darum kein Wunder, daß sie befohlen wird. Die Welt hat für eine so törichte und scheinbar sinnlose Unternehmung kein Verständnis und sieht das Singen, Beten, Loben und Tanzen Israels und auch der Kirche als Energieverschwendung an. Es erfüllt absolut keinen irdischen Zweck. Israel und allen, die ihm zuhören, ist befohlen, Gott völlig und rückhaltlos zu lieben, und das bevor etwas irgend anderes getan wird. Das hat mit dem Bund zu tun, darum fehlt ihm jede nähere Beschreibung. Gott hat sich völlig gebunden, so soll Israel sich binden. Der Bund verlangt, daß Israel nun seine eigene Liebe zu Gott "erfinden" muß, nachdem Gottes Liebe sich schon erwiesen hat — in der Rettung Israels aus Ägypten, in der Gabe Jesu Christi an die Kirche. Wenn die Liebe Gottes befohlen ist, dann ist es auch möglich, Gott zu lieben. Israel und die Kirche sind dabei völlig frei, ihrer Liebe Ausdruck zu geben.

Es gibt nur ein Gebot, daß dem der Liebe zu Gott gleichgestellt ist — das Gebot der Nächstenliebe. Es bedarf keines Gebotes, sich selbst zu lieben. 1. Johannes 4,20 sagt, daß Gottesliebe nicht ohne Nächstenliebe möglich ist. Es heißt nichts anderes, als alles zu lieben, was Gott liebt. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter macht deutlich, wer der Nächste ist. Für die Kirche ist Jesus der Nächste, der sich um uns gekümmert hat.

Jesus fügte der Tora nichts hinzu, er hat sie nur zitiert. So wie seine Zeugen ihn die Tora für die Völkerkirche formulieren hörten, so vertieften die Rabbiner für das Judentum, was sie aus der Tora lernten, zu lieben um des Liebens willen. Juden und Christen stehen unter diesem Gebot zusammen gegen die unglaubliche Selbstsucht, die sich in der westlichen Kultur breitmacht. Individualismus ist nicht mehr nur für Amerika typisch. Als Grundhaltung ist selbstsüchtiges Fühlen und Verhalten das Gegenteil des Liebesgebots.

Auch dieses Gebot ist zuerst Hinweis auf Gottes Handeln. Wie Gott selbst sollen auch wir uns als Partner Gottes erweisen und lieben, wie Gott uns zuerst liebte.

Die Forderung der Feindesliebe war vielleicht eine Besonderheit, die Jesus in seiner Auslegung des Liebesgebots von anderen unterschied (Matthäus 5,44 und 39). Vielleicht wird erst in unserem Zeitalter der Massenvernichtung deutlicher als je, daß Feindesliebe ein Ausfluß der Gottes– und Nächstenliebe ist. Angesichts der Kernwaffen wurde uns klar, daß wir nicht nur unseren Nächsten, sondern auch unseren Feind lieben müssen "wie uns selbst" — um unseres eigenen Überlebens willen.

Man hat immer wieder behauptet, es sei ein Problem, daß die Liebe im Mittelpunkt kirchlicher Verkündigung stehe. Dadurch würde wenig klare Hilfestellung für die schweren Entscheidungen des wirklichen Lebens gegeben. Ohne Frage besteht dieses Problem, doch es ist wesentlich vergrößert dadurch, daß man Liebe vom Gebot trennt und sie dadurch im allgemeinen Bereich der Gefühle unterbringt. Die Gebote sagen aber nichts von Gefühlen. Wir sollen Gottes Sache und die Sache des Nächsten ins Auge fassen und uns dann dafür einsetzen und unsere eigene Sache weniger wichtig nehmen.

Wie die Liebe selbst sind auch Gottes Gebote unmittelbar und offen. Sie sind für die jeweilige Gegenwart bestimmt und fordern uns dadurch heraus, schöpferisch zu sein.

Die Liebe lädt ein, jedes mögliche politische, soziale, ökonomische Programm darauf zu prüfen, ob es zur Förderung des göttlichen Vorhabens dienen könnte. Im Liebesgebot hat Gott die Nachfolger Jesu eingeladen, neben Israel für Gottes Vorhaben mit der gesamten Schöpfung zu arbeiten.

6.4 Der Ruf in die Nachfolge

Jesu Ruf in die Nachfolge war natürlich an seine jüdische Umgebung gerichtet und nicht an die Kirche. Dieser Ruf Gottes, der durch Jesus an Israel zu seiner Erneuerung gerichtet war, wurde aber durch die Geschichte der Kirche für Israel unhörbar gemacht. Gott bereitete für Israel einen neuen Ruf durch die Rabbiner von Javneh, Safed, Babylon und viele jüdische Zentren Europas und später der Neuen Welt. Dagegen ging der Ruf Jesu an sein eigenes Volk durch den Hochmut der Kirche verloren.

Nichtjuden waren von Jesus zwar niemals direkt in seine Nachfolge gerufen worden, aber die Kirche eignete sich den jüdischen Ruf in die Nachfolge an. Zwei Ereignisse machten Nachfolge für Nichtjuden möglich: Die Gabe des Heiligen Geistes und die daraus folgende Entscheidung der jüdischen Apostel, die Nichtjuden in die Gemeinschaft der jüdischen Nachfolger Jesu aufzunehmen. Die Apostel erkannten, daß Gott Anspruch auf bestimmte Nichtjuden gestellt hatte und sie in die Bewegung, die mit Jesus anfing, gerufen hatte.

Die ersten Gemeinschaften von Jesusnachfolgern hatten es offenbar schwer zu entscheiden, welche Merkmale der frühen jüdischen Nachfolge Jesu auch für die Nichtjuden gelten und was von ihnen nicht erwartet werden sollte. Die Kirche kennt dieses Problem noch heute und nicht wenige Kirchenspaltungen haben sich im Lauf ihrer Geschichte solcher Fragen wegen ereignet. Wenn es um Jesus gemäße (auch schriftgemäße oder bibeltreue) Lebensweise geht, ist die Unterscheidung zwischen Moralgesetz und Zeremonialgesetz, die oft angeboten wird, durchaus nicht hilfreich.

Eine schöpferische Antwort der Kirche liegt in der imitatio christi. Sie muß sich selbst darüber klar werden, was es für sie bedeutet, Jesus nachzufolgen. Sie ist berufen, dem Gott Israels auf ihre besondere Weise zu dienen. Sie hat dazu einige Anleitungen durch Paulus und andere Apostel, aber diese weisen nur die Richtung. Es ist die Verantwortung der Kirche vor Gott und der Welt zu entscheiden, wie sie dem Gekreuzigten und Auferstandenen in seinem Dienst des Gottes Israels folgen will. Auch die Apostel können ihr diese Verantwortung nicht abnehmen, denn wie Israel steht auch sie in einem dynamischen Bundesverhältnis mit ihrem Gott.

^  Inhalt

7 Der Gekreuzigte

Der Tod Jesu an einem römischen Kreuz wurde von Anfang an als wesentlicher Teil seiner Geschichte betrachtet. Sein Tod hat nach dem apostolischen Zeugnis kosmische, erlösende und offenbarende Wirkungen, die, um glaubwürdig zu sein, nach den Geschehnissen des jüdischen Holocaust neu überdacht und formuliert werden müssen. Gottes Solidarität mit dem Leiden Israels und mit der gesamten Schöpfung wurde exemplarisch, aber auf keinen Fall endgültig im Gekreuzigten dargestellt. Im Kreuz Jesu wird deutlich, daß Gottes Kraft in Schwachheit verborgen ist.

7.1 Das Problem

Es ist umstritten, ob eins der drei synoptischen Evangelien eine "Theologie des Kreuzes" enthält. Mit Ausnahme von Markus 10,45 stellen sie das Kreuz Jesu als das vorbestimmte Ende seines Lebens dar. Sie scheinen keine Theorie über seinen Tod zu entwickeln, warum er vorherbestimmt war und was er bewirkte. Das Johannesevangelium hat erklärende Aussagen, doch diese stimmen durchaus nicht überein mit der später und vor allem in der westlichen Tradition der Kirche entwickelten "Theologie des Kreuzes". In Johannes 12,32 heißt es von Jesus: "Wenn ich erhöht werde aus der Erde, werde ich alle zu mir ziehen." Ohne Frage geht es hier um einen Triumph. Auch das Johannesevangelium kennt nur eine Ausnahme, die aber nur andeutet und nichts näher erklärt: "Seht! Das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt auf sich nimmt." (Johannes 1,29). Eine zentrale Theologie des Kreuzes scheint darum in erster Linie in den Paulusbriefen und im Hebräerbrief begründet zu sein.

Das nizäische Glaubensbekenntnis, das vom Konzil in Konstantinopel (im Jahr 381) formuliert wurde, spricht von Kreuzigung, Tod und Grablegung und sagt, daß sie um unseretwillen geschehen seien, ohne eine weitere Erklärung anzubieten. Das Konzil von Chalcedon (im Jahr 451) enthält keinen Hinweis auf Kreuz oder Auferstehung. Kein ökumenisches Konzil hat je ein Dogma über die Auswirkungen des Todes beob am Kreuz formuliert.

Die theologische Tradition, in der das Kreuz im Mittelpunkt steht, geht in erster Linie auf Augustin zurück, dessen Theologie sich besonders auf die Franziskaner, Martin Luther und den protestantischen wie katholischen Pietismus des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts auswirkte.

Je schwerer die Folgen des Sündenfalls dargestellt werden, desto radikaler müssen die Auswirkungen des Kreuzes gemacht werden. Oder umgekehrt — wie in Karl Barths Kirchlicher Dogmatik (IV/1)— das Ausmaß der Lösung führt zur Bewußtmachung des Problems.

Heute sind wir gezwungen, das Jesus durch die Heiden zugefügte Leiden — die Demütigung einer Nacht und eines Morgens, die drei Stunden Folterung und den Tod — mit dem Leiden von weiteren sechs Millionen Juden durch Nichtjuden in eine Beziehung zu setzen. Der katholische Theologe Johann B. Metz hat zu bedenken gegeben, daß wir nach dem Holocaust keine theologische Aussage mehr in ihrer bisherigen Form unverändert übernehmen können. Der jüdische Theologe Irving Greenberg sagt, daß keine theologische Aussage gemacht werden sollte, die nicht auch glaubwürdig ist angesichts der verbrennenden Kinder von Auschwitz.

Der protestantische Theologe F. W. Marquardt spricht davon, daß Auschwitz uns mit einem Bußruf konfrontiert. Nicht nur unser Verhalten, sondern auch unser Glaube sollte sich verändern. Auschwitz mahnt uns, das Wort Gottes radikal anders zu hören, als vor Auschwitz, anders als ees As in Theologie und Predigt bisher überliefert wurde.

Was immer die Kirche über die Bedeutung des Todes des einen Juden, Jesus, sagt, muß unter dem Gesichtspunkt bedacht sein, daß jeder einzelne der sechs Millionen Gottes auserwähltem Volk Israel angehörte. Neunzehn Jahrhunderte lang hat die Kirche die Erlösung durch den Kreuzestod Jesu gepredigt und gleichzeitig im Namen Jesu die Juden verachtet. Wenn die kirchliche und theologische Ablehnung Israels nun von (Nazi-) Mördern übernommen und bis zur konsequenten Vernichtung durchgeführt wurde, dann muß die Kirche ihre Theologie und Verkündigung unbedingt neu überdenken.

7.2 Das Kreuz und Auschwitz

In christlicher Lehre war das Kreuz das Mittel gegen die absolute Verdorbenheit der menschlichen Natur. Durch den Sündenfall Adams war die gesamte Schöpfung nicht mehr, was sie nach Gottes Willen hätte sein sollen. Die Konsequenz des Abfalls war der Tod. Sünde und Tod hatten kosmische Dimensionen, die in Satan personifiziert sind. Man sprach vom menschlichen Zustand als sündig, im Unterschied zu sündigem Verhalten.

Jesus wurde als Gottes Bevollmächtigter oder gar als Gott selbst angesehen, der die Verantwortung für die Sünde der Welt übernahm, indem er freiwillig den Tod des Verbrechers an unserer statt auf sich nahm. Durch sein Kreuz überwand er die Mächte der Sünde und des Todes und den Satan. "Gott hat ihn zur Sünde gemacht" (2. Korinther 5,21) bedeutet entweder, daß er den Platz aller Sünder eingenommen hat und damit die Strafe für alle auf sich nahm, oder daß er das menschliche Opfer war (statt der Tieropfer), daß das göttliche Verdammungsurteil trug und damit von den Menschen abwendete. Seine Auferstehung war dann der Erweis seines Sieges, des Gelingens der Erlösungstat Gottes in Christus. Die eschatologische Überlieferung hat für den Sieg Christi nur den einen Vorbehalt, daß der leibliche Tod des Menschen noch fortbesteht, aber er braucht nicht mehr als Gottes Gericht befürchtet zu werden. "Wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle lebendig gemacht werden" (1. Korinther 15,22).

Kann der leidende Gottesknecht von Jesaja 53 weiterhin allein auf den am Kreuz leidenden Juden hin ausgelegt werden, wo wir doch Photographien der toten Angesichter und aufgestapelten Leichname des Volkes Gottes in den Todeslagern gesehen haben? Derartige Fragen sind durch Auschwitz moralisch und theologisch für die Kirche unausweichlich geworden, wie schwer auch immer es sein mag, sie zu beantworten.

Texte der apostolischen Schriften, wie zum Beispiel Römer 5,8, werden traditionell so ausgelegt, daß die zweite Wesenheit (hypostasis) innerhalb der dreieinigen Gottheit, nämlich der Sohn Gottes, in der Inkarnation in der Person Jesu zu seiner göttlichen Natur zusätzlich menschliche Natur angezogen habe. Die Zwei-Naturen-Lehre wollte deutlich machen, daß Gott selbst unserer Sünde wegen am Kreuz leiden mußte, nicht nur ein Mensch. Wie schon gesagt, weil die Sünde als totale Verdorbenheit der menschlichen Natur angesehen wurde, konnte die Erlösung nicht durch einen Menschen, wie heilig oder sündlos auch immer, bewirkt werden. Gott selbst mußte um seiner Heiligkeit und Gerechtigkeit willen das Gericht auf sich nehmen.

Es geht also bei der Lehre von der Dreinigkeit Gottes und bei den zwei Naturen Jesu wesentlich um die Frage, in welcher Weise Gott selbst am Leiden um der Sünde willen und an der Erlösung beteiligt war. Als Jesus am Kreuz starb, konnte natürlich nur seine menschliche Natur den Tod erleiden. Darum bleibt die Frage, ob uns die Lehre von der Inkarnation, den zwei Naturen und der Dreieinigkeit überhaupt helfen kann, Gottes Einsatz beim Werk der Erlösung besser zu verstehen.

Warum kann dann nicht ohne diese doch sehr krampfhaft erscheinenden philosophischen Spekulationen von vornherein angenommen werden, daß Gott mit dem Juden Jesus ein dem Israel-Bund gemäßes inniges Verhältnis gehabt hat, das an menschlicher Intimität und Bindung ausgerichtet war. Gottes Leiden ist dann das eines Vaters oder einer Mutter mit dem und um den geliebten Sohn.

Sollte man nicht in jedem Fall ehe man zu griechisch philosophischen Spekulationen greift bei den in der Schrift selbst gegebenen Bildern Hilfe zum Verständnis des Werkes Gottes in Christus erwarten? Die Lehre von der Inkarnation oder der Dreieinigkeit vermitteln kein engeres Verhältnis zwischen Menschen und Gott, sondern nur ein weniger persönliches.

Der Bundesbegriff der Schrift könnte auch in den Fragen um das Kreuz Aufschluß geben. Das Bild vom Bund gründet auf der Erfahrung menschlicher Beziehungen. Diese haben weder mit Inkarnation noch mit Dreieinigkeit etwas zu tun. Hat Gott gewollt, daß der Sohn sterben sollte? Inwiefern ist das Kreuz die Offenbarung der Liebe Gottes, den Jesus seinen Vater nannte — der Liebe des Bundesgottes Israels zu diesem Israeliten? Die Rede von der zweiten Wesenheit (oder Person) innerhalb der Gottheit umgeht die Frage mit einer falschen Antwort. (‘Person’ ist übrigens eine sehr zweifelhafte Übersetzung des griechischen hypostasis, das die Bischöfe des Konzils gebrauchten).

Nach dem Holocaust zögern wir mit Recht, über Gottes Willen oder Absichten in diesem schrecklichen Geschehen zu spekulieren. (Allerdings kann man auch heute noch die Rede vom Strafgericht über Israel von sogenannten "bibeltreuen" Christen hören.) Sollten wir darum nicht auch vermeiden, dogmatische Aussagen über Gottes Willen mit dem Kreuz Christi zu machen?

Die orthodoxe kirchliche Lehre von der Inkarnation Gottes in Jesus Christus hebt Jesus aus dem jüdischen Zusammenhang heraus und setzt ihn in ein unmittelbares Verhältnis zu allen Menschen. Sie hebt in seiner Bevollmächtigung praktisch die Bevollmächtigung Israels auf. Obwohl Paulus für den Auftrag Jesu starke Worte gebraucht, so hält er doch an der Fortsetzung des Bundes mit Israel fest: "Denn auf alle Gottesverheißungen (die ja doch Israel gegeben wurden) ist in ihm das Ja" (2. Korinther 1,20).

Man könnte nun vorbringen, daß bei den Lehren von Menschwerdung und Dreieinigkeit die klare Absicht bestand, die Bedingungslosigkeit der liebenden Einmischung Gottes in das menschliche Geschick durch Leben und Tod Jesu hervorzuheben. Tatsächlich aber wurden diese Lehren in ihren Formulierungen abgeschwächt, damit die philosophische Vorentscheidung aller Denker der griechisch-römischen Welt erhalten bleiben konnte. Man konnte sich eben nicht vorstellen, daß Gott leiden könne. Die göttliche Allmacht schloß das aus.

Der Holocaust hat die Frage um das Verhältnis Gottes zu Israel nicht nur für Juden, sondern auch für Christen unausweichlich gemacht. Wenn Gott in den Todeslagern nicht anwesend war, wenn Gott nicht mit dem Bundesvolk gelitten hat, dann sollten moralische Wesen einen solchen Gott wohl kaum respektieren müssen. Wenn Gott das qualvolle Sterben von sechs Millionen nicht mindestens ebenso schmerzlich erfuhr, wiet ni Sterben Jesu auf Golgatha, dann kann die Kirche mit ihrer Predigt vom Kreuz kaum noch einen Eindruck machen.

Wenn die Kirche sich nun entschließt, das Weiterbestehen des Bundes Gottes mit Israel zu bekennen, dann kann sie die Person und die Bevollmächtigung Jesu Christi nicht gleichzeitig in einer Weise darstellen, die für den bevollmächtigten Fortbestand Israels theologisch keinen Raum und praktisch keine Notwendigkeit mehr erkennen läßt. Ganz ähnlich verhält es sich mit Kreuz und Holocaust. Wenn die Kirche das Kreuz Christi in einer Weise darstellt, die dem Leiden Israels keine Bedeutung im Bundesgeschehen zwischen ihm und seinem Gott und damit auch für die Völkerkirche und die Welt einräumt, dann macht sie auch das Leiden Jesu am Kreuz bedeutungslos.

Wer immer der eine Jude in Gottes Vorhaben war — wir sollten von seinem Tod nie so sprechen, daß die Bedeutung und der Schmerz des Todes eines anderen Menschen und schon gar nicht der sechs Millionen anderen Juden dadurch in irgend einer Weise verringert wird. Der Tod des treuen Gottessohnes Jesus muß Gott geschmerzt haben, und die "Tode" der sechs Millionen Gottessöhne und –töchter muß Gott noch mehr geschmerzt haben.

Das Kreuz sagt etwas aus über die Kraft Gottes, das durch den Holocaust in ungeheuerlichem Maß bestätigt wurde: Gott kommt offenbar nicht immer denen zu Hilfe, an die Gott sich gebunden hat. Es bleibt immer möglich, daraus die verschiedensten Schlüsse zu ziehen: Es gibt Gott nicht — Gott kümmert sich nicht — Gott ist unfähig einzugreifen — Gott ist entweder nicht gut oder nicht mächtig.

Aber es ist auch möglich, daß es ganz andere Gründe gibt, warum Gott den Sohn Jesus und die vielen Söhne und Töchter im Holocaust nicht gerettet hat. Könnte es sein, daß Gott vorzieht, mit den Auserwählten zu leiden, statt ihre Probleme für sie zu lösen? Könnte es sein, daß Gott uns, den Geschöpfen, weit mehr Verantwortung für die Zukunft der Schöpfung anvertraut hat, als wir bisher vermuteten?

Könnte es sein, daß Gottes Vorhaben in unsere Hände und Herzen gepflanzt ist, so daß die Bosheit römischer Tyrannei und nazistischer Bestialität durch uns überwunden werden sollen?

Wenn Israel und die Kirche mehr Verantwortung innerhalb des Bundesverhältnisses für die Gesamtschöpfung zu übernehmen haben, dann kann das auch vermehrtes Leiden, teilnehmen am Leiden Gottes bedeuten. Das Vertrauen zu Gott kann zur Gewißheit führen, nicht allein und nicht sinnlos leiden zu müssen. Dieses Vertrauen ist von Jesus bezeugt und von vielen seiner Brüder und Schwestern in den Todeslagern.

7.3 Für uns, für unsere Sünden

Sowohl für die Priester als auch für die Römer muß die Tempeldemonstration Jesu, die sogenannte "Tempelreinigung", eine Herausforderung dargestellt haben, die sie nicht leicht hinnehmen konnten. Jesus war bei seinem Tempelauftritt sicher in Begleitung von Leuten, die auch sonst um ihn waren und seine Hilfe erfahren hatten, aber wegen ihres Vorlebens von den Priestern vielleicht als besonders unrein angesehen wurden. Zunächst geschah aber nichts, weil Jesus offenbar zu populär war und man keinen Aufruhr riskieren wollte.

Ohne Frage wußte Jesus, daß ihn seine Tempeldemonstration das Leben kosten konnte. Aber er hat den Tod sicher nicht gesucht. Er starb, weil er Gott gehorsam und seiner Berufung treu war. Da die Welt, in der Jesus die Gabe und den Anspruch der Liebe Gottes geltend machte, noch von der Sünde verdorben ist, kann man sagen, daß er um der Sünde willen starb. Das gilt natürlich in gleicher Weise für jeden, der im Auftrag Gottes zur Durchsetzung des göttlichen Willens auftritt und dafür umgebracht wird. Und es gilt letztlich auch für jeden jüdischen Menschen, der nur weil er Jude war, also zu Gottes auserwähltem Volk gehörte, ein Opfer der Nazis wurde — um der Sünde willen.

Die Geschichten vom Verrat durch Judas und von der Verleugnung des Petrus weisen eindeutig darauf hin, daß die Nachfolger Jesu an seinem Tod beteiligt waren, zumindest wußten sie sich mitschuldig an seinem Tod. Sie hatten ihn im Stich gelassen und sogar verraten. Hätten sie nicht für ihn sterben sollen, oder zumindest zusammen mit ihm? So sagten sie vielleicht schon vor der Auferstehung: Er starb für uns. Und dies ist vielleicht das früheste Bekenntnis, das Paulus aufgriff (1. Korinther 15,3-4), lange bevor die Evangelien geschrieben wurden.

Es war zunächst wohl ein einfaches Bekenntnis, ohne jeden theologischen Überbau. Sicher versuchten seine Nachfolger aber alle Geschehnisse um den Tod Jesu im Zusammenhang der hebräischen Schriften zu verstehen. Jesus hatte ihnen ihr Bundesverhältnis mit dem Gott Israels neu lebendig gemacht. So konnte auch sein Tod nur als die Fortsetzung des Bundesgeschehens und damit der Schrift verstanden werden.

Wie kann sich nun die Kirche das Bekenntnis der ersten Nachfolger Jesu zu eigen machen? Sie hat das Kreuz meistens als von Gott vorherbestimmt verstanden in Übereinstimmung mit einem philosophischen Gottesbild, in dem Begriffe wie Allmacht, Allwissenheit und Vorherbestimmung die Vorstellung von der Selbstbegrenzung (Selbstverengung) Gottes im Bund mit Israel verdrängt hatten. Könnte es sein, daß Jesu Tod am Kreuz nicht von Gott geplant war, sondern Gott dieses Geschehen und die Reaktion der Nachfolger Jesu zu einer neuen Möglichkeit der Erneuerung Israels und der übrigen Schöpfung machte?

Die Kirche muß von Israel lernen, wie bundesgemäß zu denken ist. Es wäre denkbar, daß Gott die Tatsache der Annahme Jesu durch die Nichtjuden zum Anlaß nahm, den Tod dieses bundestreuen Israeliten zum Weg der Völkerkirche zu machen, auf der sie zum Gott Israels finden kann. Die Angst des Pilatus — vielleicht verstärkt durch die der Tempelhierarchie — die Kontrolle zu verlieren, hatte Jesus den Tod gebracht. Die Korruption menschlicher, weltlicher, imperialistischer Macht, der Widerspruch gegen den Bundesgott Israels, der sich in der Judenverachtung und willkürlichen Gewalttätigkeit des Pilatus ausdrückte, ist der Inbegriff der "Sünde der Welt". Nun wurden Nichtjuden des römischen Weltreichs vom Tod dieses Juden angezogen und erlebten in ihm das Angebot der Liebe, der Vergebung und Lebenserneuerung. Der als auferstanden bezeugte und erlebte Jesus wird für die Nichtjuden zu Weg, Wahrheit und Leben. Er wird zur Tür der Nichtjuden in die Bundesgemeinschaft Israels mit seinem Gott. Alles, was Paulus über das Kreuz sagt, kann hier eingeschlossen werden.

Die Auferstehung hat zunächst besondere Bedeutung für den Bund Gottes mit Israel. Nach dem apostolischen Zeugnis waren die Nachfolger Jesu zutiefst verstört durch den Tod Jesu. Das Kreuz schien ihnen nicht nur das Ende Jesu, sondern all dessen, was er darstellte, vor allem das Ende der Bundeserneuerung Israels. Eine Mischung von Reue, Verzagtheit und Hoffnungslosigkeit hatte sie ergriffen. Nur eins war ihnen geblieben: Sie liebten ihn. Durch die Erscheinungen des Auferstandenen wurden sie aus dem Zustand der Trauer herausgerufen. Gott hatte die Bundestreue Jesu bestätigt und darum den Bund selbst. Und sie sollten in diesem Sinn seine Zeugen an Israel sein. Die Auferstehung des einen Israeliten ist die Bestätigung des Bundes Gottes mit ganz Israel.

Es erwies sich schon bald nach der Auferstehung, daß nicht nur Juden, sondern auch dem Judentum nahestehende Nichtjuden dem Zeugnis der Nachfolger glaubten. Als sich besonders durch die Mission des Paulus mehr und mehr Nichtjuden der Jesusbewegung anschlossen, wurde deutlich, daß Gott durch die Auferstehung Jesu nicht nur den Bund mit Israel selbst bestätigte, sondern darüber hinaus Israel zum "Licht der Nationen" machte und die Verheißung an Abraham erfüllte, in dessen Nachkommenschaft alle Nationen gesegnet werden sollten.

In Kreuz und Auferstehung wird die Gegenseitigkeit des Bundesgeschehens erkennbar. Gott wirkt, aber den menschlichen Bundespartnern ist viel Mitverantwortung für die Zukunft des göttlichen Vorhabens anvertraut worden.

Paulus schrieb an die Galater: "Wer hat euch bezaubert, denen doch Jesus Christus vor die Augen gemalt war als der Gekreuzigte" (3,1). Die Völkerkirche hat das Bekenntnis des Petrus, daß Jesus der Gesalbte (Christus) ist, immer mehr betont, als die Geschichte seiner Verleugnung, die Geschichte des Kreuzes. Sie scheint in eine Vergessenheit des Kreuzes "bezaubert" zu sein. Angesichts des Kreuzes könnte sie erkennen, wo sie steht: Nicht am Kreuz Jesu, und damit am Kreuz derer, die in Auschwitz umgebracht wurden, sondern bei denen, die Gottes Auserwählte ignorieren, verleugnen oder sich sogar an ihrer Vernichtung beteiligen und dadurch Gott selbst mehr Leid zufügen.

Paulus wurde gesagt, daß Gottes Kraft in Schwachheit vollkommen gemacht wird (2. Korinther 12,9). Heißt das, daß Gott es vorzieht, das Gute durch das Erleiden des Bösen, durch die Hinnahme des Versagens zu vollbringen, durch Erduldung des Kreuzes und der Gaskammern? Das ist weit mehr, als die oft gehörte Auslegung, daß Gott menschliche Schwachheit gebraucht. Bundesgemäßes Denken führt tiefer: Gott verbindet sich mit der Erfolglosigkeit, der Schmach und Qual von Golgatha und Auschwitz und macht damit deutlich, worin Gottes Kraft besteht im Unterschied zu aller anderen Macht.

Diese Machtlosigkeit steht im Gegensatz zur Gewalt, zu militärischer und politischer Macht. Jesus hatte sich nach dem apostolischen Zeugnis für Gewaltlosigkeit entschieden. Vielleicht hat sich Gottes Verhalten mit dem Auftritt Jesu verändert. Wenn man das Kreuz und Auschwitz verbindet, gewinnt man einen tieferen Einblick in Gottes Teilnahme an menschlichem Leiden. In jedem Menschen, der die Verdorbenheit der Schöpfung — Gewalttat, Krankheit, Behinderung, Hunger, Armut — erleidet, ist der Schöpfer selbst gegenwärtig. Gott versucht, uns durch Teilnahme an unserem Geschick für sich zu gewinnen. Der Kirche wird das gezeigt in der Person Jesu Christi.

7.4 Gott, Tod und Geschichte

Nach der Geschichte Noahs hat Gott sich entschieden, das Auf und Ab der Weltgeschichte hinzunehmen: Gottes Sonne scheint über den Guten wie den Bösen und der Regen fällt auf die Gerechten wie die Ungerechten. Das schließt die Geschichte des Bundes und die Geschichte der Schöpfung ein, für die der Bund geschlossen wurde. Dieser Gott, der sich derart an die Schöpfung gebunden hat, kann kaum als das Absolute bezeichnet werden, sondern wird eher als "Würfelspieler" erscheinen (nach einem Wort Einsteins). Es scheint, daß dieser Gott die Geliebten im Stich läßt — und das nicht nur in den Krisen am Kreuz und in den Todeslagern. Es ist dieser Gott, dessen Herrlichkeit im Angesicht des gekreuzigten Juden zu erkennen ist. So ist die Herrlichkeit Gottes sicher der Armut und dem Leiden ähnlicher, als dem Prunk eines Potentaten. Gottes Herrlichkeit, wie sie im Gekreuzigten gesehen werden kann, füllt die Erde in den Gesichtern und Körpern aller Armen und Elenden.

Die Gemeinschaft, durch die uns das Johannesevangelium überliefert wurde, bezeugt die Herrlichkeit des "Einziggezeugten" (1,14) als die des Gekreuzigten. Die Stunde seiner Herrlichkeit war die Stunde seines Todes (17,1), seine Erhöhung bestand in seiner Erhöhung ans Kreuz (8,28). Die Kirche wird sich darüber klar werden müssen, ob sie diesem Zeugnis Rechnung tragen will und Gottes Selbstoffenbarung als Liebe im Kreuzestod Christi und im Tod der Vielen in den Lagern erkennen will.

"Der letzte Feind, der abgetan wird, ist der Tod" (1. Korinther 15,26). Dieses Verständnis des Todes ist nicht charakteristisch für die Tradition Israels. Die Juden haben keine einheitliche Meinung über den Tod. Wenn der Tod eine alte Person erreicht, dann wird das als Teil der geschöpflichen Existenz des Menschen angesehen. Anders ist das beim Tod eines jungen Menschen. Auch in Israel sehen viele den Tod als Folge der Sünde Adams an. In der Schrift wird der Tod oft dargestellt als ein Gehen ins Ungewahrte, jenseits menschlicher und sogar göttlicher Reichweite. Wesentlich ist, daß die Toten vom gemeinsamen Lobpreis Gottes durch Israel abgeschnitten sind. Dennoch glauben auch viele in Israel an eine Auferstehung der Toten.

Durch das Kreuz wurde der Tod für die Völkerkirche neu definiert. Für sie konnte der Tod niemals endgültig sein, weil der Tod Jesu nicht endgültig war. Wie das Kreuz im Licht der Auferstehung gesehen wurde, so konnte der Tod allenfalls der letzte Feind sein, der noch beseitigt werden muß.

Was aber mit den Opfern des Holocaust? Das Bundesvorhaben Gottes, das ja hinter der Identität liegt, um deretwillen sie starben, besteht weiter. Auch die Toten selbst leben nicht nur in der Erinnerung Israels. Wenn sich die Kirche die Erinnerung Israels und seine Entschlossenheit, niemals mehr einen Holocaust zuzulassen, zu eigen macht, wenn sie den jüdischen Staat als Bestätigung jüdischen Lebens nach so viel Tod anerkennt, dann darf sie mit Israel bekennen, daß der Tod nicht das letzte Wort hat, sondern Gottes Vorhaben im Leben dieses Volkes fortbesteht.

Tod und Satan sind Symbole äußerster Feindschaft. Wenn es einen letzten Feind gibt, dann ist er der namenlose Widerstand gegen Gottes Liebe, die als Chaos die Schöpfung vernichtet und als Tod die Menschheit schreckt. Es ist das, womit Gott es am Kreuz zu tun bekam und womit Gott in Auschwitz rang, ein Böses, für das der Tod nur das Zeichen ist.

Das Kreuz ist der Ort, an dem Gott gegen das Böse auftrat und scheinbar unterlag. Die Auferstehung ist ein mehrdeutiges Zeichen dafür, daß das Böse nicht gewonnen hat, daß Gottes Vorhaben eine Zukunft behält. Doch im gleichen Zusammenhang muß auch von Auschwitz gesprochen werden. Die unglaubliche Geburt des Staates Israel, in der es um Leben und Tod ging, das Überleben des Volkes, jede jüdische Geburt bis auf diesen Tag — all diese sind ebenfalls mehrdeutige Zeichen dafür, daß der Feind noch nicht gewonnen hat, daß Gottes Vorhaben eine Zukunft behält. Die Geschichte geht noch weiter.

Der Tod Jesu war ein geschichtliches Ereignis. Es ist datierbar und es hat Folgen für die menschliche Geschichte gehabt. Das ist die Widerlegung der in theologischen Kreisen oft gehörten Behauptung, das Kreuz sei das Ende der Geschichte.

War das Kreuz etwa die Mitte der Geschichte? Ohne Frage hat das Kreuz einen Wendepunkt dahingehend dargestellt, daß Nichtjuden in die Geschichte einbezogen wurden, die mit Abraham begonnen hatte. Dennoch gab es noch weitere Wendepunkte. Einer davon war die wachsende Feindschaft zwischen der Kirche und dem jüdischen Volk. Weitere ergaben sich durch die Spaltungen der Kirche in Ost- und Westkirche und durch die Kirchenspaltungen der Reformation. Aber auch das Erwachen der Kirche für den fortbestehenden Bund Israels muß als ein neuer wichtiger Wendepunkt angesehen werden.

Es scheint darum auch nicht gut möglich, das Kreuz als Mitte der Geschichte zu bezeichnen, wie es viele in der Kirche tun. Für die Kirche ist es ja der Anfang ihrer eigenen Geschichte und damit der Anfang ihrer Beteiligung an einer viel älteren Geschichte, nämlich der Israels, deren Ende noch nicht abzusehen ist.

Wer vermag zu sagen, welchen Platz das Kreuz in der göttlichen Schau der Geschichte einnimmt? Das Kreuz bestätigt Gottes Verwicklung in die Geschichte Israels um aller Nationen und um der Schöpfung willen. Aber auch die Auferstehung war keine Garantie gegen eine neue Niederlage, weil sich die Kirche in ihrer Entwicklung nicht an die Seite Israels, sondern sich ihm entgegen stellte. Die mögliche Umsinnung der Kirche und ihre Aussöhnung mit Israel könnte in der göttlichen Schau der Geschichte womöglich der größte Wendepunkt werden.

Paulus nahm an, daß die Aussöhnung zwischen Nichtjuden und Juden eine der wichtigsten Auswirkungen des Kreuzes Christi hätte sein sollen. Der Schreiber des Epheserbriefes meinte, es wäre die vordringlichste Auswirkung des Kreuzes, obwohl er dabei nur an die Aussöhnung zwischen den nichtjüdischen und jüdischen Gemeindegliedern dachte.

Wenn man den Tod Christi als bedeutsames Ereignis innerhalb der fortbestehenden Geschichte des Bundesverhältnisses Gottes mit der Schöpfung ansieht, wird es unmöglich, die Erlösung als etwas anzusehen, daß ohne unsere Beteiligung, "über unsere Köpfe hinweg" geschehen ist.

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8 Die Neuheit Jesu Christi

Das Kommen und Gehen Jesu Christi schuf etwas völlig Neues innerhalb der fortbestehenden Geschichte des Bundes. Es wirkte in Richtung auf das verborgene Ziel der Tora, nämlich die Nichtjuden in den Plan einzuschließen, der sich seit der Berufung Abrahams entfaltete. Es nimmt nicht wunder, daß Israel als Gesamtheit dies in Jesu Zeit und über die Jahrhunderte hinweg nicht gesehen hat.

8.1 Das verborgene Ziel der Tora

In den apostolischen Schriften wird beides betont: das etwas völlig Neues in Christus geschehen ist, und daß dieses Neue innerhalb des Bundes geschah (vergleiche 2. Korinther 5,17 und 1. Johannes 1,1; 2,7; Römer 6,4 und Lukas 10,26-28) In Kolosser 1,12 wird Gott Dank gesagt, "der uns [die Nichtjuden] tauglich macht zum Erbteil der Heiligen [Israel]". Die Besonderheiten des Neuen und des Fortbestehenden werden im Epheserbrief (2,1-5 u. 11-13) entwickelt. Das Neue ist, daß Nichtjuden zu Miterben der Verheißungen Israels gemacht werden. Das Geheimnis war bisher verborgen, aber es war schon immer vorhanden: Christus ist das Ziel (telos) der Tora.

Das endgültige Ziel der Tora ist die Wiederherstellung der gesamten Schöpfung. Wenn die Rabbiner von einem Ziel der Tora sprachen, ging es ihnen um das unmittelbare Ziel der Gestaltung Israels. Für Paulus und den Schreiber des Epheserbriefes war das Ziel der Tora noch weiter gesteckt. Ihnen ging es darum, daß die Kirche Christus gleichgestaltet würde.

Der Epheserbrief sagt, daß ein göttlicher Plan hinter dem Bund steht, nämlich die Tora und das Kommen Christi. Den Rabbinern ging es darum, wie der Bund verwirklicht werden sollte. Die Heidenapostel fragten dagegen: Wohin der Bund führe, was sein engültiges Ziel sei? Diese beiden Anliegen schließen sich nicht aus, aber sie unterscheiden sich.

Es gibt verschiedene Vorstellungen über die Art und Weise, wie Gottes Plan und Vorhaben durchgeführt wird. Haefähtt alles, was in der Zeit geschehen soll, vorhergesehen und offenbart es Stück für Stück, indem die Erwählten ausgebildet und angetrieben werden, alles das zu entdecken, was immer schon im Sinn Gottes war? Oder hat Gott — allmächtig und allwissend — alle Karten ausgeteilt, und wir entdecken nur, wie das Spiel verläuft, wenn wir sie eine nach der anderen aufnehmen?

Das Denkmodell des Bundes führt zu der Vorstellung, daß Gottes Handeln wesentlich von unserem Handeln mitbestimmt ist und darum beide Bundespartner auf den Verlauf der Geschichte einwirken. Dann werden Begriffe wie Allmacht und Allwissenheit unklar. Gottes Macht läßt immer Raum für menschliche Entscheidungen und Initiativen.

Im Denkmodell der Vorherbestimmung dominiert Gott, zielorentiert, in dem des Bundes hat Gott sich an einen Prozeß gebunden, der auf Gegenseitigkeit und geduldigem Überzeugen des Partners beruht.

Wenn Paulus von Christus als dem "Ziel der Tora" spricht, dann kann das heißen, daß in Christus ein neuer Schritt auf das endgültige Ziel hin unternommen wurde, die gesamte Schöpfung zu Gott zu führen.

"Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Schöpfung, " schreibt Paulus (2. Korinther 5,17). Diese völlig neue Schöpfung, die Kirche, erwuchs aus den "Dingen, die Jesus von Nazareth betreffen". Was ist nun neu? Das Neue Testament, das mit Israels Schrift zusammengebunden ist, eine neue Gemeinschaft, die zuerst innerhalb Israels bestand, dann neben und schließlich außerhalb von Israel. Sie wird von den meisten Juden als Verirrung angesehen, von den jüdischen Nachfolgern Jesu innerhalb der neuen Gemeinschaft als verheißene Entwicklung. Für die Nichtjuden aber ist es eine Verwandlung aus Finsternis zum Licht, aus dem Tod ins Leben. Sie waren wie neugeboren. Sie wurden für den Gott des Bundes lebendig, und damit wurde ihnen der Bund lebendig. Für sie wurde es ein neuer Bund. Es ist der alte Bund, der immer wieder erneuert worden war, doch diesmal in einer Weise, die es den Nichtjuden ermöglicht, dem Gott Israels als Nichtjuden zu dienen.

Diese Erneuerung des Bundes bewies einmal mehr, daß Gottes alter Bund — von der Schöpfung über Abraham und Mose — lebendig, lebensfähig und darum veränderungsfähig ist, stets offen für neue Möglichkeiten. Weder Israel noch die Kirche konnte sehen, daß die Reichweite dieser Möglichkeiten sowohl die Entwicklung der mündlichen Tora und des rabbinischen Judentums, als auch die der apostolischen und patristischen Kirche einzuschließen vermocht hätte. Es ist die Tragik der Geschichte, daß keine der beiden Gemeinschaften solche Möglichkeiten außerhalb ihrer eigenen Grenzen erkennen konnte.

Kirche und Israel kannten die Realität eines lebendigen Bundes, doch haben sie ihn verstanden und ausgelebt? "Bund" bedeutet in unserem Zusammenhang, daß Gott sich daran gebunden hat, die Zukunft von Menschen mitbestimmen zu lassen. So kann die Aussage verstanden werden, wie Israel sie versteht: "Es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Mund und in deinem Herzen, daß du es tust" (5. Mose 30,14). Und so kann die Aussage verstanden werden, wie sie die Kirche versteht: "Das Wort wurde Fleisch und zeltete unter uns" (Johannes 1,14). Wenn vom Bund die Rede ist, dann geht es um die gesamte Schöpfung, die in einem dynamischen Verhältnis zu Gott steht, in dem Gott und Gottes Geschöpfe aufeinander bezogen sind und sich gegenseitig beeinflussen.

"Lebendig" heißt in dieser Verbindung, daß der Bund lebt, das heißt dem Wachstum und der Veränderung ausgesetzt ist. Ein lebendiger Bund kann unmöglich heute noch genau so sein wie er gestern war. Ein lebendiger Bund bringt immer neue Möglichkeiten mit sich, neue Antworten auf alte Fragen, neue Herausforderungen und neue Überraschungen für beide Partner. Es ist eine Liebesgeschichte, die sterben würde, wenn sie nicht wüchse und sich veränderte.

So haben auch Israel und die Kirche sich ständig verändert und dabei stets behauptet, sie seien genau das, was sie immer gewesen sind. Der Mythos einer unveränderlichen Orthodoxie ist kennzeichnend für beide Gemeinschaften. Doch das Überleben einer Gemeinschaft, die überhaupt erst eine Tradition oder Überlieferung ermöglicht, weist auf ihre Vitalität und Veränderungsfähigkeit hin.

Wenn wir von "einem" lebendigen Bund reden, dann wird damit angedeutet, daß es durchaus noch andere Bünde oder andere Möglichkeiten der Realisierung bundesgemäßen Lebens geben mag. Der Bund, den Gott mit einem Teil der Schöpfung hat, schließt doch nicht aus, daß der Schöpfer einen ähnlichen oder anderen Bund mit einem anderen Teil der Schöpfung hat. Leider hat die Kirche das nur sehr spät und langsam erkannt. Für die längste Zeit ihrer Geschichte hat weder die Kirche noch hat das jüdische Volk anerkannt, daß die jeweils andere Gemeinschaft der lebendige Beweis dafür ist, daß es noch andere Bundesverhältnisse gibt, die man nicht aus eigener Erfahrung kannte.

8.2 Israel konnte Gottes Absicht mit der Kirche nicht sehen

"Er kam in sein Eigentum" (Johannes 1,11) und viele der Seinen nahmen ihn an, jedenfalls folgten ihm genug seiner Mitjuden, um die Kirche Jesu Christi zu ermöglichen. Was sahen diese Leute, das die anderen in ihrer Gemeinschaft nicht sehen konnten? Johannes der Täufer und Jesus ging es um die Erneuerung des Bundes. Von da aus nahm die Bewegung ihren Kurs über die Gottesfürchtigen, die dem Judentum nahe standen, hin zu Paulus, der sich als Apostel der Völker berufen wußte. Weil diese Bewegung einen Wendepunkt im Bund Israels darstellte, hätte nur Israel ihn sehen können. Der Jude Petrus sah ihn als erster, wenn auch zögernd, und dann kam der Jude Paulus ins Bild. Er war in großer Not darüber, daß sein eigenes Volk nicht sehen konnte, was Gott tat. (Römer 9,25 und Hosea 2,23). Er sah sich als Beispiel des Überrests (Römer 11,1), der für das ganze Israel die Völker in Gottes Bundesabsichten hineinziehen sollte.

Paulus gestand seinen Volksgenossen großen Eifer im Dienst der Tora des Bundes zu (Römer 10,2; 9:31). Doch in ihrem Eifer haben sie nicht erreicht, nicht erfaßt, was schon in der Tora angedeutet war.

In seiner Tora-Treue wurde Jesus Christus zum Ziel der Tora, indem er Nichtjuden in das Bundesverhältnis mit Gott zog, das auf die Erlösung der gesamten Schöpfung aus ist. Zwar beschäftigen sich Israels Schriften in erster Linie mit dem Verhältnis zwischen Gott und dem jüdischen Volk, und die Völker werden meistens als Feinde Israels gesehen, die kein Verhältnis zum Gott Israels haben. Dennoch sind in diesen Schriften klare Hinweise auf den neuen Wendepunkt im Bund enthalten.

Um die Zeitenwende und besonders im ersten Jahrhundert unsrer Zeitrechnung waren die Pharisäer und Rabbiner wesentlich um das Überleben Israels inmitten der hellenistischen Welt besorgt. Die Anordnungen der Tora über den Sabbat, die Beschneidung und die Nahrung mußten entwickelt werden, damit die Gemeinschaft der sie gefährdenden Assimilation entgehen konnte. Sie war plötzlich in eine neue Situation der Zerstreuung unter die Völker geworfen, ohne den Tempel, fern vom eigenen Land, im Exil. Den geistlichen Führern des Volkes muß die Jesusbewegung, die in die engste Gemeinschaft mit Nichtjuden führte, als Verrat des Bundes erschienen sein, vielleicht sogar als nationaler Selbstmord.

Israel las seine Schriften im Licht seiner Erfahrung seit der babylonischen Gefangenschaft und nicht wie Christen, die den zweiten Jesaja und andere Propheten erstmals entdecken. Für die Juden waren und sind die Propheten Kommentar der Tora, nicht umgekehrt. Ihnen war Mose der größte aller Propheten.

Paulus beschäftigte sich sehr damit, eine Erklärung für den Abstand zu finden, der sich zusehends zwischen den beiden Gemeinschaften vergrößerte. Er schrieb nieder, zu welcher Erklärung er gekommen war: "Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, bis die Vervollständigung der Völker eingeht [in den erneuerten Bund], und dann wird das ganze Israel errettet werden", so wie es durch Jesaja und Jeremia verheißen worden war (Römer 11,25-27). Paulus sah hinter der Entscheidung Israels die Entscheidung Gottes zur Förderung des Bundes. Zunächst sollte eine Vollzahl der Völker in den Bund Gottes hineingezogen werden, dann würde Gott ("der Erlöser aus Zion" [der Befreier oder der Bergende]) kommen, um die gesamte Schöpfung — allen voran das ganze Israel he Z51; zu erlösen.

Hat Gott diesen Ablauf der Dinge nun im Voraus geplant oder das Beste aus menschlichen Entscheidungen gemacht? Es gab drei Möglichkeiten für Israel in seinem Verhältnis zur Völkerkirche. Die erste war der Status quo, wie er vor Christus bestand: Nichtjuden konnten jederzeit durch Abkehr vom Heidentum und Beschneidung Teilnehmer im Bund, also Juden werden. Die zweite (hypothetische) Möglichkeit war, daß Israel den neuen Weg der Kirche mitgegangen wäre. Dann hätte es seine Identität allmählich verloren und wäre am Ende in der Völkerkirche untergegangen.

Die einzig andere Möglichkeit war die von Paulus angenommene: Israel bleibt Israel, aber ein kleiner Teil Israels — ein "Überrest" — handelt für das ganze Israel und unternimmt den riskanten Schritt, unter das Urteil des Abfalls vom Judentum zu fallen, um die Nichtjuden als Nichtjuden in das für sie neue Leben des Bundes einzuladen. Innerhalb der neu entstehenden Gemeinschaft ist die Unterscheidung von Juden und Nichtjuden aufgehoben. Darum war es wichtig, daß die meisten Juden auf dem Weg der Tora verblieben, damit die Kirche nie ohne die Treue Israels ist und sich stets der "Wurzel" erinnert, die sie trägt, und des "Ölbaums", dem sie als Zweig "eingepfropft" ist. (Römer 11,17-18).

Paulus hat diese dritte Möglichkeit allerdings in einem radikal eschatologischen Rahmen angenommen, der für uns nicht mehr besteht. Das Bundesverhältnis zwischen Israel und Gott spielte eben auch bei der Frage, welche der drei möglichen Wege die jüdische Jesusbewegung einschlagen sollte, eine wichtige Rolle. Gott respektiert die Entscheidungen des Partners. Wie schon angedeutet, überläßt Gott nach dem Talmud dem Volk die Entscheidung darüber, wie es die Tora verstehen will. Und Jesu Nachfolger bezeugen von ihm, daß er ganz ähnlich wie die Rabbiner davon sprach, daß es im Himmel so sein werde, wie es die Nachfolger auf Erden entscheiden (Matthäus 16,19; 18,18; Johannes 20,23). Tatsächlich scheinen die anderen beiden möglichen Wege auch von Teilen der jüdischen Jesusbewegung beschritten worden zu sein. Die junge Kirche aus Juden und Nichtjuden aber blieb sich ihres Bundesverhältnisses bewußt und traf alle ihre Entscheidungen im Zusammenwirken mit dem heiligen Geist (Apostelschichte 15,28). Und wenn sie vom Geist oder von Christus oder von Gott sprach, meinte sie immer den einen Gott Israels.

Man kann das Bleibende und das Neue dialektisch verstehen, solange man (mit Franz Rosenzweig und gegen Friedrich Hegel) darauf besteht, daß die beiden sich nicht in ein Drittes aufheben. Sie bleiben immer in einem Spannungsverhältnis. Gottes bundesmäßige Selbstbestimmung garantiert das Bleibende. Doch weil Gott im Bundesgeschehen die Möglichkeit des Beitrags des Bundespartners erlaubt, darum ist Gott auch immer offen für Neues. Wenn Gott in der Annahme menschlichen Entscheidens und Handelns etwas Neues tut, dann bleibt Gott dabei dem ursprünglichen Vorhaben treu. Das Neue ist dann immer ein neuer Schritt auf das Ziel hin, das in der Erlösung der gesamten Schöpfung besteht, an das sich Gott gebunden hat.

Die Kirche hat diese Dualität von Bleibendem und Neuem in ihrer Lehre von der Dreieinigkeit auszudrücken versucht. Sie bekennt den einen Gott (womit das Bleibende bezeichnet ist) in der ganzen Vielfalt des Wirkens Gottes als Vater, Sohn und heiligen Geist (womit das Neue zum Ausdruck gebracht wird). Wenn man die Dreieinigkeit als drei Personen (oder gar als drei Götter) ansieht, das Christentum als neue Religion bezeichnet und gar noch den neuen Bund als zweiten Bund bezeichnet, dann verneint man das Bleibende in Gott. Dagegen ist Unitarismus oder die Bezeichnung des Christentums als "Judentum für die Völker" eine Verneinung der Fähigkeit Gottes, Neues zu tun. Darum ist die Lehre über den dreieinigen Gott von grundsätzlicher Bedeutung für die Kirche zum Verständnis des bundesmäßigen Wirkens Gottes. Gott ist in Vielfältigkeit der Gott Israels und der Kirche, und Gottes "Bleibendes" enthält sicher viel mehr Neues, als sich Israel und die Kirche träumen lassen.

8.3 Die Blindheit Israels und der Kirche

Israel als Ganzes hat nicht gesehen, daß etwas Neues in der Geschichte des Bundes zwischen Gott und Israel geschah. Das liegt wesentlich daran, daß es die Kirche auch nicht sieht. Israel hat die Geschichte Jesu von Nazareth und der Gemeinschaft, die sich in seinem Namen bildete, nicht als Ereignisse in seiner eigenen Geschichte erkannt. Die Kirche hat nicht gesehen, daß das Neue Jesu Christi und der Kirche Teil des Bleibenden ist, des Lebens und des Bundes Israels, und daß ihr eigenes Leben kooperativ neben Israel bestehen sollte. Israel kann das Neue nicht sehen, die Kirche sieht das Bleibende nicht. Beide sind blind der Realität Christi gegenüber.

Im Bezug auf die Blindheit gab es Ausnahmen. Maimonides sah die schrecklichen Fehler der Kirche, dennoch glaubte er, daß sie im Blick auf den Endzweck des Bundes eine Aufgabe hätte. Judah Halevi und Rabbi Jakob Emden sahen es ebenfalls (Brief an den Judenrat in Polen um 1750). Franz Rosenzweig ragt aus allen heraus, die als Juden einen christlichen Weg anerkannten. Er schrieb ausführlich darüber schon ein halbes Jahrhundert bevor irgend ein christlicher Denker positiv über das christlich-jüdische Verhältnis sprach (in seinem Buch: Der Stern der Erlösung). Er sah das jüdische Volk und die Kirche als im Dienst des einen Gottes sich gegenseitig unterstützende Gemeinschaften. Man muß sich also fragen, wie die Kirche dazu kommt, soviel von Israels Blindheit zu reden und so wenig von ihrer eigenen.

Die Kirche wurde zu Israels Scheuklappen. Ihr Verhalten war so schrecklich, daß Israel niemals eine Chance hatte, das Neue, das in Jesus Christus erschienen war, in Betracht zu ziehen, denn das Neue wurde in einer Weise dargestellt, die es zur Schreckensbotschaft für Israel machte und zur Gefahr für den Fortbestand des Bundes. Die Kirche sorgte im Lauf ihrer Geschichte dafür, daß die Juden in Jesus Christus keinen Wendepunkt in Gottes Bundesgeschichte erkennen konnten.

Die Kirche begann etwa von der Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 an, den Blick Israels zu verdunkeln. Die Rabbiner legten das Ereignis bundesgemäß als Strafe für Israels Sünde aus. Darum wiesen sie hin auf die Erneuerung des Bundes. Die Kirche dagegen legte die Zerstörung als Zeichen für das Ende des Bundes aus und setzte sich selbst als das neue Israel anstelle des Bundesvolkes. Die Kirche beschlagnahmte die Schriften Israels als ihre eigenen und erklärte sie zum "Alten Testament". Sie behauptete, selbst eine "heilige Nation und ein königliches Priestertum" zu sein (1. Petrus 2,9) und begann schon sehr bald, sich als das "wahre Israel" darzustellen (Justin Martyr, Dialog, 123 und 135). Sie fing an, den Antijudaismus in ihre Theologie einzubauen (Tertullian) und steuerte damit einen judenfeindlichen Kurs, der bis ins zwanzigste Jahrhundert hineinreichte. Und das alles im Namen der Neuheit Gottes in Jesus Christus. Es ist darum durchaus verständlich, wenn das jüdische Volk nichts Neues sehen konnte.

Die Kirche stellte sich selbst als neue Religion dar und ignorierte damit das Gericht der Schrift über alle Religionen, neu oder alt. Sie stellte sich in einer Weise dar, die für Bundesaugen und -ohren äußerst fremd war: Weder jüdisch, noch heidnisch, sondern als "drittes Geschlecht". Wenn Christus aber aus dem Zusammenhang des Bundesverhältnisses mit seinem Volk herausgerissen wird, verliert er jede Bedeutung. Das Erstaunliche ist nicht, daß die Juden diesem Monstrum gegenüber blind geblieben sind, sondern daß die Kirche damit überlebt hat.

Der Paragraph 4 der katholischen Erklärung des II. Vatikanischen Konzils Nostra Aetate (4) (Oktober 1965) wird zu recht als erster Schritt seit dem ersten Jahrhundert angesehen, die Kirchenlehre über Juden und Judentum positiv zu verändern. Dennoch war es ein nur sehr schwacher Schritt, dem allerdings eine Reihe von mehr oder weniger mutigen Erklärungen katholischer Bischofskonferenzen folgten. Nostra Aetate (4) selbst erwähnt die Israelvergessenheit der vergangenen neunzehn Jahrhunderte nicht, sagt auch nichts über die unermeßliche Schuld der Kirche, die in der Verleumdung, Verfolgung, Vertreibung und grausamen Ermordung vieler Juden durch die Jahrhunderte besteht. Nostra Aetate (4) verurteilt zwar den Antisemitismus, verliert aber kein Wort darüber, daß die Kirche selbst es war, die die gesamte westliche Welt mit dem Gift der Judenverachtung geimpft hat. Das Dokument dient kirchlichem Selbstzweck und ist weitgehend kirchliche Selbstrechtfertigung, typisch für ekklesiastische Erklärungen. Es beschreibt damit getreu den kaum zu überbietenden Hochmut, der für das Verhältnis der Kirche zu Israel charakteristisch ist. Dennoch war Nostra Aetate (4) ein erster Schritt, und er kam von katholischer Seite. Viele protestantische Kirchen haben kurz davor oder seither ebenfalls ihr Verhältnis zum Judentum überprüft, und manch eine sorgfältig erarbeitete kirchliche Erklärung hat von jahrhundertjähriger tiefer Schuld gegenüber den Juden, von Umkehr und von der Bitte um göttliche Vergebung gesprochen.

Auch eine Reihe von prominenten Juden haben angefangen, die Kirche in einem positiveren Licht zu sehen. Ob Israel als Ganzes je die Neuheit Christi innerhalb des bleibenden Bundes Israels sehen wird, hängt sehr vom Verhalten und der Theologie der Kirche ab.

Die Kirche spricht sehr gern und viel von Einheit und meint dabei doch oft Uniformität und Konformismus. Das ist deutlich bis in ihre jüngste Geschichte hinein. Sie hat jedenfalls mit Pluralität weit mehr Mühe als Gott. Es bleibt deshalb offen, ob Israel sich je auf eine enge Zusammenarbeit mit der Kirche einlassen wird. Paulus überläßt diese Frage Gott (Römer 11,33-35 mag seine Antwort auf die Verse 28-32 sein).

8.4 Mit unterschiedlicher Sicht leben

In seiner Ablehnung der Kirche und ihres Glaubens an Jesus Christus bietet das jüdische Volk der Kirche ein Zeugnis an. Zunächst ist dies ein negatives Zeugnis über die Neuheit Christi. Die Kirche könnte in dieser Ablehnung erkennen, daß sie Christus aus dem Bundeszusammenhang gerissen und damit verfälscht hat. Verfälscht dargestellt hat er einen Bundesbruch verursacht. Dieses Zeugnis Israels an die Kirche ist aber zugleich auch positiv im Blick auf die Fortsetzung des bundesmäßigen Zusammenhang, in dem Jesus Christus steht. Die Juden erinnern die Kirche daran, daß Jesus ein Jude war, ein Israelit, treu dem Bund gegenüber und nur in diesem Zusammenhang erkennbar. Durch seine bloße Existenz hilft das jüdische Volk der Kirche bei ihrer Christologie.

In ihrem Ausblick teilen die Kirche und Israel wichtige Aspekte eines gemeinsamen Ziels — der Herrschaft Gottes auf der Erde in Frieden und Gerechtigkeit. Doch sie haben keine gemeinsame Anschauung des Ziels noch des Wegs, der dorthin führt. Israels Ziel hat seine Mitte in der Wiederherstellung Israels, während die Kirche auf die Gestalt Jesu Christi zielt. Die Kirche und Israel müssen in gegenseitiger Aufmerksamkeit miteinander leben, nicht nur koexistieren. Im Gespräch mit den Juden muß sich die Kirche allerdings davor hüten, ihre Christologie dem Judentum gefällig zu machen. Sie kann nur die Wahrheit über Jesus von Nazareth sagen, wie sie von ihr erfahren wird. Wenn Juden in seinm Reden über ihn in Anspruch nehmen, ebenfalls die Wahrheit zu sagen, dann stehen sich widersprechende Wahrheitsansprüche gegenüber.

Muß die Wahrheit nun eine Einheit sein? Glaubende mögen zwar meinen, die Wahrheit zu sagen, aber in Wirklichkeit geben sie immer nur ein Glaubensbekenntnis ab oder sprechen von einer Glaubensbindung. Wenn sie nun sagen, sie stünden im Widerspruch zueinander, dann sagen sie im Grunde nur, daß sie Glaubende sind — Juden und Christen. Die Wahrheit sagen ist für jeden von ihnen ein Treuebekenntnis zu dem besonderen Weg, auf den sie sich gerufen wissen. Wahrheit mag zwar eins sein, wie Gott eins ist, aber Juden und Christen sind in ein jeweils anderes Verhältnis zu dem einen Gott berufen worden.

Wenn die Kirche für Jesus den Titel "Messias" gebrauchte, dann betonte sie damit die Fortdauer der Geschichte und des Bundes Israels. Die Hauptaufgabe des Messias war ja doch die Wiederherstellung des Reiches Israel (Apostelgeschichte 1,6). Nachdem dies nicht zustande kam, mußte die Kirche nun nicht nur der Rolle des Messias, sondern auch den Verheißungen und der Hoffnung Israels neuen Inhalt geben. Mit ihrem Messiastitel betonte die Kirche also einerseits den Fortbestand des Verhältnisses zwischen Jesus und Israel, andererseits widersprach sie ihm. Ein Beispiel dafür ist die Lehre von der numeri christi, von den drei Ämtern (König, Priester und Prophet), die besonders in den reformierten Kirchen eine Rolle spielt. Diese Titel mußten dann natürlich ihres jüdischen Gehalts entleert und mit völlig neuen Bedeutungen gefüllt werden. (Siehe Karl Barths Christologie).

Paulus hat besser gezeigt, wie das Bleibende zwischen Jesus und Israel beschrieben werden kann. Er sagt: "Christus (bei Paulus eher Name als Titel) ist ein Diener der Beschneidung (vielleicht ein Ausdruck für "Bund") geworden für die Wahrheit (oder Treue) Gottes, zu bestätigen die Verheißungen der Väter, daß die Völker Gott verherrlichen für sein Erbarmen" (Römer 15,8-9). Eine solche Aussage ist nicht nur weniger problematisch, sondern weit stärker als der frühe Gebrauch des messianischen Titels, der uns in den Evangelien überliefert ist, wenn es darum geht, die Fortdauer der Geschichte Gottes mit Israel, Christus und der Kirche zu beschreiben.

Sie ist stärker, weil sie das Bleibende dreifach sichert:

1. Christus selbst stand im Dienst seines eigenen Volkes als treuer Jude;

2. Er stand im Dienst der Treue Gottes, die durch ihn deutlich wird;

3. Dies geschah zur Bestätigung der Verheißungen Gottes.

Und schließlich kommt zu alledem noch hinzu, daß die Nichtjuden in dieses Bleibende hineingezogen werden. Sie verherrlichen nun Gott ebenfalls darüber, daß das Erbarmen, das Gott Israel bleibend erweist, auch ihnen zugänglich gemacht wurde.

Das Thema der Neuheit Christi wird gewöhnlich in der Vergangenheitsform besprochen. Was hat sich durch ihn verändert? Geschichte kann nicht nur auf Gegenwartsfragen, auf sogenannte "existentialistische" Anliegen reduziert werden. Aber soweit Geschichte das Leben und den Glauben der Kirche betrifft, muß mit dem Heute als einem Teil dieser Geschichte begonnen werden. Lebendiger Glaube beginnt in der Gegenwart, schaut voraus auf die Zukunft und erzählt dann neu die Vergangenheit.

Die Neuheit der gegenwärtigen Kirche mag schwer zu erkennen sein, denn sie nimmt sich als selbstverständlich an. Aber ist es wirklich so selbstverständlich, daß unzählige Nichtjuden überall in der Welt den Gott des winzigen jüdischen Volks anbeten? Muß es nicht in Erstaunen versetzen, daß typisch "jüdische Werte", die großen Themen von Friede, Recht, Barmherzigkeit und Vergebung, welche die Kirche von Israel lernte, von vielen hundert-millionen Nichtjuden in allen Ländern zumindest anerkannt werden? Um wessen Neuheit geht es hier, wenn nicht um die Christi? "Alles ist euer (einschließlich alles dessen, was Israel gehört), ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes (oder: weil ihr Christi seid und weil Christus Gottes ist)" 1. Korinther 3:23).

Dann muß die radikale Neuheit Christi in der Gegenwart erwähnt werden, die sich in der Anziehungskraft einzelner zeigt, deren Leben Christus gleichgestaltet ist. Wir sehen Liebe, Vergebung, Erbarmen, Gerechtigkeit in Menschen, deren egozentrisches Leben durch ihren Glauben an Christus verwandelt wurde.

Auch gewisse gesellschaftliche und ökonomische Strukturen, sowie gewisse politische und rechtliche Institutionen tragen Zeichen der Neuheit Christi. Sicher, Verbesserungen aller Art können auch auf den Einfluß des Judentums und eines heidnischen Humanismus zurückgeführt werden. Dennoch gibt es eine Neuheit im menschlichen Verhalten, welche deutlich die Zeichen des Kreuzes und der Auferstehung, der Gleichnisse vom verlorenen Sohn und vom barmherzigen Samariter tragen.

Es ist eine neue Weise, in der der ewige Gott bei der Schöpfung und für die Schöpfung gegenwärtig ist. Wenn die Kirche dies bekennen will, dann spricht sie charakteristischerweise von Jesus Christus als vom ewigen Sohn des Vaters.

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9 Ewiger Sohn

Das apostolische Zeugnis über Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi stellt Gott dar als hinter diesen Ereignissen stehend und in ihnen handelnd, um darin Gottes Bund zu bestätigen. Diese Spannung zwischen Gottes Einmischung in die menschliche Geschichte einerseits und dem Darüber-und-dahinter-Stehen andererseits spiegelte sich wider in der Auseinandersetzung der Kirche über das Bekenntnis zu Jesus Christus als ewigem Sohn. War die Einmischung des Schöpfers in den notvollen Weg der Schöpfung wirklich Gottes Einmischung (das Anliegen der Bischöfe um Athanasius)? Hat Gott sich wirklich eingemischt (das Anliegen derer um Arius)? Eine Christologie des jüdisch-christlichen Verhältnisses muß deutlich machen, daß es bei alledem um die bundesmäßige Selbstbestimmung Gottes geht, und daß Gott es mit dem Weg des Bundes in der menschlichen Geschichte ernst meint.

9.1 Die Spannung im Zeugnis

Das Spannungsverhältnis zwischen der direkten und der indirekten Einmischung Gottes in den geschichtlichen Weg der Schöpfung ist im Zeugnis der apostolischen Schriften ähnlich wie in den Schriften Israels. Gott handelt zum Beispiel bei der Schöpfung direkt (1. Mose 1,2). Gott handelt dagegen nur indirekt, wenn der Wind das Rote Meer teilt (2. Mose 14,21). Die Geschichten des indirekten Eingreifens Gottes machen immer deutlich, daß Gott hinter den Ereignissen als Verursacher steht, obwohl die Ereignisse selbst sich entfalten, als ob sie ausschließlich die Folge menschlicher Absichten wären. Das ist so in den Erzählungen von der Verhaftung, der Verurteilung und Kreuzigung Jesu. Die beiden Muster des direkten und indirekten Eingreifens Gottes scheinen sich gegenseitig auszuschließen, aber sie überschneiden sich und wirken ineinander. Sie können zum Verständnis des Zeugnisses über Jesus den ewigen Sohn Gottes beitragen.

Nirgendwo in den apostolischen Schriften selbst wird Jesus Gott genannt, dennoch wird seine Geschichte als die Geschichte Gottes erzählt. Sein Erscheinen ist der Besuch Gottes zur Erlösung des Volks (Lukas 1,68ff.). Er tut, was nur Gott tun kann und nur Gott das Recht hat zu tun. Er wirkt "durch den Finger Gottes" (Lukas 11,20), seine Taten sind Gottes Taten, seine Worte Gottes Worte (Markus 2,5-12; Matthäus 9,2-8; Lukas 5,18-26).

Nur Johannes 1 sagt, daß dieser Mensch das "Wort Gottes" ist, aber verglichen mit anderen Stellen, meint dieses "das Wort wurde Fleisch" (Vers 14) nichts anderes, als daß Gott in Jesus und durch ihn am Werk ist. Wenn immer Menschen Jesus begegneten, wurden sie von Gott selbst konfrontiert.

Es gibt eine Aussage im Johannesevangelium, die scheinbar weitergeht. Als der Auferstandene seinem Jünger Thomas begegnete und ihn herausforderte, bekannte dieser: "Mein Herr und mein Gott" (20,28). Doch unmittelbar auf diese Geschichte folgt (Vers 30) die zusammenfassende Erklärung, daß diese Dinge niedergeschrieben wurden, damit die Leser glauben, daß Jesus der Sohn Gottes ist. Das wiederholt die Aussage des Prologs im ersten Kapitel, Jesus ist der "einzige Sohn", der Gott bekannt gemacht hat (1,18). Für die apostolischen Zeugen Jesu ist er der Sohn Gottes. Aber der Sohn ist für sie nicht etwa zugleich der Vater. Wer den Sohn gesehen hat, hat auch den Vater gesehen (14,9), denn der Sohn ist "im" Vater und der Vater ist "im" Sohn (14,10-11). Das heißt nichts anderes, als daß Gott selbst in diesem Menschen gegenwärtig ist. Im Ereignis Jesu Christi ist der Bundesgott in die geschöpfliche Situation des Bundespartners eingedrungen wie nie zuvor. In diesem Ereignis wird das Bleibende sichtbar, ohne Frage aber auch das Neue. Nach diesem Ereignis wird der Bund nicht mehr genau so sein, wie er vordem war — weder für Gott noch für Israel.

Das apostolische Zeugnis erzählt die Jesusgeschichte als Geschichte, die sich nach dem Willen Gottes als ihrem verborgenen Ursprung entfaltet. Die Geschichte Jesu wird nicht als Handeln Gottes berichtet. In den Passionsgeschichten wird Gott nicht dargestellt als direkt Handelnder in der Geschichte, sondern nur als hinter ihr stehend.

"In" und "hinter" der Geschichte sind natürlich nur Metaphern. Jesus gebrauchte die Metapher "Vater" für Gott und seine Nachfolger die Metapher "Sohn" für ihn selbst. Ob nun "Sohn Gottes" die Gegenwart Gottes in ihm beschreibt oder das innige Verhältnis, das zwischen Jesus und Gott bestand — es geht immer nur um bildliche Ausdrücke, die das Vertrauen der Kirche aussagen wollen, daß alles, was Jesus tat und was ihm angetan wurde, von Gott kommt, daß er uns so nah zum Herzen Gottes bringt, wie es nur immer möglich und nötig ist. In den Metaphern "Vater" und "Sohn" wird die Innigkeit des Bundesverhältnisses so umfassend ausgedrückt, wie es in menschlicher Sprache nicht besser möglich wäre.

Der unsichtbare, verborgene Gott macht sich sichtbar in historischen Ereignissen, um unsere geschöpfliche Vorstellungskraft für die Wirklichkeit der Liebe, des Rechts und des Erbarmens Gottes zu öffnen. Das Bekenntnis der Kirche ist dem Jakobs in Bethel gleich: "Der Herr ist an diesem Ort.... Hier ist nichts anderes als Gottes Haus" (1. Mose 28,16-17). So erfährt sie es in der Begegnung mit Jesus: Dieser Ort, dieser Augenblick, diese Person — hier ist Gott! Wie kann man so reden, was für eine Sprache ist dies? Sowohl Israel als auch die Kirche sind zutiefst durch solches Reden bestimmt.

Israel ist im Sinaiereignis gegründet. Es ist auch für die Kirche wichtig, denn ohne Israel wären auch Jesus und die Kirche nicht denkbar. Die Kirche aber ist auf das Jesusereignis gegründet. Er und er allein — allerdings in seinem Zusammenhang mit Israel — ist die Person, durch welche die Kirche sich der Gegenwart, des Anspruchs und der Gabe des Gottes Israels bewußt wird.

Die Bezeichnung "Gottes Sohn" war zunächst das Bekenntnis derer, die von der Unmittelbarkeit der gütigen Gegenwart Gottes in Jesus direkt betroffen waren. Als diese Bekenntnissprache allmählich in Lehre verwandelt wurde und die Redenden nicht mehr in der Gegenwart Gottes Betroffene waren, wurde die Bedeutung dieser Bezeichnung zum Streitpunkt innerhalb der Kirche.

9.2 Die Auseinandersetzung mit Arius

Den Arianern ging es darum, das Leiden und die Kreuzigung Christi als das Leiden und die Kreuzigung Gottes darzustellen. Dazu mußte Jesus zwar göttlich sein, aber geringer als Gott selbst. Die Gegenseite um Athanasius sprach von Jesus als "wahrem Gott" und von "gleicher Wesenheit mit dem Vater". Eine derart exaltierte Redeweise gefährdete die Verfügbarkeit Christi, der rettende Gott zu sein, der in Christus Mensch wurde und für uns am Kreuz starb. In den Augen der Arianer schienen die Orthodoxen sich des Kreuzes zu schämen (siehe Robert C. Gregg, Arianism, Historical und Theological Reassessment. Philadelphia: The Philadelphia Patristic Foundation, 1985).

Arius und Athanasius waren sich offensichtlich darin einig, daß die "Patripassion", die Annahme, daß Gott der Vater, Schöpfer Himmels und der Erde, leiden könne, einer Gotteslästerung gleichkam.

Wenn man einerseits das apostolische Zeugnis ernst nehmen wollte, das sagt: "Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, daß Christus für uns gestorben ist" (Römer 5,8), und andererseits an dem Grundsatz festhielt, daß Gott nicht leiden kann, dann standen beide Parteien vor einem unlösbaren Problem.

Die Arianer meinten, die Lösung in der Vorstellung von zwei ungleichen göttlichen Personen gefunden zu haben. Der höchste Gott ist unfähig zu menschlichen Erfahrungen, darum überließ er das Leiden und Sterben dem, den er zu diesem Zweck als höchstes aller Wesen geschaffen hatte.

Die Orthodoxen um Athanasius sahen die Lösung des Problems in der Vorstellung von zwei wesensgleichen göttlichen Wesenheiten — "wahrer Gott vom wahren Gott". Aber natürlich mußte dann auch bei ihnen die zweite Wesenheit innerhalb der Gottheit von der Möglichkeit des Leidens ausgenommen werden. So litt letztlich auch bei ihnen nur noch der Mensch Jesus.

Wenn es den Arianern in erster Linie darum ging zu lehren, daß Gott am Leiden und Sterben Jesu zutiefst beteiligt war, dann wollten die Orthodoxen betonen, daß es Gott selbst war, der die Erlösung bewirkte. Nach ihnen hatte das ewige, schöpferische Wort Gottes zu diesem Zweck in der Inkarnation Menschennatur angenommen. Dennoch starb letztlich am Kreuz doch nur die menschliche Natur des Sohnes, denn das ewige Wort konnte ja nicht sterben. Was also für die Orthodoxen das Wichtigste war, nämlich daß Gott selbst Mensch wurde und für uns starb, umging im Grunde die Schande des Kreuzes. Damit hat es die Kirche bis heute zu tun.

Das Problem beider Parteien war, wie kann Gott leiden und sterben? Beide zogen also eine Linie zwischen der Wesenheit Gottes und der Erfahrung des Kreuzes. Die "Lösung" lag für die Arianer darin, daß sie die Linie zwischen Gott dem Vater und Gott dem Sohn zogen, aber damit die beiden nicht wesensgleich sein ließen. Die Orthodoxen machten Vater und Sohn zwar wesensgleich, aber sie zogen damit eine Linie zwischen dem Sohn Gottes und seinem angenommenen menschlichen Körper, zwischen der göttlichen und der menschlichen Natur Jesu. Damit gefährdeten sie entweder die Realität der Menschlichkeit Jesu oder aber die Einheit Jesu von Nazareth mit dem fleischgewordenen Sohn oder Wort Gottes.

Die orthodoxe Entscheidung, die im nizäischen Glaubensbekenntnis zum Ausdruck kommt, hat den jüdischen Zusammenhang, in dem Jesus steht, fast gänzlich außer acht gelassen. Das muß eine Kirche, die jetzt den Fortbestand des Bundes Gottes mit Israel anerkennen will, unbedingt bedenken. Der erste Satzteil des Glaubensbekenntnisses spiegelt die ersten Kapitel des Schöpfungsberichts wider, aber überspringt die gesamte Bundesgeschichte Israels. Im zweiten Satzteil werden wir durch eine Reihe von anti-arianischen Erklärungen des ewigen Sohnes geführt, der vom Himmel kam und Mensch wurde. Die zusammenfassende Erklärung der Geburt, des Leidens, der Kreuzigung, Auferstehung, Erhöhung und Wiederkunft in den folgenden Teilen enthält dann eine Erinnerung daran, daß der heilige Geist durch die Propheten sprach. Das ist alles, was das Glaubensbekenntnis über den Bund sagt. Hier ist der Zusammenhang Christi nicht mehr der des Bundes Gottes mit Israel, sondern der Weg des Sohnes Gottes auf die Erlösung der Menschheit hin, wobei diese Bewegung im Sein Gottes begründet wird.

Ist der allein nach dem Schöpfungsbericht und dem Prolog des Johannesevangeliums beschriebene Gott aber wirklich der Gott und Vater Jesu Christi, des Herrn der Kirche? Kann der Weg des Sohnes überhaupt verstanden werden ohne den Zusammenhang der Berufung Abrahams und seiner Nachkommen, des Bundes am Sinai, der Geschichte Israels bis hin zu seiner Besetzung und Unterdrückung durch Rom, als dessen Opfer Jesus gekreuzigt wurde? Ohne diesen Zusammenhang ist der Weg des Sohnes allen möglichen irrigen Darstellungen ausgesetzt, wenn er nicht überhaupt unverständlich bleibt. Das nizäische Glaubensbekenntnis ist nicht unbedingt falsch, aber es ist irreführend und für eine Kirche, die sich dem jüdisch-christlichen Verhältnis stellen will, unangemessen.

Beide Parteien zogen eine Linie zwischen Gott und dem Tod Jesu. Beide gingen von der Voraussetzung aus, daß Gott die Leiden des Geschöpfes nicht erfahren kann, denn Leiden schließt Veränderung ein und Gott kann sich nicht verändern. Eine solche Behauptung gehört in das Gebiet der Metaphysik, denn sie entstammt weder einem analytischen Denkprozeß noch empirischer Beobachtung.

Wenn es sich bei der genannten Voraussetzung also um eine metaphysische handelt, die nicht bewiesen werden kann, dann ist es logischerweise möglich, die gegenteilige Voraussetzung anzunehmen, nämlich einen Gott, der nicht nur einfach auf die Schöpfung einwirkt, sondern auch von ihr beeinflußt wird. Eine solche metaphysische Alternative eignet sich jedenfalls besser zum Verständnis des Bundes, in dem Jesus Christus steht, als die Vorstellung der Arianer und der Orthodoxen, daß Gott nicht leiden könne. Der Arianische Streit wäre möglicherweise nicht entstanden, wenn beide Seiten den Bundeszusammenhang Christi beachtet hätten.

Es ist damit deutlich gemacht, daß die Kirche in ihrer Christologie nicht neu zwischen Arianern und Orthodoxen entscheiden muß und daß das nizäische Glaubensbekenntnis zu kurz kommt, wenn es der Kirche um die Anerkennung des fortbestehenden Bundes Gottes mit Israel geht. In ihm erscheint Jesus nicht mehr als Jude inmitten seines Volkes, sondern als menschlicher Körper des fleischgewordenen ewigen Sohnes Gottes. Es scheint die nizäischen Väter nicht interessiert zu haben, daß der Körper Jesu ein jüdischer war, oder daß der Titel "Sohn Gottes" sich in der Schrift auf Israel bezog. Sie hoben Jesus von Nazareth aus dem jüdischen Zusammenhang heraus und setzten ihn in einen philosophisch-metaphysischen Zusammenhang, der mit der Schrift selbst nichts mehr zu tun hatte.

Der arianische Streit macht deutlich, daß der Zusammenhang, in dem Jesus Christus gesehen wird, aufs Innigste verknüpft ist mit unserem Gottesbegriff. Die Christologie der Kirche muß vom ewigen Sohn Gottes so reden, daß ein Gottesbild entsteht, das in der Geschichte des Lebens Israels mit seinem Gott begründet ist.

9.3 Gott hat sich als Bundesgott bestimmt

Der Gott Israels, der einzige Gott, den Israel kennt und den Jesus Vater nannte, hat sich selbst im Verhältnis zur Schöpfung bestimmt. Das weiß Israel durch den Bund, den Gott mit ihm geschlossen hat. Israels Schöpfungsbericht kann historisch als Produkt seiner eigenen Bundeserfahrung, seines eigenen Lebens im Bund mit Gott, verstanden werden. Wer immer Gott "am Anfang" gewesen sein mag, Israel kennt Gott nur als Gott, der sich an Israel gebunden hat zum Heil der gesamten Schöpfung. Was immer Gottes universelle Absichten sein mögen, Gott hat sich selbst bestimmt, sie in der Bindung an dieses besondere Volk und seine besondere Geschichte durchzuführen. So kennt ihn Israel, so nur kannte ihn Jesus und so kennt ihn die Kirche. Der Gott Israels, Jesu Christi und der Kirche hat sich selbst beschränkt.

Damit ist nun nicht etwa ein Exklusivitätsanspruch für Gottes Hinwendung zu Israel und zur Kirche erhoben. Die Selbsteinschränkung Gottes hat ja schon mit der Schöpfung begonnen.

Die Kirche erkennt am Ende dieses Jahrhunderts mehr und mehr den Wert anderer Kulturen und Religionen und ihrer besonderen zeitbewährten Traditionen. In Verbindung damit stellt sich die Frage nach dem Verhältnis Gottes zu diesen Kulturen und Traditionen. Damit ist eine neue Situation gegeben, für die sie nur wenig Anleitung in ihren Schriften findet. Aber wie immer sie auch ihr Verhältnis zu diesen anderen Traditionen bestimmen mag, sie wird von dem ausgehen müssen, was sie von Israel gelernt hat, nämlich, daß Gott sich historischer Gemeinschaften bedient und sich an sie bindet, um die göttlichen Absichten mit der Schöpfung zu verwirklichen.

Wenn die Kirche das Verhältnis zwischen Gott und Jesus überdenkt, ist es ihr durch Israels Zeugnis, in dem Jesus selbst lebte, verboten, mit so allgemeinen Begriffen zu arbeiten wie "Gott und Mensch", oder "das Göttliche und das Menschliche", es sei denn, diese Begriffe seien verankert in dem besonderen Zusammenhang, in dem der sich einschränkende Gott sich Israel und der Kirche zu erkennen gegeben hat.

Durch fast ihre ganze Geschichte hindurch hat die Kirche nicht beim Zusammenhang Jesu mit Israel angefangen. Und selbst wenn heute in der Kirche viel vom "Judentum Jesu" und darum sogar vom "Judentum Gottes" die Rede ist, dann wird doch der Selbsteinschränkung Gottes wenig Beachtung geschenkt. So wird eine Christologie angeboten, die nichts anderes als Anthropologie ist. Oder Christus wird zum theologischen Symbol dafür gemacht, daß jedes menschliche Wesen Göttliches in sich trage und die ganze menschliche Familie gesund werden könne, weil Menschen im Tiefsten ihres Bewußtseins durch Jesus von der Menschlichkeit Gottes berührt würden. Die Kirche sollte derartige Spekulationen und verallgemeinernde universelle Aussagen über menschliche Möglichkeiten lieber andern überlassen. Auch das Spekulieren über "anonyme Christen" (Karl Rahner) in nichtchristlichen Traditionen ist sehr fragwürdig.

Durch sein Verhältnis mit Israel hat sich Gott eingeschränkt. Aber auch Israel ist durch sein Verhältnis mit Gott eingeschränkt. Weder Gott noch Israel können ohne den anderen sein, denn Israel ist Israel nur, weil es einen Bund mit Gott eingegangen ist und Gott hat sich selbst bestimmt durch Bindung an dieses Volk. Wenn nun Gott sich in Jesus neu in die Geschichte verwickelte, dann war das vorherbestimmt durch Gottes Bund mit Israel, in das Jesus hineingeboren wurde. Wenn Christus "theologisches Symbol" sein soll, dann ist er Symbol im Rahmen oder im Symbolsystem Israels. Es ist aber vorzuziehen, von einem Ereignis zu sprechen, denn es geschah etwas zwischen dem bereits bleibend in die Geschichte Israels verwickelten Gott und einer Person in diesem Volk, das bereits mit Gott verwickelt war. Johannes 1,14 würde im Schriftzusammenhang so zu lesen sein: "Das Bundeswort des Bundesgottes wurde Fleisch und wohnte unter uns im Bundesvolk."

Gottes Verwicklung mit Israel kennt keine Grenzen. Gott ruft Israel immer wieder zu sich, sogar noch als Tal ausgedörrter Knochen (Hesekiel 37). Gott ist mit Israel verbunden als der Heilige in Israel. Gott spricht aus dem Sturm. Israel spricht von Gott in Ehrfurcht und mit Zurückhaltung, und das trotz des Bundesverhältnisses. Was immer in Gott sein mag, das nicht in den Bund verwickelt ist, liegt im Dunkeln, aber es ist kaum denkbar, daß es nicht ebenfalls vom Bundesverhältnis berührt wäre. Wo Gott sich einbringt, da ist Gott gegenwärtig, auch wenn es niemand weiß. Sowohl für Israel als auch für Gott bedeutet der Bund auch Leiden.

Gottes Bindung an die Geschöpfe, die schon in der Schöpfung selbst begründet ist, wird im Bund mit Israel eindeutig. Gott hat sich selbst bestimmt, bei Israel zu sein in guten wie in schlechten Tagen, und das schließt Israels Leiden ein, ob es nun durch eigenes Versagen oder die Schuld seiner Feinde hervorgerufen wird. Hier wird das Bundesverhältnis besonders deutlich: Gott weint mit den Weinenden und ist verletzt mit den Verletzten. Gott "kennt" das Elend des Volkes, das heißt, Gott nimmt daran teil (2. Mose 3,7). "Wer euch antastet, tastet meinen Augapfel an" (Sacharja 2,12). Israels Gott, der Gott und Vater Jesu Christi, leidet mit.

Die Kirche hat das Leiden Gottes in erster Linie im Mitleid und Leiden des einen Juden gesehen, den Gott gebraucht hat, die Nichtjuden zu sich zu ziehen. Sie darf den Fehler der Arianer und der Orthodoxen nicht neu begehen, die beide zwischen Gott und dem Kreuz eine unüberbrückbare Kluft schufen. Das Johannesevangelium weiß von keiner solchen Kluft: Wer immer diesen leidenden Juden aus der galiläischen Stadt Nazareth gesehen hat, den die Römer an ein Kreuz genagelt haben, hat den Vater gesehen (Johannes 14,9), nicht eine Person wesensgleich mit dem Vater, nicht einen geschaffenen Gott, sondern den Vater Israels und Jesu Christi.

So gibt sich Gott der Kirche zu erkennen. Wenn sie nun darauf anbetend und angemessen antwortet mit dem Bekenntnis: "Mein Herr und mein Gott!" (Johannes 20,28), dann kann sie nicht meinen, Jesus selbst sei etwas anderes als ein Mensch. Welcher Jude, ganz gleich wie begeistert er von seinem Rabbiner gewesen sein mag, hätte je einen Mitjuden als Gott angebetet! Es ist sehr irreführend von einer Gottheit Jesu zu reden. Das Johannesevangelium fordert ein viel stärkeres Bekenntnis heraus, als Jesus einen Gott–Menschen zu nennen. Im Gegenteil, er ist ein durch und durch jüdischer Mensch, als Gekreuzigter das Opfer einer willkürlichen und grausamen Besatzungsmacht. Und er ist nicht anders Jude als alle Mitjuden, die in den Todeslagern umgebracht wurden.

Das Johannesevangelium fordert die Kirche zu dem Wagnis heraus, diesem Mann als Weg zu vertrauen, auf dem der leidende Vater Israels und aller Schöpfung ein völlig neues Kapitel in der Geschichte seiner Verwicklung in menschliche Angelegenheiten eröffnet hat, das schon Abraham versprochen worden war. Wenn die Kirche dieses Wagnis eingeht, dem Gekreuzigten als Ausdruck des mitleidenden Gottes zu vertrauen, dann wird sie ihre Selbstbestimmung in ihm finden. Wichtiger noch ist vielleicht, daß sie es Gott erlaubt, sich selbst im Gekreuzigten zu bestimmen. Bei aller Neuheit, die diesen einen Juden zum Weg der Völker macht, handelt Gott doch in völliger Überseinstimmung mit dem Bundesverhältnis Israels, das bis heute besteht.

9.4 Der Ernst des Bundes

"Das Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht zu hoch und nicht zu fern. Es ist nicht im Himmel, daß du sagen müßtest: Wer will für uns in den Himmel fahren und es uns holen, daß wir"s hören und tun? ... Denn es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, daß du es tust" (5. Mose 30,11-14). Dieses entscheidend wichtige Tora-Wort über die Tora bedeutete für die Rabbiner, daß nicht nur die Tora selbst Israel übergeben war, sondern auch ihre Auslegung. Der Bundespartner Gottes hat die Freiheit und Verantwortung zu entscheiden, wie Gottes heiliges Wort zu verstehen ist, und so wie es auf Erden entschieden wird, so soll es im Himmel sein. Gottes Wort soll nun in Menschenworten ausgedrückt werden. Der Bund soll durch Geschöpfe in der geschaffenen Welt gestaltet werden.

Gott erwartet von Israel, daß es den Bund auf seinem Weg mit Gott ausgestaltet. Gottes Handeln geht zwar allem voran — Gottes Wort, Anruf, Erwählung — doch es ist Israels Antwort, seine Reaktion darauf, die das Leben des Bundes entscheidet und Gottes Absichten fördert oder hindert.

Auch in den apostolischen Schriften geht der Anruf Gottes an Jesus und an die apostolischen Gemeinschaften allem anderen voraus. Aber es geht in ihnen dann doch in erster Linie zuerst um die Antwort und Reaktion Jesu selbst, dann um die seiner Nachfolger und der apostolischen Gemeinschaften, denen der Gehorsam Jesu zum Anruf Gottes wurde, auf den sie ihrerseits antworteten. Das Bundesmuster von Anruf und Antwort, oder Gebot und freiem Gehorsam hilft uns, das Bekenntnis der frühen Kirche zu Jesus als dem ewigen Sohn Gottes zu verstehen.

Der Ausdruck "Sohn Gottes" war den Nachfolgern Jesu geläufig. Er hat mit dem Bundesverhältnis zu tun. Sohn Gottes war zunächst Israel selbst, dann auch die herausragenden Persönlichkeiten, die Israel vor Gott vertraten: König, Hoherpriester und vielleicht auch der messianische König seiner Wiederherstellung.

Die Kirche bekennt nun aber Jesus nicht nur als einen unter vielen Söhnen Gottes, sondern als Gottes besonderen Sohn, dessen Antwort auf Gottes Anruf und Israels Berufung zu einem großen Sprung nach vorn innerhalb der Bundesgeschichte führte. Seine jüdischen Nachfolger sahen ihn offenbar als den, der in freiem Gehorsam alles das verkörperte, was Israels Leben im Bund mit seinem Gott schon immer hätte sein können. Für sie personifizierte er die Bundestreue Israels, so daß sie Israel an ihm maßen, statt umgekehrt, ihn an Israel zu messen. Von ihm lernten sie, was es bedeuten konnte, Gottes Sohn zu sein.

Die Nachfolger Jesu bekannten ihn aber nicht nur als Sohn Gottes, sondern als Gottes ewigen Sohn. Es ist kaum denkbar, daß sie meinten, der Jude Jesus von Nazareth sei ewig. Wenn "ewig" bedeutet, daß der Zeitfaktor ausgeschaltet ist, dann meinten sie, daß Gottes Verhältnis zu allem, was Jesus von Nazareth betrifft, so tief ist, daß Gott es schon immer — von Ewigkeit her — im Herzen gehabt haben muß. Für die Kirche verkörpert Jesus nicht nur die Antwort, sondern — weil sie glaubt, daß die Antwort ganz dem Anruf entspricht — zugleich auch den Anruf. Der freie Gehorsam Jesu ist der sichtbar gemachte Anruf Gottes. Sie glaubt in Jesus das Herz, die ewigen Absichten Gottes zu sehen. "Wer mich sieht, sieht den Vater" (Johannes 14,9).

Nach dem Zeugnis der Schriften Israels und der apostolischen Schriften ist der Bund nicht nur etwas, daß Gott gewirkt hat und darum zweitrangige Bedeutung hätte. Das Bundesmäßige gehört zu Gottes Wesen nicht anders als das Schöpferische. Gott ist immer Schöpfergott und Bundesgott zugleich. Gott hat sich nie geoffenbart als Wesen–an–sich, sondern immer nur in einem Verhältnis zur Schöpfung stehend, als Liebe und Gnade, als sich–selbst–gebend und sich–selbst–bindend an die geschaffenen Partner, als zu ihnen redend und auf sie hörend.

Wenn die Kirche Jesus als Sohn oder Wort Gottes bezeichnet, dann redet sie von dem Menschen, dem Juden Jesus, der das Bundeswesen Gottes durch sein partnerschaftliches (oder bundesgemäßes) Leben und Handeln sichtbar machte. Dadurch macht sie Jesus gerade nicht zu einem Gott, sondern läßt ihn das Gegenüber Gottes innerhalb des Bundes Israels bleiben, durch den auch die Nichtjuden auf ihre eigene Weise in den Bund hineingezogen werden.

Die Berufung Jesu unterschied sich nicht von der Abrahams oder Israels. Der Unterschied liegt darin, daß Jesu freier Gehorsam, seine Antwort auf die göttliche Berufung den Weg darstellt, auf dem die Nichtjuden in den Bund Gottes mit Israel kommen können. Durch ihn allein hat ein neues Kapitel in der Geschichte des Bundes begonnen, das schließlich als Kirche bezeichnet wurde. Darin besteht die Einzigkeit und Einzigartigkeit dieses Sohnes Gottes, die er mit keinem anderen Menschen teilt. In diesem Sinn ist Jesus der "Eingeborene des Vaters".

Es ist verständlich, daß Israel und die Kirche auf Jesus ganz unterschiedlich reagieren. Für Israel ist das neue Kapitel allenfalls ein Anhang zu seiner Geschichte. Es berührt sein eigenes Leben mit Gott nicht direkt. Indirekt aber hat es mit ihm zu tun, mit dem Wirken seines Gottes und der Durchführung eines wichtigen Teils seiner Berufung, ein Segen der Nationen zu sein. Für die Kirche dagegen war das neue Kapitel der Beginn ihres Lebens. Für sie ist Jesus Gottes einziger Sohn, der einzige, der in seiner Berufung und seiner Antwort darauf das alleinige Fundament der Kirche ist. Für Israel mag Jesus vielleicht ein herausragender Sohn unter vielen Söhnen sein. Für die Kirche ist Jesus der eingeborene Sohn Gottes.

Die Kirche glaubt mit Israel, daß jeder Mensch durch die Gnade Gottes Sohn oder Tochter Gottes sein könnte. Aber für die Kirche ist das nur möglich, indem Menschen Brüder und Schwestern Jesu werden. Für sie ist Jesus als Sohn Gottes niemals nur ein Symbol oder ein Beispiel für die Möglichkeiten jedes Christen oder gar allgemein jedes Menschen. Er ist für sie die Tür und der Weg zum Bundesverhältnis von Nichtjuden mit dem Gott Israels. Darum ist Jesus für sie nicht nur ein Sohn Gottes, auch nicht Symbol potentieller Kindschaft aller Menschen, sondern Gottes eingeborener Sohn.

Eingeborner Sohn bezieht sich also auf die völlig einmalige Berufung Jesu und auf seinen völlig menschlichen, jüdischen, freien Gehorsam dieser Berufung gegenüber. Würde die Kirche in ihrer Christologie sich nur mit Jesus von Nazareth und seinem Verhältnis zu Gott beschäftigen, dann müßte sie sich allein auf den Dienst Jesu an Israel beschränken — an den Verlorenen Israels. Aber es geht ihr um weit mehr, nämlich um die Folgen des Lebens Jesu für die Völkerwelt. Die Christologie der Kirche ist immer ein Bekenntnis Gottes, den sie allein durch Jesus Christus erfahren hat. Wenn sie vor Gott steht, steht sie in der Gegenwart Christi, und wenn sie sich Christus vergegenwärtigt, ist sie in die Gegenwart Gottes gestellt. Ihr Bekenntnis bezieht sich darum auf die göttliche Berufung Jesu und auf seine Antwort auf diese Berufung, wie sie sich in der Berufung von Nichtjuden zum Bundesleben neben Israel auswirkt.

Wie gesagt, für Israel kann Jesus ein herausragender Sohn neben anderen sein. Und immer mehr Juden haben sich in letzter Zeit zu ihm als Sohn Israels bekannt. Mehr kann er für Israel nicht sein. Im Verhältnis zu ihm war er nur berufen, es zu vertiefter Bundestreue anzuhalten. Weil aber durch ihn außerhalb von Israel Nichtjuden, die dem Gott Israels fern waren, in ein Bundesverhältnis (ein Kindschaftsverhältnis) mit dem Gott Israels gebracht wurden, muß die Kirche Jesus als Gottes eingeborenen Sohn bekennen.

Editorische Anmerkungen

Copyright © 1988 Paul M. van Buren