Christliche Friedensethik vor einem Dilemma? Streiflichter auf die neu entbrannte ökumenische Debatte über Pazifismus und die Lehre vom gerechten Krieg

Der Beitrag zeichnet die Grundzüge der friedensethischen Debatte in der Ökumene nach, die sich um das Verhältnis von Pazifismus und der Lehre vom Gerechten Krieg dreht und aus Anlass des Krieges gegen die Ukraine wieder aufgeflammt ist. Er zeigt auf, welche Rolle dabei das Leitbild des gerechten Friedens spielt und weist darauf hin, dass die Unvereinbarkeit der vorhandenen Grundpositionen aus abweichenden anthropologischen Grundannahmen in Bezug auf die Möglichkeit einer vollkommenen Überwindung von Gewalt und Krieg resultiert. Sie kennzeichnet kein Dilemma, sondern einen sachlichen und logischen Gegensatz, den die „vorrangige Option für die Gewaltfreiheit“ vermeidet.

1. Der aktuelle Kontext: Vermeintliche friedensethische Dilemmata

In den ersten Wochen nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine jagte eine Sondersendung im Fernsehsehen, eine Talkrunde zum Thema Ukraine-Krieg die andere, in allen wurde die jeweils aktuelle Lage dargestellt und erörtert, vor allem aber meist hitzig über die Frage debattiert, wie der Westen und besonders Deutschland auf den Krieg reagieren sollten. Mit Blick auf Deutschlands Verhalten stand rasch die Frage im Vordergrund, ob die deutsche Regierung sich dafür entscheiden dürfe oder müsse, Waffen an die Ukraine zu liefern, und falls ja, welche genau. Es gab mehr Stimmen dafür, aber auch leidenschaftliche dagegen, die sich oft zugleich im Sinne einer Kritik an Medien und Politik darüber beklagten, die Gegenstimmen würden viel zu wenig zu Gehör gebracht und noch weniger gehört. Daran war immerhin so viel richtig, als sowohl die politischen Entscheidungen in eine Richtung liefen, die ihnen nicht gefallen konnte, als auch der überwiegende Teil der deutschen Bevölkerung sich für Waffenlieferungen aussprach.

Es konnte nicht ausbleiben, dass sich Stimmen aus den christlichen Kirchen zu Wort meldeten und Kirchenleitungen gleichsam amtlich Stellung bezogen. Diese Äußerungen riefen ihrerseits Kommentare aus der nichtkirchlichen Öffentlichkeit und der Politik hervor, nicht zuletzt aber auch aus den Kirchen selbst. Die innerchristliche Kontroverse verlief in ähnlichen Bahnen wie im öffentlichen Raum, d. h., es gab und gibt Befürworter(innen) von Waffenlieferungen und Gegner(innen), die sich wechselseitig vorwerfen, mehr oder minder realitätsblind zu sein. Weitgehende Einigkeit herrscht trotzdem in Bezug auf die Verurteilung von Russlands völkerrechtswidrigem Angriffskrieg, offenkundig jedoch nicht in Bezug auf die Konsequenzen dieses Urteils. Dieser Dissens erklärt sich zum Teil aus einer unterschiedlichen Sicht der Vorgeschichte des Krieges, der Kriegsursachen und der Verantwortlichen für den Krieg bzw. Schuldigen am Krieg, zum Teil aus unterschiedlichen politischen Ausgangspositionen. Mit im Spiel waren außerdem in Gesellschaft und Politik, vor allem aber in den Kirchen voneinander abweichende Vorstellungen von Moral und Ethik und ihrer Rolle im Prozess politischer Entscheidungsfindung. Im Folgenden soll die Aufmerksamkeit auf einen vernachlässigten Aspekt der Sache gelenkt werden, auf den konzeptionellen Rahmen dieser Auseinandersetzung, der einerseits das ökumenisch weithin akzeptierte Leitbild des gerechten Friedens betrifft, andererseits die Frage, ob es theologisch denkbar ist, eine Friedenspolitik zu konzipieren, die auf den Einsatz von Waffengewalt völlig verzichten kann und daher ethisch gefordert werden muss.

Die Debatte über den Krieg gegen die Ukraine hat ungewollt ein bemerkenswertes Maß an Unkenntnis über den Stand des friedensethischen Nachdenkens in Theologie und Kirchen kenntlich gemacht, aber auch viel Unsicherheit, ein echtes Informations- und Orientierungsbedürfnis sowie eine ehrliche Nachdenklichkeit, die mitunter bis zum Eingeständnis eigener Ratlosigkeit reicht. Die Delegiertenversammlung der Deutschen Sektion der katholischen Friedensbewegung pax christi umriss deren innere Lage am 23.10.2022 in Fulda mit den Worten: „Friedensethisch konfrontiert dieser Krieg uns mit den Dilemmata des Einsatzes von Gewalt. Auch in der pax christi-Bewegung gibt es dazu unterschiedliche Analysen und Meinungen.“ (Pax Christi 2022b) Das entspricht, abgesehen von dem bekräftigten Votum für aktive Gewaltfreiheit als Grundhaltung, ziemlich genau dem allgemeinen Bild. Zum Vergleich sei noch ein Ausschnitt aus der Stellungnahme der Kirchenkonferenz der EKD vom 14. März 2022 angeführt: „Auf der Grundlage des Evangeliums von Jesus Christus sind wir zutiefst davon überzeugt, dass Frieden letztlich nicht mit Waffengewalt zu schaffen ist. Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg. Ohne Vertrauen, Gerechtigkeit und persönliche Kontakte zwischen Menschen aller Völker ist Frieden nicht möglich. Dennoch sehen wir das Dilemma verschiedener Optionen zwischen dem grundsätzlichen Wunsch nach einer gewaltfreien Konfliktlösung und dem Impuls, angesichts eines Aggressors, der auf brutale Weise geltendes Völkerrecht missachtet und Kriegsverbrechen begeht, die Ukraine mit Waffen zu unterstützen. Unbestritten ist das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine im Blick auf die gegen sie gerichteten Aggressionen.“ (Kirchenkonferenz der EKD 2022)

Bei diesem Stand der Dinge kann im Vordergrund nicht das Bestreben stehen, eine weitere Position vorzutragen, für die Richtigkeit beansprucht wird. Der folgende Beitrag begnügt sich damit, die unterschiedlichen oder gegensätzlichen Auffassungen zu charakterisieren und einige Probleme zu markieren, die sie aufwerfen.

2. Friedensethische Grundpositionen

„Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“ – Es dürfte kaum eine andere Aussage existieren, die in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in ökumenischen und anderen kirchlichen Friedenserklärungen öfter zitiert wurde als diese. Sie stammt aus dem Bericht der IV. Sektion der Gründungsvollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen aus dem Jahr 1948 (ÖRK 1948) und findet sich gegenwärtig oft auch in Verlautbarungen zum Krieg gegen die Ukraine, etwa als Logo auf dem „friedensappell2022“ der Aktion Ohne-Rüstung-leben, der von zahlreichen christlichen Persönlichkeiten und Organisationen unterzeichnet wurde.

Diese fortgesetzte Erinnerung an die Amsterdamer Versammlung erzeugt den Eindruck einer langen und breiten ökumenischen Übereinstimmung in der Einstellung von Christen und Kirchen gegenüber dem Krieg. So behauptete die vormalige Landesbischöfin Margot Käßmann im Mai 2022 in einem Interview: „Dass Krieg und christlicher Glauben nicht zusammengehen, haben die Kirchen der Welt 1948 im Ökumenischen Rat (ÖRK) erklärt.“ (Käßmann 2022) Doch das trifft nicht zu. Zwar ist das als Interview-Überschrift verwendete Zitat für sich genommen korrekt, doch wird dabei der entscheidende Punkt des Kommentars im Bericht der Sektion IV unterschlagen. Dort nämlich wird festgestellt, auf die unvermeidbare Frage, ob denn der „Krieg heute noch ein Akt der Gerechtigkeit sein“ könne, sei der Sektion „freilich keine einmütige Antwort“ möglich.

Drei Typen der Antwort reiht der Bericht auf: Die erste Gruppe räumt zwar ein grundsätzliches Recht zum Krieg ein, verneint es aber mit Rücksicht auf das Zerstörungspotential des modernen Krieges. In diesem Sinne hatte bereits der Dominikaner P. Franziskus Stratmann, der Gründer des Friedensbundes Deutscher Katholiken, in seinem Werk „Weltkirche und Weltfriede“ argumentiert – und zwar auf der Basis der Lehre vom Gerechten Krieg. Heute führen Anhänger dieser Auffassung im Fall der Ukraine die Gefahr einer nicht kontrollierbaren Eskalation des Krieges bis hin zu einem Atomkrieg ins Feld. So heißt es in einer öffentlichen Erklärung der Deutschen Sektion von pax christi vom 04. Mai 2022: „pax christi ist tief besorgt darüber, dass sich in unserem Land wieder die Überzeugung durchsetzt, dass mehr militärische Unterstützung zu einer Lösung beitragen könnte. Wir stellen mit Entsetzen fest, dass Kriegsrhetorik und Kriegslogik in der Politik und in der Presse mittlerweile selbstverständlich geworden sind. Die Gefahr einer unkontrollierbaren Eskalation steigt stetig, die in letzter Konsequenz auch den Einsatz atomarer Waffen befürchten lässt.“ (Pax Christi 2022a) Manche Pazifisten, die eigentlich die Lehre vom Gerechten Krieg ablehnen, wenden sie kritisch gegen die Befürworter des Krieges, indem sie darauf verweisen, der Ukraine-Krieg missachte das Kriterium der Ultima ratio, weil entweder längst nicht alle diplomatischen Möglichkeiten ausgeschöpft wurden, oder es versäumt wird, das Konzept der Sozialen bzw. Zivilen Verteidigung als Alternative zur militärischen Gegenwehr der Ukraine zu erproben: „Hinzu kommt, dass seit Jahrzehnten umfangreiche Studien über die Möglichkeiten zivilen Widerstandes/Sozialer Verteidigung vorliegen: ‚Daß die gewaltlose Methode als solche dem Geiste Christi mehr entspricht als die gewaltsame, kann nicht bestritten werden.‘ (Franziskus M. Stratmann OP) Bewaffnete Gegenwehr kann daher überhaupt nur dann letztes Mittel darstellen, wenn das andere M ittel eines zivilen Widerstandes erprobt worden ist.“ (Freise/Nauerth/Silber/Spiegel 2022)

Die zweite Gruppe bejaht das Recht auf und die Pflicht zur Verteidigung als letztes Mittel, solange es keine übernationalen Instanzen zur Rechtsdurchsetzung gebe. Diesen Standpunkt vertreten die Päpste seit Anfang des 20. Jahrhunderts und das Zweite Vatikanische Konzil und auch die DBK mit Blick auf die Ukraine. Auf dieser Linie liegen die diplomatischen Bemühungen des Heiliges Stuhls und insbesondere dessen beharrliches Eintreten für die Stärke der Vereinten Nationen. Das II. Vatikanum hat in diesem Sinne erklärt, eine absolute Ächtung des Krieges erfordere, „daß eine von allen anerkannte öffentliche Weltautorität eingesetzt wird, die über wirkliche Macht verfügt, um für alle Sicherheit, Wahrung der Gerechtigkeit und Achtung des Rechts zu gewährleisten.“ (GS Nr. 82)

Die dritte Gruppe lehnt Krieg grundsätzlich als Widerspruch zum göttlichen Willen ab. Sie wird in gewisser Weise repräsentiert durch die Historischen Friedenskirchen, in Deutschland und europaweit derzeit wohl am breitesten vertreten durch die Organisation „Church and Peace“, die allerdings unterschiedliche pazifistische Positionen vereinigt. Im Vorfeld der 11. Vollversammlung des ÖRK im Herbst 2022 in Karlsruhe brachte Church and Peace in einem Offenen Brief an den Zentralausschuss und die Delegierten des Weltkirchenrates eine Befürchtung zum Ausdruck, die deutlich in der eigenen Überzeugung verankert ist: „Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist ein bedrängendes und bedrückendes Thema. Wir beobachten mit großer Sorge, dass viele Menschen unter dem Eindruck des Krieges an der christlichen Friedensethik zweifeln. Sie stellen das Ziel einer Überwindung der Gewalt durch Feindesliebe und Versöhnung und damit auch eine Politik der zivilen Friedensförderung in Frage. […] Wir sind überzeugt, dass die Überwindung aller Kriege und die gemeinsame Entwicklung von Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung im Mittelpunkt unseres Handelns stehen muss.“ (Church and Peace u. a. 2022)

Betrachtet man also die innerchristliche Debattenlage im Licht der fortdauernden Beschwörung der 1. Vollversammlung des ÖRK, so kommt man um zwei Feststellungen nicht herum: Zum Ersten konnte in Amsterdam 1948 keine Rede von einem einmütigen und vollständigen Konsens in Sachen Friedensethik sein. Die Versammlung war sich zwar einig darin, den Krieg als Widerspruch zum Willen Gottes zu deklarieren, aber sie konnte sich dennoch nicht darauf einigen, welche friedensethischen Konsequenzen aus diesem Einvernehmen zu ziehen sind. Zum Zweiten: An dieser Sachlage hat sich bis heute ausweislich der Beurteilung des Krieges gegen die Ukraine wenig geändert, jedoch haben sich die kirchenpolitischen Gewichte zwischen den drei Grundpositionen verschoben und sie stellen sich heute differenzierter dar als damals. Deshalb erweist sich gerade die in Deutschland immer wieder (etwa von Bundeskanzler Helmut Schmidt) gegen den Pazifismus in Stellung gebrachte Unterscheidung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik, die von Max Weber formuliert wurde, weithin als untaugliches Gegenargument. Denn viele Pazifisten ziehen mindestens zusätzlich zu ihrer „Gesinnung“ sehr wohl die Folgen ihrer Haltung in Betracht, vor allem aber verweisen sie stets auf die ihrer Überzeugung nach nicht verantwortbaren Folgen eines Krieges, selbst dann, wenn es sich, wie bei der Ukraine, um einen Verteidigungskrieg handelt. Diese Form des „Verantwor- tungspazifismus“ (Olaf Müller) läuft wie bei der Lehre vom Gerechten Krieg auf eine Güterabwägung hinaus. Allerdings vermag diese Konvergenz nicht die Kluft zwischen radikalpazifistischem und nicht-pazifistischem Lager zu überbrücken. Die Rede von einem friedensethischen Dilemma kann sich insofern entweder auf eine politische Konstellation beziehen, die kein eindeutiges Urteil erlaubt, oder aber auf die Unvereinbarkeit der friedensethischen Grundpositionen innerhalb der Friedensethik. Sofern ein radikaler Pazifismus ein absolutes Tötungs- verbot vertritt, entsteht im Verhältnis zu anderen Positionen kein Dilemma, vielmehr besteht ein sachlicher Gegensatz, der sich im Prinzip nicht auflösen lässt. Dennoch gibt es Versuche, ihn zu entschärfen, indem die inhaltliche Unvereinbarkeit der gegensätzlichen Positionen in einen konzeptuellen Rahmen eingeordnet wird, der die Perspektive einer friedenspolitischen Konvergenz eröffnet. Das entscheidende Stichwort lautet: Komplementarität.

3. Auflösung des Gegensatzes von Pazifismus und Nicht-Pazifismus?

Die Amsterdamer Versammlung bekannte freimütig, es falle ihr „schwer, so verschiedene Meinungen in dieser Sache unter uns zu haben.“ Sie bat darum dringend alle Christen, weiterhin ernsthaft miteinander um „den rechten Weg“ zu ringen und in diesem Ringen ihre Gegner trotzdem „als ihre Brüder und Schwestern anzusehen.“ (ÖRK 1948) Diese geistliche Beschwernis machte sich später immer wieder bemerkbar und nötigte zu dem Bemühen, die gegensätzlichen Überzeugungen anzunähern oder miteinander zu vermitteln. Ein gutes Beispiel bot etwa der Bischofsrat der Evangelisch-methodistischen Kirche, als er 1986 ein Grundsatzdokument mit dem Titel „Zum Schutz der Schöpfung. Die nukleare Krise und gerechter Friede“ veröffentlichte, das aus einem längeren und umfassenderen Diskussionsprozess hervorgegangen war. Um diesen Prozess nach der Publikation fortzusetzen und auszuweiten, wurde den methodistischen Gemeinden in aller Welt ein „Überblick“ zugesandt, eine Art Zusammenfassung des Grundsatzdokuments. Darin findet sich ein Abschnitt, der zwar auf das Thema der nuklearen Abschreckung gemünzt, aber sicher auch als allgemein beherzigenswerte Maxime gedacht war: „Wir sind überzeugt, daß die nukleare Krise grundsätzliche Glaubensfragen aufwirft, die weder die pazifistische Tradition noch die eines gerechten Krieges in angemessener Weise behandelt haben. Wir laden Pazifisten und Nicht-Pazifisten unter unseren Leuten ein, nicht nur ihre gemeinsame Grundlage wieder zu entdecken, z.B. ihre ethische Einstellung zu jeder Form des Krieges und der Gewalt, sondern auch gemeinsam eine neue Untersuchung der übergreifenden Fragen in Angriff zu nehmen, die weit über persönliches Gewissen und rationale Berechnung hinausreichen.“ (EMK 1987)

Die Problematik der atomaren Abschreckung kann tatsächlich als Testfeld für die Fähigkeit der Kirchen betrachtet werden, trotz der unübersehbaren friedensethischen Spannungen die kirchliche Gemeinschaft zu bewahren. In der EKD bemühten sich die sogenannten „Heidelberger Thesen“ über „Krieg und Frieden im Atomzeitalter“ darum, buchstäblich eine Formel zu finden, die einen Bruch verhindern sollte. Auch dabei stand das Empfinden im Hintergrund, gemeinsam vor einem Dilemma zu stehen, das „heute tatsächlich die Weltpolitik überschattet“ (Evangelische Studiengemeinschaft 1983, 83), nämlich entweder die Freiheit durch Atomwaffen zu schützen oder sich schutzlos jedem Angriff preiszugeben. Die Bilanz der Autorengruppe besagt: „Wir müssen versuchen, die verschiedenen im Dilemma der Atomwaffen getroffenen Gewissensentscheidungen als komplementäres Handeln zu verstehen.“ (85) Ihrem Inhalt nach schließen sie einander aus, doch verbindet sie ihr gemeinsamer Grund, die strenge und verpflichtende Ausrichtung auf den Frieden.

Diese „Komplementaritätsformel“ – „Es kann sein, daß der eine seinen Weg nur gehen kann, weil jemand da ist, der den anderen Weg geht“ (86) – wurde im Kontext des Evangelischen Kirchentages von 1967 auf das grundsätzlichere Problem des Verhältnisses von Pazifismus und Nicht-Pazifismus angewandt und in eine neue Formel umgewandelt: „Friedensdienst mit und ohne Waffen“. Beide Formeln beinhalteten eine Anerkennung und Aufwertung der Kriegsdienstverweigerung und des radikalen Waffenverzichts, eine überfällige und beachtliche Abkehr von der Jahrhunderte alten Verurteilung und Verfolgung des christlichen Pazifismus. Die „Heidelberger Thesen“ forderten diese Korrektur angesichts der nukle- aren Krise ausdrücklich und unmissverständlich ein (vgl. These VII), das II. Vatikanum vollzog sie kraft höchster lehramtlicher Autorität – nun allerdings grundsätzlich und allgemein, freilich immer noch mit einem unverkennbaren Zögern: „[…] können wir denen unsere Anerkennung nicht versagen, die bei der Wahrung ihrer Rechte darauf verzichten, Gewalt anzuwenden“ (GS 78).

Der Gedanke der Komplementarität hat ohne Zweifel der friedensethischen Auseinandersetzung ihre letzte Schärfe genommen und die Leidenschaften beruhigt, er konnte sie aber nicht stilllegen. Das gründete in seiner argumentativen Funktion in der Atomwaffendiskussion: Systematisch gesehen zielte sie darauf ab, die gegensätzlichen Positionen durch den Verweis auf ihre wechselseitige Abhängigkeit voneinander auf die gleiche Stufe zu stellen, doch weil gleichzeitig eine prinzipielle und dauerhafte Akzeptanz der atomaren Abschreckung ausgeschlossen wurde, stand diese Gleichstellung unter einem doppelten Vorbehalt: Sachlich galt sie nur dann, wenn Politik und Militär glaubwürdig und ernsthaft daran arbeiteten, die Nuklearwaffen abzuschaffen; zeitlich galt sie nur so lange, bis dieses Ziel nicht erreicht war, das heißt: für eine Phase des Übergangs.

Diesen gedanklichen Ansatz auf die ethische Bewertung von Wehrdienst und Wehrdienstverweigerung zu übertragen, bedeutete unvermeidbar, auch in die Formel „Friedensdienst mit und ohne Waffen“ einen Vorbehalt einzubauen, der ein Gefälle zwischen beiden Varianten schuf. Im Sinne der politischen und antimilitaristischen Strömung des Pazifismus hing die Legitimität des Waffen- oder Soldatendienstes an dem Bemühen, die Institution des Krieges zu überwinden. Es war nicht zuletzt dem Einfluss von Carl-Friedrich von Weizsäcker zu verdanken, dass diese Forderung im Rahmen des konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in der Ökumene weithin anerkannt wurde. Die Ökumenische Versammlung in der DDR (1988-1989) hat im ersten ihrer zwölf Ergebnistexte, der theologischen „Grundlegung“, die in der ursprünglichen Komplementaritätsformel angelegte Asymmetrie treffend auf den Punkt gebracht: „In der Zeit des Übergangs bis zu einem umfassenden System politischer Friedenssicherung treten wir vorrangig für gewaltfreie Wege des Friedensdienstes ein. Zwar ist Wehrdienst mit der Waffe mit dem Ziel der Kriegsverhütung im Prozeß der Abrüstung als vertretbarer Weg für Christen noch nicht auszuschließen, aber der gewaltfreie Weg des Friedens Christi und die schon erkennbare politische Vernünftigkeit gewaltfreier Konfliktregulierung weisen Kirchen und Christen vorrangig auf gewaltfreie Wege des Friedens.“ (Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste/Pax Christi 1990, Nr. 37)

Es liegt auf der Hand, dass damit die sozialethische Frage nach der Legitimität von „Friedensdienst mit und ohne Waffen“ direkt verknüpft wurde mit einer politischen Perspektive: Der sachliche unauflösbare Widerspruch von Waffendienst und Waffenverzicht sollte und würde verschwinden, wenn und sobald die politische Ordnung der Welt die Überwindung des Krieges ermöglicht. Auch die Rückwirkung dieses Prozesses auf die Sozialethik selbst hat die Ökumenische Versammlung genau erkannt: „Mit der notwendigen Überwindung der Institution des Krieges kommt auch die Lehre vom gerechten Krieg, durch welche die Kirchen den Krieg zu humanisieren hofften, an ein Ende. Daher muß schon jetzt eine Lehre vom gerechten Frieden entwickelt werden, die zugleich theologisch begründet und dialogoffen auf allgemein-menschliche Werte bezogen ist.“ (Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste/Pax Christi 1990, Nr. 36)

4. Leitbild „Gerechter Friede“ und Menschenbild

Eine Zeitlang konnte es scheinen, als würde mit dieser Programmatik eine tiefgreifende Wende in der Friedensethik eingeleitet, durch die sich die Kirchen in Gleichklang mit dem Gang der Weltgeschichte brachten. Die Ökumenische Versammlung in der DDR, die erstmals in deren Geschichte eine offene und öffentliche Diskussion über zentrale Fragen der künftigen Entwicklungen dieses Landes und Staates in Gang brachte und praktizierte, blieb trotz außerordentlich mutiger Urteile und Forderungen völlig im Rahmen des Ost/West-Gegensatzes, der politisch und militärisch entschärft werden sollte, dessen Auflösung sich jedoch niemand vorzustellen vermochte. Noch zur Ersten Europäischen Ökumenischen Versammlung in Basel (Mai 1989) entsandten die Kirchen in der DDR wie alle Kirchen Osteuropas eigene Delegierte und an keiner Stelle im Ablauf des Kirchentreffens noch des verabschiedeten gemeinsamen Dokuments tauchte diese Möglichkeit auf. Es ging darum, das „gemeinsame Haus Europa“ wohnlicher zu gestalten, nicht darum, es völlig umzubauen. Kurz danach zerfiel der Eiserne Vorhang und fiel die Mauer in Berlin, das Symbol der Teilung Europas und der ganzen Welt durch zwei feindliche Blöcke. Die Kirchen in der DDR hatten die Vorbereitungsphase der Ökumenischen Versammlung unter das Motto gestellt: „Eine Hoffnung lernt gehen“ (Oktober 1987). Mit einem Mal überwältigte zahllose Menschen das Gefühl, der Hoffnung seien sogar Flügel gewachsen und sie gebe von nun an den Takt der politischen Veränderungen vor.

Als die Deutsche Bischofskonferenz im Jahr 2000 ihr Hirtenwort „Gerechter Friede“ veröffentlichte, hallte darin noch etwas von dieser Begeisterung nach. Im Rückblick auf die Entwicklung seit dem Hirtenwort „Gerechtigkeit schafft Frieden“ von 1983 formulieren die Bischöfe: „Dieser Einschnitt erfordert unseres Erachtens eine ethisch begründete Neuorientierung der Friedenspolitik, deren Hauptakzent und Zielperspektive wir in programmatischer Kürze mit dem Titel des vorliegenden Schreibens zum Ausdruck bringen: Gerechter Friede.“ (DBK 2000, Nr. 1) Sie schließen sich damit ausdrücklich der Ökumenischen Versammlung in der DDR an, deren (oben angeführter) Schlüsselsatz wörtlich zitiert wird. Der Begriff des gerechten Friedens birgt folglich einen normativen Kern, den zu bestimmen mit der Aufgabe zusammenfällt, die ethische Begründung für die als notwendig erachtete „Neuorientierung der Friedenspolitik“ zu erarbeiten, aber nicht mit dieser identisch ist. Die EKD-Denkschrift „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ von 2007 erinnert an seine Vorgeschichte, räumt aber mit Blick auf die EKD ein, er sei „allerdings bislang nicht systematisch entfaltet“ worden (EKD 2007, Nr. 73).

Das Bischofswort erläutert den gerechten Frieden als „sozialethische Zielperspektive“ im Anschluss an die These, alle politischen Programme umfassten neben einzelnen Maßnahmen und Entscheidungen immer „auch ein gesellschaftliches Leitbild, an dem sich das konkrete Entscheiden und Handeln orientieren soll.“ In den Prozess der Herausbildung eines solchen Leitbildes wollen die Bischöfe das „Leitbild des gerechten Friedens einbringen. Es fasst zusammen, worin sich die biblische Botschaft vom Reich Gottes und die politische Vernunft treffen.“ (DBK 2000, Nr. 57) Die weitere Erläuterung setzt Schwerpunkte: Verantwortung für menschenwürdige Verhältnisse und Gemeinwohlorientierung gemäß den Leitprinzipien Gerechtigkeit und S olidarität. Die EKD-Denkschrift „Aus Gottes Frieden leben“ übersetzt den biblischen Begriff des Schalom, der in der gesamten christlichen Friedensethik eine tragende Rolle spielt, in einen prozessualen Friedensbegriff, der aus dem statischen Gegensatz von Krieg und Frieden herausführt und den negativen Friedensbegriff im Sinne der Abwesenheit von Krieg ergänzt und überformt durch das Leitbild des gerechten Friedens, das als normatives Prinzip friedensfördernder Prozesse fungiert. Das bedeutet inhaltlich: „Friedensfördernde Prozesse sind dadurch charakterisiert, dass sie in innerstaatlicher wie in zwischenstaatlicher Hinsicht auf die Vermeidung von Gewaltanwendung, die Förderung von Freiheit und kultureller Vielfalt sowie auf den Abbau von Not gerichtet sind.“ (EKD 2007, Nr. 80; kursiv im Original, HGS) Die Lösung des Problems zwischenstaatlicher Sicherheit sieht die Denkschrift in einem System kollektiver Sicherheit, wie es in der UN-Charta konzipiert ist, das in seiner Aufgabenstellung beschränkt ist auf „die Garantie der äußeren Bedingungen, welche die Verwirklichung eines gerechten Friedens erst möglich machen.“ (EKD 2007, Nr. 87) Dieses System schließt bestimmte Möglichkeiten legitimer Gewaltanwendung ein, die auch in der katholischen Friedensethik akzeptiert werden, obgleich die meisten christlichen Kirchen die traditionelle Lehre vom gerechten Krieg verabschiedet haben.

Die Autorinnen und Autoren der Denkschrift rechnen demzufolge mit Situationen, in denen um des gerechten Friedens willen im Bereich der internationalen Politik Gewalt ausgeübt werden muss oder jedenfalls als letztes Mittel gerechtfertigt werden kann, unabhängig davon, ob dieser Fall als „Krieg“ bezeichnet werden sollte. Das deckt sich mit der Auffassung der Deutschen Bischofskonferenz, die sich außer Stande sieht, ihn auszuschließen. Im Abschnitt über die Menschenwürde kommt das Bischofswort deshalb auf den Amsterdamer Kernsatz – „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“ – zu sprechen, aus dem später die Forderung abgeleitet worden sei, den Krieg abzuschaffen. Der Kommentar dazu ist aufschlussreich und folgenreich, denn er signalisiert eine Weichenstellung, an der die pazifistischen Teile oder Gruppen in den Kirchen vom Kurs der offiziellen Dokumente abweichen. Der Kommentar führt gegen die Forderung, den Krieg abzuschaffen, folgendes ins Feld: „Doch der Krieg lässt sich nicht per Dekret aus der Welt schaffen. Die Vereinten Nationen haben längst jeden Angriffskrieg geächtet, verschwunden ist er trotzdem nicht. Zu fest wurzelt der Drang zur Zerstörung in den Abgründen der menschlichen Seele.“ Und dann wird gleichsam als argumentativer Schlussstein ein Zitat des Zweiten Vatikanischen Konzils hinzugefügt: „Insofern die Menschen Sünder sind, droht ihnen die Gefahr des Krieges, und sie wird ihnen drohen bis zur Ankunft Christi.“ [GS Nr. 78] (DBK 2000, Nr. 60)

Diese nüchterne Feststellung und Vorausschau lässt sich nicht vereinbaren mit einer friedensethischen Konzeption, der zufolge die Lehre vom gerechten Krieg in dem Maße ihre Geltungskraft verliert und abgelöst werden kann und wird, in dem die Friedenspolitik das Leitbild des gerechten Friedens verwirk- licht. Sie enthüllt, dass der offenkundige Dissens in der Friedensethik letzten Endes nicht allein die Gegensätzlichkeit ethischer Grundpositionen betrifft, sondern begründet ist in einem Widerspruch der jeweils vorausgesetzten Sicht des Menschen. Das Konzil leitet aus der Sündigkeit des Menschen die Unmöglichkeit ab, auf politischem Weg Gewalt und Krieg vollkommen aus der Welt zu verbannen. Ein ungefährdeter Friede ist theologisch nur als eschatologische Wirklichkeit denkbar, nicht im Lauf der Geschichte zu erreichen, sondern erst an deren Ende als Vollendung der Heilsgeschichte.

Das Missverhältnis zwischen dieser anthropologischen Skepsis und der Perspektive einer pazifistisch inspirierten Politik beleuchtet ein Abschnitt aus der Kundgebung der 12. Synode der EKD auf ihrer 6. Tagung in Dresden (November 2019), der besagt: „Die Erfahrung zeigt, dass Menschen, Gemeinschaften und Staaten in der Lage sind, Probleme und Konflikte in allen Bereichen gesellschaftlichen und politischen Lebens auf konstruktive und gewaltfreie Weise zu bearbeiten. Es gibt erprobte Konzepte und Instrumente dafür, Wege aus Gewalt und Schuld zu finden, einander vor Gewalt zu schützen und Versöhnungsprozesse zu gestalten – in Friedenszeiten wie in Krisen- und Kriegssituationen.“ (Synode der EKD 2019, Nr. 1) Die „Kundgebung“ schweigt sich darüber aus, ob es zu Situationen kommen könnte, in denen all diese „Konzepte und Instrumente“ versagen und in irgendeiner Form der Einsatz von Gewaltmitteln zumindest erwogen werden muss. Ein evangelischer Sozialethiker hat der Synode vorgeworfen, diese sozialethischen Leerstelle basiere auf „einer fundamentalen theologischen Verirrung“ (Fischer 2019). In Zweifel steht hier nicht, dass es Beispiele erfolgreicher gewaltfreier Konfliktbewältigung gibt, es gibt sie tatsächlich „in allen Bereichen gesellschaftlichen und politischen Lebens“. Und das kann gar nicht anders sein, denn sonst würden immer und überall in der Welt Krieg und Gewalt herrschen, was nicht der Fall ist. Menschliches Zusammenleben in einem gerechten Frieden ist also tatsächlich möglich, weil oft und vielerorts wirklich. Daher ist das Gegenteil erklärungsbedürftig und es wäre immerhin zu erwägen, ob das nicht auch mit der Sündhaftigkeit des Menschen zu tun haben könnte, auf die das Zweite Vatikanum hinwies. Stattdessen wird stillschweigend angenommen, gegenteilige Erfahrungen hätten ihren alleinigen Grund darin, dass die „erprobten Konzepte und Instrumente“ gewaltfreier Politik nicht entschlossen genug genutzt wurden und werden.

„Es ginge auch anders. Nutzen wir die Expertise der Friedensforschung!“ – so eine pazifistische Devise mit Blick auf den Krieg gegen die Ukraine und deren militärischen Widerstand (Spiegel 2022). An genau dieser Stelle haben denn auch aus dieser Sicht die katholischen Bischöfe Deutschlands in ihrer Haltung gegenüber dem Ukraine-Krieg „katastrophal“ versagt: „Nur wer die unzähligen Studien zur Doktrin des aktiven, gewaltfreien Widerstandes nicht kennt oder zur Kenntnis nehmen will, dem wird mit Blick auf das Recht zur Selbstverteidigung („Responsibility to Protect“) nur das eine Reaktionsmuster einfallen: das der Gewalt, hier der militärischen. Die Bischöfe, die sich jüngst für Waffenlieferungen an die Ukraine ausgesprochen haben, sind diesem Kurzschluss unter- legen. Dieses erst recht, wenn sie die ethische Freigabe militärischer (Gegen-)Gewalt sozialethisch begründet sehen.“ Andere Gründe als friedenswissenschaft- liche Ignoranz vermag sich der Autor nicht für einen Standpunkt vorzustellen, der von seinem streng pazifistischen abweicht.

5. „Sicherheit neu denken“ als alternative friedenspolitische Konzeption ohne Militär

Das sicherlich ambitionierteste Projekt eines konzeptionellen Entwurfs für eine alternative Friedenspolitik mit pazifistischem Hintergrund und dem Anspruch, friedenswissenschaftlich auf der Höhe der Zeit zu sein, stellt der umfangreiche Text „Sicherheit neu denken. Von der militärischen zur zivilen Sicherheitspolitik“ dar. Den Anstoß dazu gab die Badische Landeskirche, die im Frühjahr 2012 beschloss, einen friedensethischen Diskussionsprozess zu organisieren, in dessen Verlauf 2013 eine friedensethische Erklärung entstand („Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens“) und eine Arbeitsgruppe gegründet wurde, die den Auftrag erhielt, eine diesem Dokument entsprechende friedenspolitische Konzeption zu erarbeiten. Das Ergebnis – „Sicherheit neu denken“ – wurde nicht nur veröffentlicht, sondern im Zuge einer bundesweiten Kampagne unter Mithilfe prominenter Fürsprecherinnen und Fürsprecher verbreitet und von zahlreichen Organisationen, zum Beispiel pax christi, aufgenommen oder übernommen. Seit 2019 existiert eine Initiative, die sich auf das Konzept stützt und dessen Anliegen einer Neujustierung der deutschen Politik fördert. Sie umfasst inzwischen 30 deutsche und ausländische Mitgliedsorganisationen, ist international vernetzt und bildet eigene Multiplikatoren aus, die Vorträge halten, Trainings anbieten usw. Dieser ungewöhnlich breite Ansatz rechtfertigt es, das Konzept etwas ausführlicher darzustellen und zu würdigen.

Das Konzept „Sicherheit neu denken“, das sich an den Aktionsplan der Bundesregierung „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“ anlehnt, wird in der Form eines Szenarios vorgetragen, dem zwei weitere Szenarios hinzugefügt werden, die zum Vergleich alternative Verläufe skizzieren: „schleichende Militarisierung“ und „nahe am Abgrund“. Das Positivszenario beschreibt die schrittweise völlige Umgestaltung der deutschen Sicherheitspolitik, die bis zum Jahr 2040 abgeschlossen sein soll. Die friedenspolitische Pointe liegt darin, dass dieser Wandel dem Ziel dient, die deutsche Bundeswehr überflüssig zu machen. Deutschland würde so eine Entwicklung in der internationalen Politik einleiten, in der immer mehr Länder seinem Beispiel folgen, um schließlich in einen allgemeinen Verzicht auf Militär zu münden.

Es wäre falsch, das als rein utopisches Gedankenspiel zu verstehen. Die Szenariotechnik dient dazu, einen zielgerichteten Ablauf zu entwerfen und zu veranschaulichen, um auf der Grundlage von Erkenntnissen der Friedensforschung Kreativität und Phantasie freizusetzen, die sich prinzipiell von bloßen Hirngespinsten unterscheiden. Es dreht sich darum, „die Vision einer Welt ohne Militär, in der Konflikte gewaltfrei ausgetragen und gelöst werden, möglichst konkret darzustellen und attraktiv zu machen“ (Becker/Maaß/Schneider-Harpprecht 2018, 15), um einen neuen Weg der Sicherheitspolitik zu öffnen.

Die ethische Begründung für diese neue gewaltfreie Sicherheitspolitik wird sehr knapp abgehandelt, vielleicht, weil sie sich für die Arbeitsgruppe von selbst versteht. Sie begnügt sich jedenfalls mit dem Hinweis auf das „verstärkte Engagement der Kirchen“ unter dem ökumenischen Leitbild des gerechten Friedens, bei dem Gewaltfreiheit nach Auskunft der maßgeblichen Dokumente eine große Rolle spiele. Erwähnt wird immerhin auch ein misslicher Sachverhalt: „Allerdings halten sich die Texte die Möglichkeit offen, militärische Gewalt zum Schutz von Menschen einzusetzen.“ (ebd., 24) Bedenkenswerte Gründe für diesen Vorbehalt werden nicht genannt. Ansonsten argumentiert die Arbeitsgruppe hauptsächlich mit der These: „Die derzeitige militärgestützte Sicherheitspolitik schafft keine dauerhafte Sicherheit, sondern ständig neue Unsicherheiten. “ (ebd., 6) Dem wird entgegengesetzt: „Nachhaltige zivile Sicherheitspolitik beruht auf einer Friedensethik, in der sich die Gedanken und Handlungen nicht nur auf die eigenen nationalen Interessen beziehen, sondern zugleich reflektieren, welche Folgen diese für die Menschen in anderen Ländern haben. Sicherheit besteht in dieser Perspektive (nur) als gemeinsame Sicherheit aller.“ (ebd., 13) Gemeinsame Sicherheit braucht Vertrauen, Respekt und Achtung und „erfordert die Überwindung eines Denkens in Freund-Feind-Schemata und die Fähigkeit, ohne die Projektion des Bösen auszukommen.“ (ebd., 55) Deswegen liegt ein Grund für die mangelnde Zustimmung zu einer gewaltfreien Politik darin, „dass in vielen Köpfen die Überzeugung verankert ist, dass Gewalt ‚das Böse‘ und damit die Bedrohung beseitigen kann. Dieses Denken ist Grundbestandteil der militärischen Sicherheitslogik und führt weder zu Sicherheit noch zum Frieden.“ (ebd., 7)

Auf diese Weise liefert die Arbeitsgruppe in einem Atemzug eine Erklärung sowohl für Gewalt und Krieg als auch für das bisherige Scheitern einer pazifistisch angelegten Friedenspolitik. Indirekt kommen dabei unausgesprochene anthropologische Prämissen zum Vorschein: Weder die Sündhaftigkeit des Menschen noch andere Gründe für Gewalt und Krieg werden angeführt, sondern das „Denken in Freund-Feind-Schemata“ und die „Projektion des Bösen“. Die Möglichkeit der realen Existenz von Feindschaft und Feinden oder des Bösen als Gründe für eine echte Bedrohung bleibt außer Betracht. In diesem Sinne beginnt gemäß dem Verständnis der Arbeitsgruppe echte Friedenspolitik mit der Aufklärung über die wahren Ursachen von Krieg und Gewalt, die in der herkömmlichen „militärischen Sicherheitslogik“ grundsätzlich und systematisch verschleiert werden. Sicherheit neu denken heißt folglich zuerst, Ideologiekritik betreiben.

Die Arbeitsgruppe lässt die UN-Vollversammlung im Jahr 2037 in einer fiktiven Würdigung der neuen Rolle Deutschlands erklären: „Aus der Erfahrung zweier leidvoller Weltkriege heraus hat Deutschland konsequent auf nicht-militärische Mittel umgestellt. Deutschland dient damit in vorbildlicher Weise dem kollektiven Sicherheitssystem des Friedens und der Gerechtigkeit innerhalb der EU, der OSZE und der Vereinten Nationen.“ (ebd., 26) Nun haben diejenigen Länder, die in den Weltkriegen gegen Deutschland kämpften, aus dieser Erfahrung ganz andere Konsequenzen gezogen, als die, ihre Armeen abzuschaffen. Der Grundsatz „Frieden schaffen ohne Waffen“ hat sich im Sinne einer umfassenden und vollständigen Abrüstung nirgendwo durchgesetzt, nicht einmal in Japan. Zwar wurde in der UN-Charta jeder Angriffskrieg geächtet und Gewalt als Mittel der Politik untersagt, das Recht auf Verteidigung jedoch beibehalten und darum jedem Staat eine Armee zugestanden. Es überwog offensichtlich das Bedenken, ohne Militär im Falle einer militärischen Aggression wehrlos ausgeliefert zu sein. Das Szenario begegnet diesen Einwand zum einen mit dem Verweis auf die Idee sozialer Verteidigung, zum anderen mit dem Vorhaben, das Militär durch Polizeikräfte zu ersetzen. Für eine den Vereinten Nationen unterstehende Polizeitruppe zu plädieren, bedeutet eigentlich das Eingeständnis, dass strikt gewaltfreie Konfliktlösung nicht immer möglich ist. Dem weicht die Arbeitsgruppe durch die Behauptung aus: „Polizeiliche Zwangsausübung in diesem Sinne unterscheidet sich substantiell von der militärischen Gewalt. Polizeilicher Zwang hat viel stärker den Charakter schützender Gewalt, die im Zweifelsfall eher den Straftäter entkommen lässt, als unschuldiges Leben in Gefahr zu bringen.“ (ebd., 71) Die Rede ist von „Zwang“ als Form der Gewalt, die sich einerseits „substantiell“, jedoch zugleich nur graduell („viel stärker“) von militärischer Gewalt abheben soll. Die schützende Gewalt nimmt sich im Ernstfall „eher“ zurück, nicht aber unter allen Umständen. Die naheliegende Frage, ob schützende Gewalt „im Zweifelsfall“ tödlich sein darf, unterbleibt, denn sie zu bejahen, bedeutet, die behauptete „substantielle“ Andersartigkeit schützender Gewalt im Vergleich zur militärischen Gewalt nicht länger begründen zu können.

Der radikale Pazifismus hat die ethische Legitimität tötender Gewalt immer und grundsätzlich verneint, muss dann aber nicht nur das Militär, sondern auch die Polizei verurteilen. Die Idee des „just policing“, das heißt: die Ersetzung des Militärs durch Polizei, sucht diese Konsequenz zu vermeiden, aber um den Preis, die Radikalität des Gewaltverzichts einschränken zu müssen.

6. Kritik am Konzept „Sicherheit neu denken“

Das Szenario einer vollständigen Entmilitarisierung Deutschlands enthält eine Fülle anregender Ideen und berechtigter Forderungen, provoziert allerdings auch eine Reihe ernsthafter Zweifel. Die Szenario-Technik erschwert es wegen der Mischung von Prognose und Fiktion, die Realitätsnähe der entworfenen Zukunft zu beurteilen. Immerhin steht schon jetzt fest, dass die tatsächliche Entwicklung in Deutschland, Europa und der Welt in den letzten Jahren eine recht andere Richtung eingeschlagen hat als die von der Arbeitsgruppe skizzierte. Es ereignet sich statt einer „schleichenden“ eine eher galoppierende Militarisierung, die sich schneller auf den Abgrund zubewegt als sich von ihm zu entfernen. Das ist ohne Zweifel bedauerlich und kritikwürdig, mindert aber die wissenschaftliche und politische Überzeugungskraft des Konzepts „Sicherheit neu denken“.

Eine weitere Schwierigkeit erwächst aus der Struktur der vorgestellten Friedens- strategie, die aus der Mehrdimensionalität des Leitbegriffs „Gerechter Friede“ resultiert. Der soll die inhaltliche Fülle des alttestamentlichen Ausdrucks „Schalom“ einholen, die ihren Widerhall in den fünf Politikfeldern oder „Säulen“ der angestrebten Sicherheitspolitik findet, die durch jeweils spezifische, miteinander verbundene Ziele charakterisiert werden. Unter dieser Voraussetzung sind Zielkonflikte innerhalb und zwischen den konstitutiven Politikbereichen nicht nur erwartbar, sondern unvermeidbar, zumal dann, wenn die Verteilung der erforderlichen Finanzmittel auf der Tagesordnung steht. Dieses Problem stellt sich für jede Form von Politik, selbst in Diktaturen, wird aber im Szenario völlig ignoriert. Stattdessen werden unter dem Stichwort „Hindernisse“ Ängste, Interessen oder die Fixierung auf militärische Sicherheit behandelt. Falsch dürfte diese Einschätzung nicht sein, aber für einen umfassenden Blick auf die Problematik der Imple- mentierung politischer Programme spricht sie kaum.

Die größte Schwäche des Konzepts aber ist die Folge der Absicht der Arbeitsgruppe, die Suggestion zu erzeugen, es müsse nur entschlossen und strikt genug am Prinzip der unbedingten, absoluten Gewaltfreiheit festgehalten werden, um auf allen Gebieten nationaler und internationaler Politik belastungsfähige und dauerhafte Lösungen hervorzubringen. Ein Scheitern pazifistischer Politik an der Wirklichkeit gewaltsamer Konflikte ist nicht vorgesehen, entsprechend der gängigen Idee, Gewalt und Krieg signalisierten immer ein Versagen der Politik. Dagegen ist nüchtern festzustellen, dass überhaupt keine Politik grundsätzlich davor gefeit ist zu scheitern, und dafür eine Vielzahl von Ursachen und Grün- den maßgeblich sein können. Wenn es sich aber so verhält, dann muss verantwortliche Politik Vorsorge für den Fall eines Scheiterns von Prävention treffen und sie darf den Einsatz bewaffneter Gewalt durch Polizei und Militär nicht von vorneherein ausschließen. Wer das trotzdem tut, muss ebenfalls unschuldige Opfer verantworten, und zwar durch Unterlassen statt durch Tun.

7. Schlussbemerkung

Politische Entscheidungen, die mit Krieg und Frieden zu tun haben, werden in Deutschland meist leidenschaftlich diskutiert und die christlichen Kirchen waren an diesen Debatten stets stark beteiligt. Ihr Einfluss auf die Politik war sicherlich begrenzt, aber bedeutsamer, als Pazifisten anzunehmen pflegen, weil der radikale Pazifismus in Kirche, Öffentlichkeit und Politik immer eine Minderheitsposition blieb. In ihrer deutlich überwiegenden Mehrheit haben sich die Kirchen auf die „vorrangige Option für die Gewaltfreiheit“ verständigt, um der Wirklichkeit gewaltsamer Rechtsbrüche Rechnung zu tragen, denen unter Umständen gewaltsam begegnet werden muss. Aus der Sicht strenger Pazifisten haben sie damit eine Hintertür offen gehalten, durch die wie bei einer Überflutung der erstickende Schlamm der Gewalt ungehindert eindringen kann. Für die Kirchen ist die Priori- sierung der Gewaltfreiheit durchaus vereinbar mit der fallweisen Entscheidung, Gewalt mit Gegengewalt zu beantworten. Solche Entscheidungen mögen außeror- dentlich schwierig sein, sie erzeugen jedoch kein ethisches Dilemma. Ein absolutes Gewaltverbot führt auch nicht zu einem Dilemma, steht aber in einem unüberbrückbaren Gegensatz zu jeder Ausnahme. Das gilt umso mehr, wenn jede Ausübung und Anwendung von Gewalt per se gegen den Willen Gottes verstößt, denn das wäre Sünde und als solche unbedingt verboten, nicht nur die kriegerische Form der Gewalt. Ob dieses Urteil biblisch, theologisch und ethisch zwingend begründet werden kann, ist seit langem in der Christenheit strittig, und ein Ende dieses Streits steht nicht zu erwarten, am wenigsten in Zeiten des Krieges.


Literatur

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Editorische Anmerkungen

Prof. i.R. Dr. Heinz-Günther Stobbe, bis 2013 Professor für systematische Theologie und theologische Friedensforschung an der Universität Siegen, Gründungsmitglied und langjähriger Sekretär der SOCIETAS OECUMENICA (Europäische Gesellschaft für ökumenische Forschung), mehrere Jahrzehnte Mitherausgeber der ökumenischen Zeitschrift UNA SANCTA und Mitglied im Beirat des Instituts für Theologie und Frieden (Hamburg/Barsbüttel), Mitglied der Deutschen Kommission Justitia et Pax der DBK. Forschungsinteressen: Phänomenologie von Gewalt und Krieg, Friedensethik, Ekklesiologie, Ökumene und Frieden.

Quelle: ET-Sudies. Journal of the European Society for Catholic Theology, 14 (1), 2023, S. 25–42. Mit freundlicher Genehmigung.