Auge für Auge' - Das Schadensgesetz

Artikel aus dem Buch des Autors: Zur Freiheit berufen: Das Buch Exodus in jüdischen und christlichen Traditionen.

Göran Larsson

Zur Freiheit berufen

Das Buch Exodus in jüdischen und christlichen Traditionen

„Auge für Auge“ – Das Schadensgesetz

Zunächst geht es um den Fall einer Körperverletzung während einer Auseinandersetzung: Der Täter ist haftbar zu machen und hat für die Zahlung des durch Lohnverlust und Arztkosten entstandenen Schadens aufzukommen.... Der nächste Fall dreht sich um eine Schwangere, die infolge eines Traumas eine Frühgeburt erlitten hat. Ihr wird eine Entschädigung zugesprochen, auch wenn sie und das Kind keinerlei bleibenden Schaden davongetragen haben...

Das darauf folgende Strafprinzip ist wohl das bekannteste, meist diskutierte und mißverstandene der gesamten Bibel. Es wird manchmal als „Vergeltungsgesetz“ oder, in juristischer Fachsprache, als ius (oder lex) talionis, nach dem lateinischen Wort für „Gesetz“ und talio, d.h. Vergeltung, bezeichnet. „Auge für Auge, Zahn für Zahn“ ist für viele Menschen die knappe Wesensbeschreibung des sogenannten alttestamentlichen Gottes und einer der Gründe für die Charakterisierung des Alten Testaments und der jüdischen Ethik als hart, brutal und unmenschlich. Dieses Gesetz hat endlose antijüdische Ausbrüche auf den Kirchenkanzeln und in der theologischen Literatur entfacht. Es ist auch die Grundlage für Shakespeares Shylock in „Der Kaufmann von Venedig“, einem boshaften Porträt, das den Massen für viele Jahrhunderte das Image des mythologischen, habgierigen Juden und seines angeblich unbeugsamen, harten Gerechtigkeitsverständnisses eingeprägt hat...

In der Bibel und in jüdischer Tradition 

Ungeachtet des Prinzips „Auge für Auge, Zahn für Zahn“ ist die Verstümmelung eine praktisch in der Bibel unbekannte Bestrafung. Nur an einer Textstelle wird eine derartige Strafmaßnahme erwähnt: Dtn. 25,11-12. In diesem Fall gelangt jedoch offensichtlich nicht die Regel „Auge für Auge, Zahn für Zahn“... zur Anwendung. In jüdischer Tradition geht es bei „Auge für Auge, Zahn für Zahn“ ausschließlich um finanzielle Kompensation und nichts anderes.

Es gibt verschiedene Gründe, warum diese Interpretation das Vergeltungsprinzip (wenn dies überhaupt jemals zur Anwendung gelangte) ersetzt hat. Rabbinische Kommentare führen ebenso biblische wie humanitäre Argumente an, um nachzuweisen, daß die wortwörtliche Anwendung dieses Gesetzes unbiblisch, ungerecht, absurd und unmöglich ist.

Im Hinblick auf den sprachlichen Aspekt des Problems gilt festzuhalten, daß die hebräische Präposition, die mit „für“ in „Auge für Auge“ (tachat) übersetzt wird, auch „anstelle von“ und „als Entschädigung für“ übersetzt werden kann (siehe z.B. Gen. 4,25). Gleiches gilt für die griechische Präposition anti, die in der Septuaginta verwendet wird.

Die Regel erscheint darüber hinaus in einem breiteren Kontext, in dem es um Schaden und Beschädigungen, nicht um Vergeltung geht (siehe 21,18-22, 26-36). In Ex. 21,26-27 ist ganz eindeutig, daß der Verlust des Auges und des Zahns zu einer Entschädigung führt, mit anderen Worten, der Sklave muß freigelassen werden. Man kann dieses Prinzip der Entschädigung daher auch mit Recht verallgemeinern und auf die vorangehenden Verse beziehen.

Auch in Lev. 24,17-21 kann eine Verbindung zwischen dem Gesetz („Auge für Auge, Zahn für Zahn“) und der Kompensation im Schadensfall erkannt werden. Im Vers 18 bringt die Wendung „Leben für Leben“ das Prinzip zum Ausdruck, daß jemand, der ein Stück Vieh aus der Herde eines anderen tötet, eine Entschädigung zahlen muß. In Vers 21 wird weiterhin betont, daß die Regel der Entschädigung nur bei der Tötung eines Tieres zur Anwendung gelangt, nicht im Falle eines Mordes an Menschen. Menschliches Leben ist jenseits jeden materiellen Wertes, für den eine Entschädigung geleistet werden kann. In gleicher Weise legt Num 35,31 fest, daß es kein Lösegeld „für das Leben eines Mörders“ gibt. Hieraus kann abgeleitet werden, daß die Bibel die Möglichkeit offenläßt, in allen anderen Fällen eine Entschädigung zu zahlen, d.h. in Fällen, in denen es ausschließlich um Körperverletzung geht.

Die Rabbiner betonen darüber hinaus, daß es ungerecht und unmöglich ist, „Auge für Auge“ wörtlich anzuwenden. Ungerecht, da das Auge und jeder andere Körperteil von individueller Bedeutung für jeden Einzelnen ist. Die Bestrafung, z.B., wäre unfair, wenn sie an einer Person vollzogen wird, die bereits auf einem Auge blind ist, und es wäre übermäßig hart für eine behinderte Person, ein Bein oder eine Hand zu verlieren. Der Schaden, der durch verschiedene Verletzungen verursacht wird, hängt weiterhin auch mit dem Beruf eines Menschen zusammen. Die Hand ist für einen Handwerker naturgemäß wichtiger als für einen Lehrer. Mit anderen Worten: Dem strikten Gerechtigkeitswillen des Gebotes würde durch eine wörtliche Interpretation und Anwendung nicht entsprochen werden...

Es sollte schließlich auch betont werden, daß „Auge für Auge“ niemals zur Rechtfertigung privater Vergeltung angewendet werden kann. Dies leitet sich aus dem einfachen, aber grundsätzlichen Prinzip der Interpretation der Schrift durch die Schrift ab. Das Liebesgebot in Lev. 19,18 wird durch das Verbot eingeleitet „Du sollst dich nicht rächen, noch Zorn bewahren.“ Es wird hier eindeutig, daß „Auge für Auge“ nicht für jemanden gilt, der eine Verletzung erlitten, sondern für jemanden, der sie zugefügt hat. Wir könnten sogar sagen, das biblische Gebot ist die Grundlage der goldenen Regel: „Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.“ (Mt. 7,12)

In der Bergpredigt 

Trotzdem wurde in späteren Zeiten der Grundsatz „Auge für Auge, Zahn für Zahn“ für viele Christen zum Inbegriff jüdischen Gesetzes und jüdischer Ethik, ein Prinzip, das als Rechtfertigung für Vergeltung und Rache galt. Hauptursache dafür ist ohne Zweifel die Art und Weise, in der der Vers in der Bergpredigt zitiert wird: „Ihr habt gehört, daß gesagt worden ist: ‘Auge für Auge, Zahn für Zahn’. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand.“ (Mt. 5,38 -39)

Nach der allgemein üblichen christlichen Interpretation hebt Jesus hier das Gesetz der Vergeltung auf und ersetzt es mit dem Gesetz der Liebe. Ein derartiges Verständnis jedoch widerspricht Jesu eigenen Worten über „das Gesetz“ zwanzig Verse zuvor (Mt. 5, 17-18 - siehe Kästchen), die von einem jüdischen Gelehrten bedeutsam wie folgt charakterisiert wurden: „In der gesamten rabbinischen Literatur kenne ich keine unmißverständlichere, glühendere Anerkennung der Heiligen Schrift Israels als diese Eröffnung der Unterweisung auf dem Berge.“

Der griechische Urtext liest eigentlich kein „aber“ zwischen Jesu Bibelzitat („Ihr habt gehört, daß gesagt worden ist...“) und seiner Erklärung des Zitats („Ich sage euch...“). Eine angemessenere Übersetzung, die der griechischen Syntax eher gerecht wird, sollte lauten „Und ich sage euch sogar.“ In dieser Hinsicht sind nahezu alle Übersetzungen irreführend. Sie reflektieren wahrscheinlich das allgemeine Vorurteil, Jesus habe sich gegen „das Gesetz“ gestellt. Wenn dies aber nicht der Fall ist, was meint er dann in den Versen Mt. 5,38-39? Zunächst wird deutlich, daß er sich gegen ein vulgäres, wörtliches Verständnis von Ex. 21,24 stellt. Nichts liegt ferner als der Versuch, Jesu Lehre in einen Gegensatz zur jüdischen Tradition zu stellen oder gar zu behaupten, Jesus widerspreche den Geboten als solchen. Seiner Meinung nach sind die Gebote vollkommen: Wie könnte es auch angesichts seiner Worte in Mt. 5,17-18 anders sein! Er spricht vielmehr die menschliche Interpretation und Implementation der Gebote an. In diesem Fall denkt er wohl an Gruppen und Einzelne, ... die die Gebote als Vorwand für persönliche Vergeltung mißbrauchen. Wie wir gesehen haben, wurde ein derartiges Verständnis des „Auge für Auge“ im Judentum niemals normativ. Es ist in der Tat bedauerlich, daß so viele Bibelinterpreten Jesu Worte benutzt haben, um dem jüdischen Volk Ansichten zuzuschreiben, denen das Judentum selbst konsequent widerspricht. Nur allzu oft werden die Verse Mt. 5, 21-48 als „Antithesen“ bezeichnet. (...) Die einzigen „Antithesen“, die hier aufgestellt werden, sind die zwischen einer guten Lehre „des Gesetzes“ und einem menschlichen Mißbrauch der göttlichen Offenbarung zu eigennützigen Zwecken. In dieser Hinsicht teilen Juden und Christen noch immer die gleiche Sorge wie Jesus und die Rabbiner vor zweitausend Jahren.

Jesus und das Gesetz

„Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. Amen, das sage ich euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist.“ (Aus der Bergpredigt, Mt. 5,17-18)

Editorische Anmerkungen

Auszug aus dem Buch von Göran Larsson, Zur Freiheit berufen. Das Buch Exodus in jüdischen und christlichen Traditionen.