Christlicher Antijudaismus als religiöse Form des Antisemitismus

Vortrag an der Evangelischen Hochschule Freiburg am 2. Mai 2018. Die mündliche Gestalt des Vortrags ist so weit als möglich beibehalten.

Am 26. April 2001 schreibt die Evangelische Kirche in Baden folgende Sätze in ihre Grundordnung:

»Die Evangelische Landeskirche in Baden will im Glauben an Jesus Christus und im Gehorsam ihm gegenüber festhalten, was sie mit der Judenheit verbindet. Sie lebt aus der Verheißung, die zuerst an Israel ergangen ist, und bezeugt Gottes bleibende Erwählung Israels. Sie beugt sich unter die Schuld der Christenheit am Leiden des jüdischen Volkes und verurteilt alle Formen der Judenfeindlichkeit.«

Solche Sätze verstehen sich nicht von selbst. Ein weiter, weiter Weg durch die Jahrhunderte musste gegangen werden, bis derlei Aussagen als theologische Grundlagen der Kirchenverfassung sozusagen ganz weit vorne verankert werden konnten.

Die kirchliche Diktion im Blick auf das Judentum klingt über 20 Jahrhunderte hinweg sehr anders. Sie ist geprägt von einer Haltung, die wir als theologisch motivierte Judenfeindschaft verstehen können. Mit dem Begriff des Antijudaismus ist die pauschale Ablehnung des Judentums aus überwiegend christlich-religiösen Motiven bezeichnet. Der Duden weist den Begriff des Antijudaismus als traditionelle Form der Judenfeindschaft aus, als »Vor- und Nebenform des Antisemitismus«[1].

Antijudaismus durchzieht die Geschichte des Christentums seit den Anfängen. Er begleitet die Trennung des Christentums vom Judentum nach der Tempelzerstörung im Jahr 70, seinen Aufstieg zur Staatsreligion des Römischen Reiches im 4. Jahrhundert und weiter durch die Zeiten hindurch. Im nationalsozialistischen Judenhass schließlich gipfelt eine für die Juden mörderische Instrumentalisierung des kirchlichen Antijudaismus.

Die fatale Logik hinter der antijudaistischen Haltung ist einfach: Dass die meisten Juden Jesus Christus nicht als den Messias und Sohn Gottes annehmen können, bedeutet für die frühe Kirche so etwas wie die Infragestellung ihres Wahrheitsanspruchs. Das schiere Dasein von Jüdinnen und Juden, die an ihrem Glauben festzuhalten gedenken, wird als Angriff auf das Christentum verstanden, kam doch der Herr selbst aus dem Volk Israel und wollte zeitlebens nirgendwo sonst wirken. Jüdinnen und Juden wurden daher seit dem 4. Jahr - hundert und den folgenden Jahrhunderten im christlichen Europa rechtlich, sozial und ökonomisch benachteiligt, ausgegrenzt und verfolgt, vertrieben und vielfach ermordet. Dies wiederum galt dem christlichen Verständnis als Beleg für die Strafe oder den Fluch Gottes für die angebliche Verstockung oder Gotteslästerung der Juden.

Der christliche Antijudaismus bewegt sich seit seinen Anfängen natürlich nicht im luftleeren Raum; er unterfüttert überkommene judenfeindliche Stereotype mit einer Ideologie, die aus der Bibel hergeleitet, in gesamtkirchliche Lehren integriert und so zu einem kulturellen Dauerphänomen in der Geschichte Europas wurde. Die christliche Judenfeindschaft ist mehr als eine weitere Spielform des Antisemitismus – sie hat Basisfunktion für alles Spätere. Ohne den kirchlichen Antijudaismus wäre der moderne, ab etwa 1800 aufkommende nationalistische, sozialdarwinistische und rassistische Antisemitismus nicht entstanden. Umgekehrt sollte darum klar sein, wie wichtig die Überwindung des christlichen Antijudaismus ist für eine Überwindung des Antisemitismus überhaupt.

Schauen wir uns im Folgenden einige Stationen aus der Antijudaismusgeschichte etwas genauer an:

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Spannend ist die Frage, inwieweit das Gründungsdokument der christlichen Kirche, das Neue Testament selbst, antijudaistische Züge trägt. Die Autoren der Schriften des Neuen Testaments sind fast alle Juden und verstehen sich als Angehörige des Judentums. Sie setzen die Gültigkeit der Gottesbeziehung zum Volk Israel voraus und sehen den Juden Jesus von Nazareth zunächst einmal innerhalb dieser Bundesgeschichte als Bestätigung für die Beziehung des einen Gottes zu seinem erwählten Volk. Innerhalb dieser Bundesbeziehung verorten die Evangelien die Wirksamkeit Jesu von Nazareth – sozusagen mit Relevanz für die heidnische Völkerwelt. Jesus Christus wird verkündigt als derjenige, der sein Leben zur Versöhnung Gottes mit seinem Volk und mit allen Menschen gegeben hat. Kreuz und Auferweckung Jesu sind also zunächst einmal von jüdischen Menschen mithilfe von jüdischen Vorstellungen gedeutete Erfahrungen.

Auch Paulus von Tarsus, Begründer der Völkermission, sieht Jesu stellvertretende Schuldübernahme in der Linie der Bundesgeschichte Gottes mit Israel. Das Christusgeschehen ist ihm Erfüllung im Sinne von Bekräftigung des Bundes Gottes mit seinem erwählten Volk. Paulus verkündigt Christus als das bestätigende und bekräftigende Ja auf alle Gottesverheißungen (2 Kor 1,20). Der Gottesbund mit Israel sei nie gekündigt worden und der unaufgebbare Existenzgrund der Kirche. Vielmehr warnt er die gegenüber den jüdischen Gläubigen überheblichen Christen in Rom, diese Wurzel zu leugnen und so ihr eigenes Heil aufs Spiel zu setzen – die Kapitel 9 – 11 des Römerbriefs sind Israeltheologie in nuce und so etwas wie das älteste Zeugnis gegen christlichen Antijudaismus.

Die neutestamentlichen Schriften widersprechen also einer pauschalen Ablehnung des Judentums, enthalten gleichwohl aber innerjüdische Polemik der Urchristen gegen andere damalige Juden. Die Problematik entsteht beim Überschritt in die nichtjüdische Völkerwelt. Wenn die späteren Christen aus der Völkerwelt derlei innerjüdisch- polemische Aussagen ohne ihren Eigenkontext verwenden, kommt eine neue Schärfe ins Spiel. Aus vormals innerjüdisch verorteten Konfliktstoffen erwachsen nun Pauschalaussagen, mit denen die Entrechtung, die Unterdrückung und Verfolgung aller Juden gerechtfertigt werden sollen. Solche Zusammenhänge lassen sich zum Beispiel im Blick auf die Rezeption von Mt 27,25 beobachten, den Blutfluch von Jerusalemer Juden vor Pilatus, oder Joh 8,44, wo Jesus über aktuelle Gegner sagt, sie hätten den »Teufel als Vater«, oder ausgehend von Stellen wie 1Thess 2,14-16, wo Paulus jüdische Gegner seiner Völkermission als »Mörder Jesu« und »Feinde aller Menschen« bezeichnen kann.

Der spätere gesamtkirchliche Antijudaismus macht also Anleihen bei innerjüdisch-polemischen Passagen im Neuen Testament, löst sie aber aus ihrem Kontext und macht daraus so etwas wie eine zeitlose judenfeindliche Grundhaltung. Nicht die Texte selbst sind darum das Problem, sondern die Auslegung dieser Texte. Nicht die eine oder andere gegenüber dem Judentum kritische Aussage im Neuen Testament ist das Aufregende, sondern die Denkfigur, aufgrund solcher Aussagen den Antijudaismus im Neuen Testament für »christlich-theologisch essentiell«[2] zu halten.

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Für die folgenden Jahrhunderte Kirchengeschichte gilt: Polemik ist Eines, etwas Anderes ist die Bestreitung des geistigen Existenzrechts des Judentums überhaupt. Eine solche bahnt sich in den Jahrzehnten nach Abschluss der apostolischen Zeit an. Das Arsenal antijudaistischer Denkmuster wird im Grunde in der Alten Kirche bereitgestellt. Das frühe Christentum entsteht ja zunächst einmal inmitten, neben und im Gegenüber zum Judentum. Ein theologisches Grundanliegen der Kirchenväter bestand darin, Jesu Messianität aus den Schriften der jüdischen Bibel herzuleiten. Dazu deuteten sie deren Texte oft gegen den Wortlaut als Hinweise auf Jesus Christus. Folglich grenzten Juden und Christen ihre Bibelauslegung immer deutlicher gegeneinander ab.

Politisch-gesellschaftliche Umstände beförderten den Trennungsprozess weiter. Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch die Römer im Jahr 70 beschleunigte die Ablösungstendenzen beider Religionen. Gegenseitige Polemik beherrschte das Feld. Es deutet einiges darauf hin, dass gegen Ende des 1. Jahrhunderts die Pharisäer als nunmehr führende jüdische Gruppe unter anderen die aus dem Judentum stammenden Christen als häretische Sekte aus dem Judentum ausgrenzten. Der TaNaCH, die Hebräische Bibel, wurde kanonisiert. Die griechische Bibelübersetzung (Septuaginta) wiederum fand Eingang in den christlichen Bereich, wo sie später als Altes Testament kanonisiert wurde. Mit dem Verlust der religiösen Teilautonomie und des Siedlungsrechts der Juden in Israel um das Jahr 130 war die Trennung vom Christentum, das nun mehrheitlich aus Nichtjuden bestand, im Grunde vollzogen.

Als frühe Dokumente des kirchlichen Antijudaismus gelten der Barnabasbrief (um 100), der Diognetbrief (nach 120) sowie Justins Dialog mit dem Juden Tryphon (um 150). Sie enthalten erstmals jene Grundüberzeugungen, die dann mehr und mehr zum Allgemeingut offizieller Kirchenlehre wurden:

– Die sogenannte Substitutionslehre oder Enterbungslehre behauptet im Kern, Gott habe sein zuerst erwähltes Volk verworfen und seine biblischen Verheißungen auf die Kirche übertragen; diese sei nun das wahre Israel, die Kirche ersetze Israel.


– Des Weiteren vollzieht sich so etwas wie die Enteignung der Heiligen Schrift: Die Bibel gehöre nun der Kirche und beweise die Wahrheit ihrer Botschaft ebenso wie den Irrtum des Judentums.[3]


– Der Antagonismus von alt versus neu wird heilsgeschichtlich aufgeladen: Die jüdische Torah sei durch Gottes neuen Bund überholt und nur noch in allegorischer Deutung relevant.


– In der Schriftauslegung verschafft sich der Gedanke Geltung, die Juden seien ihrem Gott gegenüber permanent im Ungehorsam begriffen, so dass alle Schelt- und Fluchworte der Bibel, insbesondere der Propheten, gegen sie gerichtet seien, wohingegen alle Verheißungen und Segenszusagen den Christen gälten.


– Die antijudaistische Grundhaltung nährt sich immer wieder aus dem Pauschalvorwurf, die Juden hätten Jesus als ihren Messias abgelehnt und in aller Boshaftigkeit seinen Tod betrieben. Diese Schuld sei unaufhebbar und wirke als Fluch in allen Generationen der Juden fort.

Letzteres wurde bis zur Gottesmord-Theorie gesteigert: Melito von Sardes in Kleinasien ist in seiner berühmten Osterpredigt bzw. Passa-Homilie um das Jahr 190 ein erster Zeuge dieses Vorwurfs. Mord gilt ja nun schon an sich als krimineller Tatbestand, umso mehr ein Gottesmord – die Kriminalisierung des jüdischen Volkes in aller Pauschalität ist darum eine naheliegende Konsequenz. Den mörderischen Juden wurde eine Mordlust auch an Christen nachgesagt. Auf Generationen hin übernahmen die meisten Kirchenväter die Gottesmordtheorie und verbreiteten sie, etwa in Lasterkatalogen und Predigten zu hohen kirchlichen Feiertagen. Auf Jahrhunderte hin zeigte sich die kirchliche Lehre nicht zu einer Christusverkündigung in der Lage, die nicht per se judenfeindlich gestimmt gewesen wäre. Insofern trifft Rosemary Ruether den Nerv der Sache, wenn sie den Antijudaismus die »linke Hand der Christologie« nennt.[4]

Die jüdische Geschichte, besonders Tempelund Landverlust, Zerstreuung, Verfolgung und Diaspora, wurden als Strafe Gottes für die Kreuzigung Jesu gedeutet. Aus diesen Geschichtsbeweisen wurde gefolgert, das Judentum sei zum Untergang verdammt und die übrigen Juden könnten nur durch die christliche Taufe gerettet werden.

In den ersten Jahrhunderten der Kirche entsteht eine eigene Textgattung: Schriften mit dem Titel Adversus Judaeos (»Gegen die Juden«). Derlei Traktate spiegeln nur zum Teil reale Konflikte mit Juden, vielmehr dienen sie im Wesentlichen der innerchristlichen Identitätsfindung – Identität durch Abgrenzung! In der Tat ist der kirchliche Antijudaismus mindestens so stark zur christlichen Selbststärkung da, wie er zur Schwächung des jüdischen Gegenübers dient. Nach dem Motto: »Ich bin – und zwar im Gegenüber zu dem, was ich nicht bin!«

Die folgenden Jahrhunderte zeigen, was passiert, wenn sich eine solche Haltung mit politischer Macht verbindet:

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Die Konstantinische Wende[5] ab dem Jahr 313 beendete die staatlichen Christenverfolgungen im Römischen Reich. Die Kirche nahm einen enormen organisatorischen Aufschwung. Kaiser Konstantin privilegierte das Christentum rechtlich, etwa durch die Einführung der allgemeinen Sonntagsfeier, ein Vorgang, der sich ebenso gegen den bisherigen römischen Staatskult richtete wie gegen das Judentum. 315 verbot Konstantin den Übertritt zum Judentum unter Androhung der Todesstrafe. Gleichwohl behielt das Judentum seinen Status als erlaubte Religion (religio licita).

Kaiser Julian Apostata (361– 363) ergriff letztmals staatliche Maßnahmen gegen die Kirche. Sie fanden den Beifall vieler Juden, was wiederum die Judenfeindlichkeit der Christen verstärkte. Als Kaiser Theodosius das Christentum 380 zur Staats - religion erhob, war das Fundament für den weiteren, mit staatlicher Autorität sanktionierten Antijudaismus gelegt. Das Christentum verbreitete sich im ganzen römischen Reich. Auch jüdische Gemeinden gab es überall, seit 321 nachweisbar auch auf später deutschem Boden. Juden galten der Kirche indes als Heiden, als Ungläubige, permanenter Gefahr ausgesetzt.

Mit dem neuen Rang der Kirche kam es immer wieder zu Stürmen auf heidnische Tempel und jüdische Synagogen. Diese gingen meist von Bischöfen, Priestern und Mönchen aus, wurden von den Regenten geduldet, vom Volk getragen und ausgeführt. 388 verbrannte im kleinasiatischen Kallinikon eine vom dortigen Bischof aufgehetzte Gruppe von Christen die Synagoge des Ortes, möglicherweise auch eine Reaktion auf Christenverfolgungen im Sassanidenreich, an der teils auch Juden beteiligt waren. Bischof Ambrosius von Mailand hielt Kaiser Theodosius vom Wiederaufbau der Synagoge ab, indem er ihm bei der Messe im Dom zu Mailand die Verweigerung des eucharistischen Sakraments androhte.

Unter dem Druck der Kirche entzog der römische Staat den Juden immer mehr frühere Rechte. Kaiser Theodosius II. verbot den Bau neuer Synagogen, setzte 415 den letzten jüdischen Patriarchen Gamaliel VI. ab und machte dem jüdischen Patriarchat im Lande Israel ein Ende. Der Kaiser legalisierte 438 die Umwandlung alter Synagogen in Kirchen – damit wurde die Substitutionslehre gleichsam Architektur, griff sozusagen auf steinerne Gebäude über.

Die für die Entwicklung der christlichen Glaubenslehre so grundlegenden kirchlichen Konzile vom 4. bis 7. Jahrhundert erließen auch zahlreiche Edikte, die den Kontakt mit Juden und deren Einfluss unterbanden.[6] Jeder Bürger konnte Juden durch Anzeige gerichtlich verfolgen lassen. Mission, Erwerb und Besitz christlicher Sklaven und Bekleidung öffentlicher Ämter wurden ihnen wiederholt verboten, Mischehen wurden diskriminiert, das Vermögen musste vorzugsweise ge tauften Kindern vererbt werden. So sollte das Judentum im Zustand einer unterworfenen, gottfeindlichen, schwindenden Minderheit verharren. Die entsprechenden Erlasse der Kaiser von 315 bis 429 wurden im Codex Theodosianus, danach im Codex Iustinianus gesammelt und wurden so zum Vorbild mittelalterlicher Judenpolitik.

Ein Kirchenlehrer von weitreichender Wirkung war Augustinus, von 395 bis zu seinem Tod im Jahr 430 Bischof im nordafrikanischen Hippo. In seinem Tractatus adversus Judaeos entwickelte Augustin den Gedanken der heilsgeschichtlichen Verblendung der Juden. In Psalm 69,24 fand er geschrieben: »Ihre Augen mögen umdüstert werden, daß sie nicht sehen, ihr Rücken sei stets gebeugt « – direkt gemünzt auf die Juden findet Augustin hier den Schriftbeweis für die »Blindheit « der Juden gegenüber der Erscheinung des Heilands.[7] Die Blindheit der Synagoga als das Gegenbild zur triumphierenden Ecclesia sollte zum feststehenden Motiv des Mittelalters werden. Für Augustin und die großen Lehrer der Kirche beweist die jüdische Diaspora den Verlust der göttlichen Erwählung des Volkes Israel. In bleischwerer Symbolik sieht Augustin den Juden das Kainsmal angeheftet; sie verkörpern geradezu realiter  das »flüchtig und unstet« der Kainsfigur.[8] Zwar behält das Judentum weiterhin seine Relevanz für die Kirche: Aber einzig und allein in der Rolle der Zerstreuten und Entrechteten dient das Judentum als Demonstrationsobjekt für den Triumph der Kirche.

In ihrem armseligen Schicksal sind die Juden »Zeugen ihrer Bosheit und unserer Wahrheit« – testes iniquitatis suae et veritatis nostrae[9] – geradezu ein antijudaistischer Spitzensatz in Augustins Theologie. In diesem doppelten Verweis - charakter und nur darin liegen Sinn und Zweck der Existenz des Judentums post Christum. Erst bei der Parusie Jesu Christi würden sie sich bekehren; bis dahin seien sie Werkzeuge in Gottes Heilsplan. Sie dienten unfreiwillig dessen Durchsetzung, indem sie mit ihrer Bibel die Weissagungen auf Christus verbreiteten und so der christlichen Völkermission den Weg ebneten. Darum müssten christliche Herrscher ihnen Schutz gewähren.

4

Letzteres sind Gedanken, an denen auch der Ordensbruder der Augustiner-Eremiten Martin Luther, bruchlos anknüpfen konnte.[10] Luther kannte nur wenige Juden persönlich, thematisierte aber das Judentum während seiner gesamten Wirkungszeit sehr oft. Theologisch beurteilte er es seit 1513 wie das Papsttum und den Islam als Gesetzesreligion, die Gottes allein rettende Gnade im gekreuzigten Jesus Christus verleugne. Er tat die jüdischen Schriften als für Christen irrelevant ab, betrachtete die Bibelexegese der Rabbiner letztlich als Gotteslästerung und Gefahr für die reformatorische Lehre.

Im Reformationsjubeljahr 2017 fanden Luthers Judenschriften aus gutem Grund besondere Beachtung. In Dass Christus ein geborener Jude sei (1523) verwarf Luther zunächst einmal die böswilligen Legenden von Ritualmord und Hostienfrevel, machte gar die kirchliche Gewalt ge - gen Juden für die erfolglose Judenmission verant - wortlich, trat dafür ein, Juden als Menschen zu behandeln und ihnen die Arbeit in Landwirtschaft und Handwerk zu erlauben. Alles dies freilich in der Erwartung, etliche Juden nach erfolgreicher Reformation vom evangelischen Glauben überzeugen zu können.

Diese Haltung relativer Toleranz gegen Juden sollte sich allerdings in den folgenden Jahren deutlich verändern. Nachdem Luther von einigen vermeintlichen Missionserfolgen durch Juden unter Christen gehört hatte, verweigerte er 1537 eine Begegnung mit Josel von Rosheim, dem anerkannten Sachwalter der Judenschaft im Reich. Seine Aversionen gegen die Juden steigerten sich und gipfelten in den späten Judenschriften von 1543. In Von den Juden und ihren Lügen (Januar 1543) stellte er wie frühere Adversos-Judaeos-Autoren einen Lasterkatalog zusammen: Die Juden seien nun schon »1400 Jahre unsere Plage, Pestilenz und alles Unglück gewesen«; sie seien »rechte Teufel«, die er am liebsten eigenhändig umbrächte. Private Gewalt gegen Juden lehnte er jedoch ab. Er behauptete, sie beuteten die Christen schamlos aus, hielten sie im eigenen Land gefangen »durch ihren verfluchten Wucher«, verhöhnten sie obendrein und seien »unsere Herren, wir ihre Knechte«.

Jene Fürsten, die er 1523 noch zu einem pfleglichen Umgang mit den Juden ermahnt hatte, forderte er nun in einem Katalog von sieben berühmt- berüchtigten Maßnahmen auf, gegenüber den Juden eine – wie er es nannte – »scharfe Barmherzigkeit « walten zu lassen: Man sollte Synagogen und Judenschulen verbrennen, ihre Häuser zerstören, sie wie »Zigeuner« in Ställen wohnen lassen, ihnen Gebetbücher und Talmudschriften wegnehmen, ihren Rabbinern das Lehren verbieten, ihr freies Geleit und Wegerecht aufheben, den Wucher verbieten, ihnen Bargeld und Schmuck wegnehmen und ihre jungen Männer zu körperlicher Arbeit zwingen. Wenn das alles nicht helfe, sollten sie die Juden aus ihren Gebieten vertreiben: »Drum immer hinaus mit ihnen!«

In Vom Schem Hamphoras (März 1543) verhöhnte er den Talmud und die rabbinische Bibelexegese auf das Widerlichste mit Rückgriff auf die Wittenberger Judensau.

Bis zu seinem letzten Atemzug blieb Luther dieser tiefen Ablehnung alles Jüdischen verhaftet. Luther ergänzte seine letzte Predigt am 15. Februar 1546 mit einer kurzen Vermahnung wider die Juden, in der er seine Haltung zusammenfasste: Juden seien zu bekehren oder im Falle ihrer Taufverweigerung zu vertreiben. Erst solle man ihnen den christlichen Glauben ernsthaft anbieten. Da sie diesen erwartungsgemäß ablehnen und Christus fortgesetzt lästern würden, sollten die evangelischen Fürsten sie aus ihren Gebieten jagen.

Indes folgten die Fürsten Luthers Aufforderung nur einigermaßen verhalten; praktische Gründe und die Sorge um die willkommenen Einnahmen aus den Judensteuern ließen sie zögern. Kursachsen allerdings erneuerte das Durchzugsund Aufenthaltsverbot für Juden von 1536, Hessen erließ ein Lehrverbot für Rabbiner und einige evangelische Städte vertrieben ihre Juden bald nach Luthers Tod.

In der Lutherdeutung wurde immer wieder der Versuch unternommen, Luthers theologische Urteile über die Juden von seinen politischen Forderungen zu trennen und seine späteren judenfeindlichen Schriften nur psychologisch aus enttäuschter Missionserwartung und Altersverbitterung zu erklären. Es besteht heute nahezu Konsens, dass eine solche Lutherapologie zu kurz greift. Vielmehr zieht sich durch Luthers Denken eine kontinuierliche Linie des Antijudaismus. Hat doch Martin Luther in einem sehr grundsätzlichen Sinne gemeint, sein großes Anliegen vom Evangelium der Freiheit kontrastieren zu müssen gegenüber einem angeblich gesetzesverhafteten  Judentum. Immer wieder zeichnet er sich überdeutlich ab: der dunkle Schatten des Reformators. Der alte Gegensatz zwischen perfidia judaica und fides christiana, zwischen vermeintlicher jüdischer Halsstarrigkeit und christlicher Glaubensfrische, erhält beim Neuerer in Wittenberg weiter Nahrung.

Das judentumsfeindliche Kontinuum in Luthers Theologie hängt zusammen mit seiner Lehre von Gesetz und Evangelium im Sinne eines unversöhnlichen Antagonismus; dem Judentum konnte nur die Rolle des am Gesetz scheiternden, verworfenen Volkes und Beispiels für Gottes Zorngericht zugeschrieben werden. Zeitlebens schöpfend aus den Worten der Hebräischen Bibel, konnte Luther doch zu keiner Zeit eine aus dieser Schrift lebende jüdische Glaubens- und Lebensweise positiv in seiner Theologie denken. In den Psalmen fand er zwar seine reformatorischen Grundgedanken wieder – dem real lebenden Volk der Psalmen konnte er aber zu keiner Zeit einen theologischen Wert zuschreiben. Statt eines unverstellten Wahrnehmens jüdischer Menschen und ihrer Glaubenswelt folgte der Reformator einem kursierenden Halbwissen aus zweiter Hand.

Die Herkunft einiger seiner Klischees aus Hetzschriften von Konvertiten wie Antonius Margaritha liegt auf der Hand. Es lässt sich sagen, dass Luther möglicherweise nicht in einem strengen Sinne rassistisch dachte, dass er aber doch dem frühen Antisemitismus Wege öffnete. Dass das Versagen des Protestantismus in der Zeit des Nationalsozialismus mit dem Erbe Martin Luthers verknüpft ist, dürfte unbestritten sein. Im Luthertum fand die Grundhaltung des Reformators zum Judentum weitgehend Zustimmung: Das jüdische Volk sei des Bundes mit Gott verlustig gegangen, Verstockung und Christusfeindlichkeit präge diese Religion, rabbinische Schriftauslegung sei Verirrung auf ganzer Linie. Nur wenige andere Reformatoren wie Wolfgang Capito und Andreas Osiander widersprachen diesem Bild. Auch Philipp Melanchthon und der Schweizer Reformator Heinrich Bullinger distanzierten sich da und dort von Luthers Hasstiraden.

Der Antijudaismus war längst zu einem tragenden Element der kirchlichen Normallehre geworden. Auch eine Renaissance oder ein gewachsenes Bildungsniveau im Humanismus vermochten nicht, die antijüdischen Denkmuster aus Theologie und kirchlicher Praxis zu vertreiben.

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Springen wir ins 20. Jahrhundert. Das Feld des Antijudaismus ist über die Jahrhunderte gut gedüngt, als der aggressive staatliche Antisemitismus des Nationalsozialismus[11] die Szene zu beherrschen beginnt. Die sogenannten Deutschen Christen dienten als ideologische Handlanger der Nazis.

Dazu nur ein Beispiel: Das Institut zur Erforschung (und Beseitigung) des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben war eine kirchenübergreifende Einrichtung deutscher evangelischer Landeskirchen. Das Institut wurde am 4. April 1939 auf Betreiben maßgeblicher Kreise der Deutschen Christen durch elf evangelische Landeskirchen in Eisenach gegründet, die Gründungsfeier fand am 6. Mai 1939 auf der Wartburg statt.

Als man 1934 den Arierparagraphen in der evangelischen Kirche einführte, war die Liaison von kirchlichem Antijudaismus und rassischem Antisemitismus offensichtlich geworden. Im selben Jahr erfolgte die Gründung des Pfarrernotbundes, aus dem 1934 die Bekennende Kirche hervorging. Doch auch in dieser evangelischen Opposition überwogen antijudaistische und obrigkeitshörige Einstellungen, so dass es insgesamt zu keinem nennenswerten kirchlichen Widerstand gegen die immer deutlichere Judenverfolgung des NS-Regimes kam und man sich weithin auf die Verteidigung kirchlicher Selbstverwaltung gegen staatliche Eingriffe begrenzte.

Eine Ausnahme war Dietrich Bonhoeffer, der sich der Widerstandsbewegung Kreisauer Kreis und Plänen zu einem Attentat auf Hitler anschloss. Schon 1933 ahnte Bonhoeffer das kommende Geschehen im Betheler Bekenntnis voraus und schrieb:[12]

»Wir verwerfen jeden Versuch, die geschichtliche Sendung irgendeines Volkes mit dem heilsgeschichtlichen Auftrag Israels zu vergleichen oder zu verwechseln. Es kann nie und nimmer Auftrag eines Volkes sein, an den Juden den Mord von Golgatha zu rächen.«

Rassistisch grundierter Antisemitismus drohte sich der Kirche in jener Zeit zu bemächtigen – besagter Abschnitt aus dem Betheler Bekenntnis fokussiert auf die Christen jüdischer Herkunft und formuliert den Widerspruch zur Doktrin der Deutschen Christen:

»Wir wenden uns gegen das Unternehmen, die deutsche evangelische Kirche durch den Versuch, sie umzuwandeln in eine Reichskirche der Christen arischer Rasse, ihrer Verheißung zu berauben. Denn damit würde ein Rassengesetz vor dem Eingang zur Kirche aufgerichtet…«[13]

Unübersehbar war ein derartiges Rassengesetz längst aufgerichtet; der Weg zum Holocaust war beschritten und konnte nicht zuletzt wegen der jahrhundertelangen kirchlichen Volkserziehung im Geist des Antijudaismus konsequent weiter gegangen werden. Ehrlicherweise ist kein anderes Urteil möglich: Vom kirchlichen Antijudaismus führt eine deutliche Spur zur Mitverantwortung an der Schoah, dem Völkermord am europäischen Judentum.

Die Zeit des Nationalsozialismus brachte die Symbiose von christlich-motiviertem Antijudaismus und rassistischem Antisemitismus am deutlichsten zu Tage.

6

Nach dem Kriegsende begannen die Kirchen allmählich, den christlichen Antijudaismus theologisch und praktisch aufzuarbeiten und ihr Verhältnis zum Judentum neu zu bestimmen.

In der ersten Nachkriegserklärung der neu gegründeten EKD, dem Stuttgarter Schuldbekenntnis vom 19. Oktober 1945, fehlte bekanntlich noch jeder ausdrückliche Hinweis auf die Schoah. Erst unter dem Einfluss von Theologen wie Karl Barth, Helmut Gollwitzer und Friedrich-Wilhelm Marquardt kam es zu einer theologischen Neubesinnung auf die unaufgebbaren jüdischen Wurzeln und Inhalte des christlichen Glaubens. Die Deutschen Evangelischen Kirchentage der 1960er Jahre leisteten dabei exegetische, aufklärende und religionsdidaktisch wertvolle Arbeit. Seitens der Katholischen Kirche schlug das Zweite Vatikanische Konzil mit seiner Erklärung Nostra Aetate von 1965 ein neues Kapitel im christlich-jüdischen Verhältnis auf.

Ein Meilenstein zur Revision antijudaistischer theologischer Positionen war der Synodalbeschluss zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden, den die Evangelische Kirche im Rheinland am 11. Januar 1980 fasste. Eine Reihe evangelischer Landeskirchen – wie die badische im Jahr 1984 – folgte mit ähnlichen Erklärungen und Verfassungsänderungen. Eine Gruppe jüdischer Gelehrter des National Jewish Scholars Project hat diese Bemühungen der christlichen Seite im September 2000 mit der Erklärung Dabru Emet gewürdigt.

Wahr ist aber auch: In vielen Bereichen von Kirche und Theologie, in Lehre, Unterweisung und Verkündigung bleiben antijudaistische Stereotype bis in die Gegenwart hinein wirksam. Weiterhin wird das rabbinische Judentum unter dem Vorzeichen eines Gegensatzes von Gesetz und Evangelium als angeblich äußerliche, dem Buchstaben verhaftete Gesetzesfrömmigkeit, als Kasuistik, Werkreligion dargestellt; nach wie vor bildet das Judentum so etwas wie die Negativfolie für die angeblich ethisch überlegene Lehre Jesu und des Christentums.

7

Was wir also nach wie vor brauchen, ist nichts weniger als eine tiefgreifende Neuformulierung einer Theologie, die nicht wieder in alte antijudaistische Fallen tappt. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf den Zwischenruf der Konferenz Landeskirchlicher Arbeitskreise Christen und Juden (KLAK) zur Erneuerung einer reformatorischen Theologie im Horizont der Beziehung zum Judentum. Dieser Text – eben ein Zwischenruf, mitten hinein in die Vorbereitungszeit auf das Reformationsjubiläum 2017 – versteht sich auch als eine summarische Replik auf die wichtigsten antijudaistischen Denkkategorien in der Theologie. Unter dem Stichwort »Kirche der Umkehr« heißt es im Zwischenruf:[14]

»Lange in solchen Denkkategorien verhaftet haben die Kirchen der Reformation und mit ihnen weite Teile der ökumenischen Christenheit inzwischen aber unmissverständlich umgedacht und Buße getan – zuletzt und am deutlichsten in der Kundgebung der EKD-Synode am 11. November 2015. Die EKD-Synode löste eine lang gehegte Erwartung ein und formulierte: ›Luther verknüpfte zentrale Einsichten seiner Theologie mit judenfeindlichen Denkmustern.‹ – Für uns ergibt sich daraus: Es bedarf an zentralen Punkten einer Reformulierung reformatorischer Theologie überhaupt. Es wird hier nicht ausreichen, den ein oder anderen antijüdischen Ausrutscher zu korrigieren. Es wird auch nicht damit getan sein, sich von den schändlichen Judenschriften des späten Luther zu distanzieren. Was dem Reformator verschlossen blieb, ist heute klarer denn je auszusagen: Kirche der Umkehr ist eine Kirche in bleibender Bezogenheit auf das erst- und bleibend  erwählte Volk Gottes. Reformatorische Kirche ist darin semper reformanda, dass sie sich immer wieder auf den Weg zu einer nicht antijudaistischen reformatorischen Theologie, einer Theologie im christlich-jüdischen Dialog rufen lässt…

Zum Schwur kommt es letztlich bei der Christologie: Ist das solus Christus, in dem für Luther alle übrigensola-Wendungen verankert sind, christlich- jüdisch kommunikabel? Wenn es nicht so wäre, gäbe es jedenfalls keine ernstzunehmende christlich-jüdische Verständigung. Denn Christsein hängt am Christus. Ist aber Christus nicht eine leib- und zeitlose Chiffre, können wir mit dem Apostel an prominenter Stelle sagen: Christus ist ein diákonos der jüdischen Gemeinschaft geworden um der Wahrhaftigkeit Gottes willen und die Verheißungen Gottes an Sein Volk zu bekräftigen (Röm 15,8f). Und die Heiden? – die sollen Gott loben und sich mit Israel freuen als vormals Gott-lose (Eph 2,12), als nun – allein durch Christus aus lauter Gnaden – Hinzugerufene. Solus Christus meint: Jesus von Nazareth personifiziert für uns Christinnen und Christen die sichtbare Seite Gottes, Immanuel – »Gott mit uns«. Er nimmt damit strukturell die Stelle ein, die für Jüdinnen und Juden Bund und Torah einnehmen. Diese Erkenntnis ermöglicht einen Dialog mit unseren Glaubensgeschwistern über die Frage, wie Gott in seiner Offenbarung den Menschen nahe kommen bzw. sich ihnen mitteilen kann. Nach christlichem Glauben nimmt das göttliche Wort Fleisch an (Joh 1), wird selber Mensch.

Von Jüdinnen und Juden, nicht zuletzt beim Hören auf die Bibel, etwa auf das Bilderverbot, können wir lernen, dass die Deszendenz Gottes freilich auch Grenzen hat: Gott bleibt für uns bei aller Nähe letztlich doch unverfügbar. Er ist der, der uns in allem zuvorkommt. Mit dem Kommen Jesu, so bekennen wir als Christen, ist das Reich Gottes nahe herbei gekommen. Doch es ist gut, wenn Jüdinnen und Juden uns im Gespräch immer wieder darauf aufmerksam machen, dass die Welt noch unerlöst ist, dass der verheißene Frieden noch aussteht. Durch den Hinweis auf den eschatologischen Vorbehalt halten sie die Christusfrage offen, wie Dietrich Bonhoeffer formuliert hat – und mit der Christusfrage auch die Frage nach Gott, der sich mit Christus identifiziert hat…«

Ich schließe und rufe noch einmal die Frage auf: Was ist Antijudaismus? Die schlichteste Antwort scheint mir: Antijudaismus ist die Leugnung und Zurückweisung jenes Spitzensatzes in der paulinischen Israeltheologie aus Röm 11,29: »Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen.«

Welche »Gaben und Berufung« im Blick auf das Judentum hier im Blick sind, hatte der Apostel zum Eingang der Themenkapitel 9 –11 im Römerbrief expliziert: Es gehöre den Israeliten (1) die Gotteskindschaft, (2) die Gottespräsenz, (3) der Bund, (4) das Gesetz, (5) der Gottesdienst, (6) die Verheißungen, (7) die Väter – und letztlich auch das Privileg, Stammvolk Jesu Christi zu sein.

Um nichts weniger geht es, wenn es um Israel und das Judentum geht; um nichts anderes geht es als darum, genau dies nicht in Abrede zu stellen, sondern hochzuschätzen, zu würdigen und als Integral des christlichen Glaubens zur Geltung zu bringen.

[1] Im Blick auf den Begriff des Antisemitismus besteht weitgehend Konsens hinsichtlich der Formulierung der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken: »Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.« Der Antisemitismusbericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus an den Bundestag 2017 versteht Antisemitismus als »Sammelbezeichnung für alle Einstellungen und Verhaltensweisen, die den als Juden wahrgenommenen Einzelpersonen, Gruppen oder Institutionen aufgrund dieser Zugehörigkeit negative Eigenschaften unterstellen« und fügt hinzu: »Demnach geht es um die Feindschaft gegen Juden als Juden«, (S. 24). Antijudaismus wäre demnach die religiös grundierte Feindschaft gegen Juden qua Juden.

[2] Wilckens, Ulrich (1974): Antwort an David Flusser, in: Evangelische Theologie 34, S. 106.

[3] Im Detail ließen sich Indizien für eine solche Enteignung der Schrift am Beispiel des Dekalogs zeigen.

[4] Vgl. die schon klassisch zu nennende Studie von Ruether, Rosemary (1978): Nächstenliebe und Brudermord: die theologischen Wurzeln des Antisemitismus, München.

[5] Zur Orientierung für die Frühzeit der Kirche vgl. Rengstorf, Karl Heinrich; von Kortzfleisch, Siegfried (Hg.) (1988): Kirche und Synagoge, Bd. 1, Stuttgart, S. 84 –174.

[6] Dazu nur ein Beispiel: Das Konzil von Chalcedon 451 fasste nicht nur bahnbrechende Beschlüsse in der Christologie, sondern verfügte en passant auch noch das Verbot der Ehe von Christinnen und Juden (Canon 14).

[7] Adversus Iudaeos 5,6 zitiert nach Rengstorf; Korzfleisch (1988): Kirche und Synagoge, S. 95. Der alte Vorwurf der Blindheit bleibt natürlich auch dort noch wenigstens im Hintergrund lebendig, wo im Jahr 2008 durch Papst Benedikt XVI. der Gebrauch einer früheren Form der Karfreitagsfürbitte mit der Bitte um die Erleuchtung der Juden konzediert wurde, »damit sie Jesus Christus erkennen, den Retter aller Menschen«.

[8] Vgl. die umsichtigen Erwägungen bei Bammel, Ernst (1990): Die Zeugen des Christentums, in: Frohnhofen, Herbert (Hg.): Christlicher Antijudaismus und jüdischer Antipaganismus, Hamburg, S. 176f.

[9] Augustin in einer Homilie zu Psalm 58,1 zitiert bei Frankemölle, Hubert (2006): Frühjudentum und Urchristentum, Stuttgart, S. 359. Augustin variiert diesen Gedanken auch in seiner grundlegenden Schrift von 420 De Civitate Dei XVIII,46 und XX,29; vgl. dazu Ruether (1978): Nächstenliebe und Brudermord, S. 139f.

[10] Vgl. Kaufmann, Thomas (2014): Luthers Juden, Stuttgart. Sowie: Kaufmann, Thomas (2011): Luthers »Judenschriften«. Ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualisierung, Tübingen.

[11] Vgl. zur Orientierung die wertvolle Quellensammlung aus den Jahren 1933 – 45 von Röhm, Eberhardt; Thierfelder, Jörg (Hg.) (1990 – 2007): Juden, Christen, Deutsche, Bd. 1– 4/2, Stuttgart.

[12] Text zitiert nach der instruktiven Internetseite mit synoptischer Darstellung der Erstfassung und der Bearbeitung auf: http://www.geschichte-bk-sh.de/fileadmin/user_upload/ BK_im_Reich/Synopse_Betheler_Bekenntnis.pdf[Zugriff am 10.8.2018]. Zur Würdigung des wenig bekannten Betheler Bekenntnisses vom August 1933 vgl. Scholder, Klaus (1977): Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 1: Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918 –1934, Frankfurt, S. 579–582. Scholder stellt fest, dass insbesondere Abschnitt VI »Die Kirche und die Juden« ganz der Bonhoefferschen Argumentation folge.

[13] Röhm; Thierfelder (Hg.) (1990): Juden, Christen, Deutsche, Bd. 1, S.195.

[14] Der Text steht zum Download bereit unter http://www.klak.org/zwischenruf2016.htm.

Editorische Anmerkungen

Dr. Klaus Müller ist Professor am Diakoniewissenschaftlichen

Institut der Universität Heidelberg und Vorsitzender der

Konferenz Landeskirchlicher Arbeitskreise Christen und Juden

(KLAK) der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).
Quelle: Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung im Kontext, 3/2018.