Auslaufmodell oder Zukunftsaufgabe? Zur Woche der Brüderlichkeit:
Der christlich-jüdische Dialog auf dem Prüfstand

Der Beitrag, in der Jüdischen Allgemeinen Wochenzeitung anlässlich der Woche der Brüderlichkeit 2003 veröffentlicht worden, reflektiert über Erfolge und Mißerfolge des christlich-jüdischen Dialogs in den letzten 50 Jahren, insbesondere aber über seine Herausforderungen in der Zukunft.

Auslaufmodell oder Zukunftsaufgabe?

Zur Woche der Brüderlichkeit:

Der christlich-jüdische Dialog auf dem Prüfstand

Die Beziehungen zwischen Christen und Juden in unserm Land scheinen gut zu laufen. Wer wollte, konnte das am vergangenen Sonntag bei der Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit in Münster erleben.


Der Deutsche KoordinierungsRat, der Dachverband der inzwischen über achtzig Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, hatte geladen. Und viele kamen, auch politische, kirchliche und gesellschaftliche Prominenz, unter anderem der Ministerpräsident des gastgebenden Landes und sogar der Bundespräsident. Die Buber-Rosenzweig-Medaille, die höchste Auszeichnung der Christlich-Jüdischen Gesellschaften, wurde dem Außenminister der Bundesrepublik, Joschka Fischer, verliehen und dazu hielt der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, die Laudatio.


Gewiß keine Kleinigkeiten. Ausdruck gegenseitiger Achtung und Wertschätzung, ja gewachsenen Vertrauens. In der Tat, das Verhältnis zwischen Christen und Juden hat sich in Deutschland in den letzten fünfzig Jahren grundlegend verändert. Über Jahrhunderte standen die Beziehungen unter dem Vorzeichen ideeller Gegnerschaft und praktizierter Feindschaft, bestimmten christlicherseits Verachtung und Verfolgung bis hin zur Eliminierung und jüdischerseits Abneigung, Abwehr und Abgrenzung das Verhältnis. Im Schatten der Schoa hat sich ein Prozeß der Umkehr und des Umdenkens angebahnt. Die christlichen Kirchen haben begonnen, ihre traditionellen antijüdischen Einstellungen kritisch zu sichten, schuldhaftes Versagen zu bekennen und im Verhältnis zu Juden und Judentum neue Wege zu beschreiten. Die Abwehr des Antisemitismus, die Förderung der jüdischen Gemeinschaft und das Eintreten für das Existenzrecht des Staates Israel wurden Grundpfeiler deutscher demokratischer Politik. Daß dies geschehen ist, dazu haben nicht zuletzt die seit 1948 gegründeten Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in der alten Bundesrepublik wichtige Basisarbeit geleistet. Wer sich auskennt, wer die Verästelungen der genannten Prozesse kennt, wird dies bestätigen.


Und dennoch stellt sich heute dringlich die Frage, ob der christlich-jüdische Dialog noch Zukunft hat oder ein Auslaufmodell ist. Wie weit erweist sich das bisher Erreichte als tragfähig?


Schon jetzt bröckelt manches, zeichnen sich drohende Veränderungen und Verwerfungen ab. Antijüdische und antisemitische Stimmung - als Bodensatz stets vorhanden - macht sich in unserer bundesrepublikanischen Gesellschaft verstärkt bemerkbar, läßt sich politisch sogar wieder instrumentalisieren. Alte Gespenster rassistischer Gesinnung verlassen die Keller und rühren sich in aller Öffentlichkeit. Auch in den Etagen der gesellschaftlichen Eliten fallen die Hemmschwellen. Das Ende der "Schonzeit" für Juden und Jüdisches wird deklariert. Aber nicht nur das. Der christlich-jüdische Dialog selbst verliert an Fahrt, aus mannigfachen Gründen. Schon immer war er - hier wie dort - nur eine Sache weniger. Und nun tritt die Generation der von der Schoa noch unmittelbar Betroffenen ab. Das Lebensthema der Nachkommenden ist nicht mehr der Schatten der Vergangenheit. Viele können dazu mit der im Begriff "christlich-jüdisch" enthaltenen religiösen Komponente wenig oder gar nichts mehr anfangen, nicht nur in den neuen Bundesländern, auch in den alten. Der "Bedarf" für christlich-jüdische Beziehungen nimmt ab. Das gilt für beide Seiten.


Die jüdische Gemeinschaft steht mehr denn je vor der Aufgabe, nach der Vernichtung des vielfältigen, traditionsreichen jüdischen Lebens in Deutschland wieder Boden zu gewinnen und Gestalt zu finden. Die seit 1990 aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion zugewanderten jüdischen Familien wollen integriert werden, sozial und kulturell; und darüber hinaus muß auch dafür gesorgt werden, daß sie religiös Fuß fassen. Wie soll man sich da noch groß auf die Thematik christlich-jüdischer Beziehungen einlassen? Dazu kommen grundsätzliche Vorbehalte. Im kollektiven Gedächtnis, zum Teil auch in der persönlichen Erinnerung trägt das christliche Gegenüber überhebliche, bedrohliche Züge. Manche, namentlich orthodoxe, Kreise lehnen den christlich-jüdischen Dialog ab, weil sie ihn als eine verkappte Art christlicher Unterwanderung beargwöhnen.


Auch auf der christlichen Seite stagniert das Interesse, zum Teil nimmt es sogar ab. In den akademischen Ausbildungsstätten des theologischen Nachwuchses, an den theologischen Fakultäten und Hochschulen spielen die Kenntnis des Judentums und das jüdisch-christliche Verhältnis nach wie vor eine untergeordnete Rolle. Es sind Einzelkämpfer, die sich dem widmen. In den Studien- und Prüfungsordnungen ist solches, wenn überhaupt, nur marginal verankert. Die sich verstärkt wieder ausbreitenden neoliberalen und neokonservativen Spielarten protestantischer und römischer Theologie sehen in der Beziehung zum Judentum kein zentrales Thema, beide reden eher christlicher Überlegenheit das Wort. Und in den Kirchen? Ihre grundsätzlichen Verlautbarungen sind dialogisch eingeschworen, aber an der Basis hat sich das nicht überall herumgesprochen. Judenmissionarische Töne werden nicht nur in fromm-fundamentalistischen Gruppen laut, auch manche Amtsträger lassen sie vernehmen. Missionarische Aktionen bleiben zwar verpönt, aber mit einer theologisch begründeten, eindeutigen Absage haben viele ihre Schwierigkeiten. Inzwischen wurden zwar in einigen kirchlichen Grundordnungen Hinweise eingefügt, in denen die Verankerung christlichen Glaubens in der Geschichte Gottes mit dem jüdischen Volk betont wird, vom ungekündigten Bund Gottes mit seinem Volk gesprochen wird, aber das geschah nicht ohne offenkundige Widerstände und blieb zudem bislang auf einige wenige kirchliche Provinzen beschränkt. Und mancherorts formieren sich Bewegungen, die das bisher Erreichte einschränken, sich von ihm absetzen oder es gar in Frage stellen. Aktuell sind in jedem Fall andere Themen und Fragen. Binnenprobleme, die zunehmende Abnahme der Mitgliederzahlen, der Verlust an gesellschaftlicher Relevanz, machen den Kirchen zu schaffen. Als Bremse in den christlich-jüdischen Beziehungen wirkt zudem der israelisch-palästinensische Konflikt. Kritische Loyalität schlägt um in einseitig kritisierende Distanzierung. Beiden Seiten gerecht zu werden, will schwer gelingen.


Alles keine besonders guten Aussichten für den weiteren Dialog. Wochen der Brüderlichkeit, so eindrucksvoll sie eröffnet werden, können darüber nicht hinwegtäuschen. Was bleibt? Aufgeben, sich zurückziehen? Im Gegenteil. Nach wie vor gilt, was vor über fünfzig Jahren Leo Baeck im Schatten der Vergangenheit und im Blick auf die Zukunft niedergeschrieben hat: "Judentum und Christentum sollen einander Ermahnung und Warnung sein: das Christentum das Gewissen des Judentums und das Judentum das Gewissen des Christentums. Diese gemeinsame Basis, diese gemeinsame Möglichkeit, diese gemeinsame Aufgabe, zu deren Erkenntnis sie geführt werden, wird für sie ein Ruf sein, aufeinander zuzugehen. Und dann werden die beiden imstande sein, zusammen ihren Platz einzunehmen, nicht wider einander, sondern Seite an Seite vor dem Forum des Allmächtigen, dem Richtstuhl, vor dem Juden und Christen sich jeden Tag gleichermaßen geladen wissen." Diese Aufgabe bleibt, dringlicher denn je angesichts der globalen und lokalen Verwerfungen unserer Zeit. Ob das Projekt des christlich-jüdischen Dialogs eine Perspektive für die Zukunft hat, wird sich daran entscheiden, ob es gelingt, Juden und Christen, Jüdinnen und Christinnen so zusammen zu bringen, daß sie in gesellschaftlichen Grundsatzfragen und auch in aktuellen Einzelfragen vor Ort in und gegenüber einer immer stärker säkularisierten Welt ihre Stimme erheben und zusammen aktiv werden. Was bislang unter dem Vorzeichen des christlich-jüdischen Dialogs geschehen ist, waren Vorarbeiten dazu, notwendige, im vollen Sinn notwendige Vor-arbeiten. Manches, ja vieles ist dabei erreicht worden. Aber die Bewährung, die auf wirkliche Zusammenarbeit ausgerichtet ist, steht noch aus. Und hierzu bedarf es möglicherweise auch einer neuen, jüngeren Generation an Dioalogpartnern. Das Wort des Propheten Micha (6,8), das dem diesjährigen Jahresthema der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit zugrunde liegt, könnte dabei den Grundakkord angeben: "Angesagt hat man"s dir, Mensch, was gut ist; und was fordert Er von dir sonst, als Gerechtigkeit und Liebe üben und bescheiden gehen mit deinem Gott."

Editorische Anmerkungen

Quelle: Jüdische Allgemeine Wochenzeitung, 12. März 2003