Prof. Dr. Berndt Schaller zum
81. Geburtstag gewidmet
I. Eine Glaubensgemeinschaft zwischen Juden, Christen und Muslimen?
In Publik-Forum 19/2010 sowie in »Blickpunkt.e« 6/2010 (Materialien zu Christentum, Judentum, Israel und Nahost des Ev. Arbeitskreises für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau) hat der Tübinger röm.-kath. Theologe Karl-Josef Kuschel einen Artikel mit dem programmatischen Titel »Mein Koran« veröffentlicht.[1] Dieser Artikel verdient eine ausführliche Erwiderung, weil sich an ihm exemplarisch die Problematik eines »Trialogs« zwischen Juden, Christen und Muslimen zeigt. Dahinter steht, mehr oder weniger deutlich ausgesprochen, die Frage an die Christenheit, ob sie den Koran, den Propheten Mohammed und den Islam insgesamt (einschließlich seines Rechtssystems, der Scharia) in ihr »religiöses System« oder ihr »religiöses Paradigma« einordnen kann.[2] Kuschel beantwortet diese Frage mit einem eindeutigen »Ja«. Seine zentrale These, wonach »Juden, Christen und Muslime eine Glaubensgemeinschaft mit einem unverwechselbaren Profil [bilden]« (35), scheint Judentum, Christentum und Islam zu Konfessionen einer neuen Metareligion zu machen. Die praktischen Konsequenzen sind weitreichend und berühren selbst die theologische Ausbildung: »Es ist hohe Zeit, sie [sic. die Glaubensgemeinschaft] für ein Bewusstsein gemeinsamer Verantwortung zu nutzen, sich etwa zu vernetzen bei der Ausbildung von Rabbinern, Pfarrern und Mullahs. ›Trialogisch‹ denken lernen sollte die Parole der Zukunft lauten« (ebd.).
Koran auf der Kanzel und Evangeliumspredigt in der Synagoge?
Christliche Pfarrerinnen und Pfarrer lernen künftig also nicht mehr nur von jüdischer Schriftauslegung (etwa im Rahmen des Programms »Studium in Israel«), lernen nicht mehr nur Hebräisch, um die Bibel Israels in ihrer Sprache zu lesen, zu hören und kritisch zu fragen, inwieweit sie Gottes Wort sei, nein, sie lernen künftig auch Arabisch, legen den Koran im Gottesdienst aus und predigen die Scharia. Dabei gilt: »Man begreift nichts vom Koran, wenn man ihn nur nach ›Inhalten‹ absucht. Die komplexe Formen- und Bildersprache, seine rhetorischen und dramaturgischen Stilmittel gehören zum Verstehen dazu« (34). Dieses Verstehen ist eigentlich nur dem arabisch sprechenden Koranleser möglich: »Jeder nicht arabisch sprechende Leser oder Hörer (und das ist die große Mehrheit auch der Muslime weltweit) muss sich stets klar sein: Das originale Arabisch des Korans hat eine einzigartige sprachliche und poetische Form. … In einer fremden Sprache ist das kaum darstellbar« (33).
Wie diese er-greifende, den Leser/die Leserin des Koran stellende, aufrüttelnde, ermahnende, beschwörende, erinnernde und tröstende (vgl. 34) Anrede allerdings, wie behauptet, »ins Ohr, ins Herz, in den Körper« auch der nicht arabisch sprechenden und verstehenden Mehrheit der Muslime gelangt, bleibt Kuschels Geheimnis. Umso wichtiger also, dass zumindest die Pfarrerinnen und Pfarrer, natürlich auch die Rabbiner, sich den Koran so aneignen können, dass er ihnen »ins Ohr, ins Herz, in den Körper« eingeht. Wir dürfen gespannt darauf sein, wie dieses »Programm« von Rabbinern und Mullahs aufgenommen wird. Lernen beide nun Griechisch, um sich in der Sprache des NT dieses ebenfalls »ins Ohr, ins Herz, in den Körper« einzuverleiben und der Tiefe der Christologie und dem »Wort vom Kreuz« nachzuspüren? Lernen die Mullahs Hebräisch, um dem Geheimnis der Erwählung Israels in Abraham, Isaak (und eben nicht Ismael!) und Jakob, dem Geheimnis der NAMENsoffenbarung des Gottes Israels vor Mose, in Bund und Tora nachzuspüren, nachzudenken und dies auf ihren Kanzeln zu predigen, den Muslimen dies so zu predigen und in ihren Koranschulen zu lehren, dass es ihnen »ins Ohr, ins Herz, in den Körper« eingeht? Dann wäre dies das Ende aller Vorstellungen von der letztgültigen Offenbarung Gottes durch Mohammed im Koran. Dann wäre der Koran, dann wäre Mohammed eine Stimme im vielfältigen jüdisch-christlich-muslimischen Stimmengewirr. Aber nicht mehr »die« Stimme. Das scheint undenkbar. Genauso undenkbar, dass das Judentum seine Erwählungs- und Toratheologie dem Propheten wenn nicht nachordnet, so doch beiordnet. Dasselbe gilt für das Christentum und seinen Umgang mit der nach christlichem Verständnis letztgültigen Offenbarung des Gottes Israels in dem Messias Jesus (vgl. Joh. 17,3).
Auch wenn Kuschel die Behauptung aufstellt, dass man den Koran nicht verstehe, wenn man ihn »nur« nach Inhalten absuche, so muss doch im Dialog auch nach Inhalten gesucht und müssen diese diskutiert werden. Im Bezug auf diese Inhalte behauptet Kuschel, dass die besondere »Originalität« des Koran gerade nicht in neuen Inhalten, sondern im »rhetorischen Gestus« liege (34). Im Umkehrschluss bedeutet dies: Der Koran sagt nichts Neues gegenüber der jüdischen Bibel und dem NT. Vielmehr bestätigt er ausdrücklich »die früheren Offenbarungen in Tora (Mose), Psalter (David) und Evangelium (Jesus).« Kuschel verweist auf Sure 42,13, wonach es keine »Spaltung« zwischen dem geben solle, was Gott von Abraham über Noah und Jesus an Religion verordnet habe. Kuschel übersieht dabei, dass diese »Einheit« von Abraham über Noah, Mose und Jesus für den Koran nicht in einer neuen Megareligion jenseits von Judentum, Christentum und Islam zu suchen ist, sondern dass der Islam selber, die Umma, diese allumfassende Einheit darstellt und beansprucht. Deshalb ist die muslimische Deutung und Interpretation, die von Kuschel sog. »relecture« von Abraham Noah, Mose und Jesus nicht identisch mit jüdischer und christlicher Selbstinterpretation der genannten Größen. Sie ist andererseits aber eben auch keine Deutung neben anderen, sondern beansprucht die letztgültige, entscheidende und vor Gott einzig »richtige« Deutung zu sein. Nach koranischem Selbstverständnis ist er göttlichen Ursprungs, Wort für Wort die (einzig) wahre Offenbarung (Sure 36,69-70), er ist nicht erschaffen, sondern existiert von Ewigkeit her im (siebten) Himmel (Sure 43,2-3). Dem Koran kommt somit göttlicher Charakter zu. Nicht Bibel und Koran stehen auf einer Stufe, sondern der Koran nimmt faktisch die Stelle ein, die im Christentum dem Christus zukommt. Demgegenüber bezeugt das AT die an Abraham, Mose und die Propheten erfolgte Offenbarung Gottes in der Schrift. Im NT geschieht die Selbstoffenbarung Gottes im fleischgewordenen Wort Jesu. Von einer Buchwerdung des Wortes Gottes wie im Koran kann also keine Rede sein.[3] Die von Kuschel eingeforderte und behauptete eine Glaubensgemeinschaft aus Juden, Christen und Muslimen gibt es deshalb vom Selbstverständnis des Koran her nur innerhalb des Islam auf der Basis des Koran als der Krönung der Offenbarung.
Streit um den gekreuzigten Gott
Besonders eindrücklich wird dies an der von Kuschel angeführten Interpretation des Kreuzes Jesu. Die Vorstellung eines gekreuzigten Gottes[4] (besser: des gekreuzigten Gottessohnes), eines Gottes, der den Sohn an das Leiden der Welt und das Gericht über die gottlose Welt dahingibt und eines messianischen Sohnes Gottes, der sich selber an dieses Leiden und dieses Gericht im Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes ausliefert, ist für den Koran undenkbar. Kuschel zitiert Sure 4,157, wonach Jesus nicht getötet wurde, sondern Gott ihn zu sich vor der Kreuzigung erhoben habe. Dahinter verbirgt sich ein metaphysisches Verständnis der Leidensunfähigkeit Gottes. Es war ein langer Weg für die Christenheit (zumindest in ihrer evangelischen Gestalt), dieses philosophisch-apathische Gottesbild in Umkehr zur biblischen, jüdischen[5] und frühchristlichen Tradition hinter sich zu lassen.[6] Im Islam begegnet uns erneut dieses theistische Gottesbild und fordert zur Auseinandersetzung mit den eigenen Bildern und Vorstellungen heraus. In Kuschels Argumentation wird nun allerdings dieser Theismus verteidigt. Er kann, was für das NT grundlegend ist, die Liebe Gottes und das Kreuz Jesu als Ort des Leidens Gottes an der Welt und des Gerichtsleidens Jesu für die Welt in klassischer metaphysischer Tradition (Apathie-Axiom) nicht zusammendenken (35). Kuschel bekräftigt den muslimischen Einwand gegen die Christologie damit, dass es dem Koran hier nicht um »billige Polemik« gehe, sondern »um Gottes und Jesu willen« so argumentiert werde. Dies wolle er ernst nehmen (35). Damit wird der Kern des christlichen Glaubens preisgegeben, nämlich der Glaube an den Gott Israels, der sich am Kreuz Jesu und in seiner Auferweckung als der Gott offenbart, der gerecht ist (was das heißt, lernen Christen und Christinnen aus der jüdischen Bibel!) und den Gottlosen gerecht macht. Gottes Gerechtigkeit ereignet sich jenseits aller billigen Gnade und aller Rede vom »lieben Gott« aber eben auch jenseits eines metaphysischen Theismus muslimischer Spielart durch das Gericht am Kreuz hindurch.[7] Wird dies um »Gottes und Jesu« willen preisgegeben, wird der christliche Glaube zum abstrakten »Monotheismus«[8] und Jesus zu einem prophetischen Vorläufer des letzten Propheten Mohammed.Kuschel fordert letztlich nichts anderes als Mohammed als Propheten in den biblischen Kanon aufzunehmen und damit faktisch den Koran zur heiligen Mit-Schrift von Juden und Christen zu machen.[9] Angesichts des koranischen und muslimischen Selbstverständnisses muss man sich die Konsequenzen verdeutlichen: Dies wird zum Einfallstor der einen Glaubensgemeinschaft aus Juden, Christen und Muslimen im Schoß der islamischen Umma – unter Preisgabe der Christologie.
Unterschiede zwischen jüdischer und muslimischer Kreuzeskritik
Auch das Judentum lehnt den »gekreuzigten Gott« in Jesus Christus ab. Treffen sich hier nicht jüdische und muslimische Kreuzeskritik? Dieser Einwand ist nicht unberechtigt. Er belegt fürs Erste jedoch nicht mehr als die Weisheit des paulinischen Satzes in 1. Kor. 1,23 (»den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit«). Schaut man genauer hin, dann lehnen Juden nicht deshalb das Kreuz Jesu ab, weil sie Leiden und Gott für unvereinbar halten, sondern weil sie im Leben, Leiden und Sterben Jesu nicht das sichtbare, alles verändernde Kommen des Reiches Gottes sehen können. Hier hängt alles am Verständnis und der Unterscheidung von »Versöhnung« und »Erlösung« und natürlich an der Erfahrung, Erkenntnis und theologischen Deutung der Auferweckung des Gekreuzigten. Die enthusiastische Erlösungs- und Erfüllungsmetaphorik christlicher Interpretation der Auferweckung des Gekreuzigten hat nicht unwesentlich zu diesen jüdischen Vorbehalten beigetragen.
Die neuere Israeltheologie hat jedoch herausgearbeitet, wie Kreuz und Auferweckung Jesu aus christlicher Sicht unlösbar mit der Kreuzes- und Leidensgeschichte des Judentums verbunden sind. Aus christlicher Sicht, und nur die kann hier eingenommen werden, sind die Einheit und Identität des Gottes Israels mit dem messianischen Gottessohn in Solidarität mit dem »gekreuzigten« Volk Israel und die Erfahrung der Ausgießung des Heiligen Geistes auf »alles Volk« die zur Trinitätslehre geradezu zwingende dreifache Gotteserfahrung des einen Gottes. Die Trinitätslehre also hält jüdische und christliche Gotteserfahrungen im Raum des einen Gottes Israels als »geselliger Gottheit« (K. Marti) beieinander, macht die bleibende Bezogenheit des christlichen auf jüdischen Glauben sichtbar und gibt ihr eine theologische Sprache.[10] Jüdische und muslimische Kreuzeskritik sind somit nicht vergleichbar. Trotz der Rezeption der theistischen Philosophie bei jüdischen Denkern wie Maimonides und Hermann Cohen lehrt jüdischer Glaube im Unterschied zum Koran keinen leidensunfähigen Gott. Dies soll und kann die Differenzen zur rabbinischen Theologie nicht negieren. Sie hört das jüdische »Nein« zum Kreuz Jesu jedoch anders motiviert: als ein Leiden an der Unerlöstheit der Welt und in der gemeinsamen Hoffnung auf den (wieder)kommenden Erlöser vom Zion[11], nicht als Bestreitung der »Passion« Gottes. Das jüdische »Nein« hält, aus christlicher Sicht, die Christusfrage offen und wehrt einem christlichen Erfüllungsenthusiasmus.
Ist diese im Kontext des Judentums entwickelte trinitätstheologische Kreuzestheologie und Gotteslehre ohne weiteres auf den Islam auszuweiten? So sehr sich der Islam als nachchristliche Religion auf jüdische und christliche Traditionen beruft und diese eine Herausforderung zum Dialog sind, so werden doch die unübersehbaren Differenzen in den zentralen Fragen nicht ausgeklammert, schamvoll verschwiegen oder gar überspielt werden können. Karl Barths Warnung hinsichtlich der Gültigkeit der ersten These der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 (»Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben«) angesichts ihrer vielfältig begründeten Infragestellung[12] gilt es auch dann ernst zu nehmen, wenn wir heute, nach Auschwitz, klarer sehen als die Synode 1934, dass wir Jesus Christus als das eine Wort Gottes nur im Kontext der Worte Gottes im AT und im Judentum hören, ihm vertrauen und gehorchen können[13]: »Wir haben aber in dieser Sache keine Wahl: die christliche Freiheit ist tatsächlich die Freiheit des Bekenntnisses zu Jesus Christus als dem einen, dem einzigen Propheten, Lebenslicht und Gotteswort. Sie steht und fällt damit, daß sie die Freiheit zu diesem Bekenntnis ist. Es kann, darf und soll jener Satz im Gebrauch der Freiheit, in der er seinen Ursprung hat, erklärt und begründet, er kann aber im Gebrauch dieser Freiheit nicht unterschlagen und auch nicht verharmlost werden.«[14]
Die Unterschlagung und Verharmlosung jedoch ist das Problem des Ansatzes von Kuschel. Keine christliche Theologie wird bestreiten können, dass es vielfältige Zeichen und Spuren des gekreuzigten Auferstandenen in allen Religionen und Weltanschauungen (auch unter sog. »Nichtreligiösen«, Atheisten oder Agnostikern) gibt, so auch im Koran und Islam. Aber als »Quelle ihrer Verkündigung«[15] und damit als Begründung eines »gemeinsamen Glaubens«[16] kommen sie nicht in Frage.
II. Koranhermeneutik und Menschenrechte
Kuschel wehrt mit Empathie eine »Steinbruch-Exegese« des Koran ab. Er will nicht verharmlosen, ja die »durchgängige (!) Polemik gegen ›die Ungläubigen‹, über die ständigen Androhungen von Gericht und Höllenstrafe« befremdet ihn. Er ist »erschrocken über die vielen Schmähungen, Strafreden und Kampfaufrufe.« Er kennt »Verse wie Sure 2,191, wo vom Erschlagen und Vertreiben von Ungläubigen die Rede ist.« Er sieht die Gefahr eines politischen Missbrauchs solcher Stellen, um »menschenverachtende Praktiken zu legitimieren (bis hin zu Terror und Mord) oder ›den Islam‹ pauschal als Religion der Intoleranz und Gewalt zu verunglimpfen« (33). Er kritisiert eine »dilettantische Eins-zu-eins-Übertragung bestimmter koranischer ›Stellen‹ vom Damals ins Heute« (34) und gesteht zu, dass dieser Umgang mit dem Koran »tödliche Folgen« haben kann, »wenn sich der hermeneutische Dilettantismus mit religiöser Verblendung paart« (34). Als Hilfsmittel gegen den politischen Missbrauch einerseits und gegen pauschale Urteile andererseits fordert er eine »geschichtssensible Auslegung«, wie sie etwa die Ankaraner Schule betreibt (33).
Wer wollte Kuschel an dieser Stelle widersprechen? Natürlich ist ein historisch-kritischer Umgang mit dem Koran eine Barriere gegen Fundamentalismus und Islamismus. Derartige aufgeklärte theologische Ansätze müssen im Dialog unterstützt und gefördert werden. Indem Kuschel mit seinen Ausführungen jedoch zugesteht, dass »dilettantische Eins-zu-eins-Übertragungen« tödliche Folgen haben können, wirft er faktisch der Mehrheit der Muslime eben jenen Dilettantismus vor. Denn diese fundamentalistische Exegese des Koran ist leider weltweit, nicht nur im Islamismus, Tradition und Standard, während eine geschichtssensible Auslegung eher die Ausnahme darstellt. Kuschel eignet sich den Koran also im Geist der Aufklärung an, während die Mehrzahl der gläubigen Muslime ihn in einem voraufklärerischen Geist liest und interpretiert. M.a.W.: Er liest die Gewalttexte, die »Schmähungen, Strafreden und Kampfaufrufe« von den (deutlich randständigeren) gewaltkritischen Texten her. Das weit verbreitete Unbehagen gegenüber dem Koran resultiert aber nicht zuletzt daher, dass diese Exegese nicht mehrheitsfähig erscheint. Zumal die »aufgeklärte« Exegese in den brennenden theologischen und gesellschaftspolitischen Diskursen im Blick auf die Rolle der Frauen, die allgemeinen Menschenrechte (auch und gerade für Nichtmuslime) sowie die Trennung von Staat und Religion keine relevanten Folgen zeitigt, was zu erheblichen Irritationen führt. Diese Irritationen werden nicht geringer, wenn auch Kuschel konstatieren muss, dass »alles im Koran Gottesrede ist« (34). Welchen Einfluss auf die inhaltliche Ausgestaltung muslimischer Glaubens- und Lebenspraxis hat also die von ihm geforderte Hermeneutik?
Kuschel vergleicht nicht nur, sondern parallelisiert gewalthaltige Texte der jüdischen Bibel (warum nicht auch die des NT?) mit denen des Koran und vergleicht die mekkanische Korantradition mit dem Kampf des Mose gegen Pharao. In beiden Traditionen gehe es um »das Prophetische gegen das Cäsarische, Gottes Wille gegen den Willen der Mächtigen der Welt« (34). Dies mag für die biblischen Traditionen stimmen.[17] Gilt dies auch für den Koran und den Islam? Der von Kuschel sog. »Kampf des Propheten gegen das politische und wirtschaftliche Machtkartell in Mekka« dient der Begründung und dem Ausbau eigener Macht in weltpolitischer Absicht. Der Islam ist von seinen Wurzeln her nicht nur ein religiöses, sondern ein alle Lebensbereiche umfassendes politisches System. Eine Trennung bzw. Unterscheidung von Staat und Religion, von Religion und Recht ist dem Koran fremd.
Keine Trennung von Religion und Recht im Koran
Dies zeigt, dass Kuschel in der Rezeption des Koran einen Weg geht, der einzelne Aspekte der Glaubensüberzeugungen von Juden, Christen und Muslimen so miteinander ins Gespräch bringt, dass ihre vermeintlichen Gemeinsamkeiten herausgearbeitet werden. Er vermittelt den Eindruck, als hätte der Koran lediglich die jüdische Bibel und das NT kopiert. Dabei verliert das Spezifische des Koran (und damit des Islam) an Wert und wird unscharf. Er reflektiert mit keinem Wort die Rolle des Propheten im Koran im Gegenüber zur Offenbarung in Israel und in Christus, ebenso wenig die fundamentale Bedeutung islamischen Rechts und dessen Verhältnis zum säkularen Recht. Exemplarisch lässt sich dies an der »Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam« von 1990[18] verdeutlichen. Diese definiert die Scharia als alleinige Grundlage von »Menschenrechten« und weicht dabei erheblich von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die UNO von 1948 ab, indem sie nur diejenigen Rechte anerkennt, die im Einklang mit der Scharia stehen. Praktisch bedeutet dies eine Diskriminierung von Nichtmuslimen und Frauen sowie die Einschränkung von Meinungs-, Rede- und Religionsfreiheit. Selbst das Recht auf körperliche Unversehrtheit durch den Staat (Körperstrafen aller Art) kann aufgehoben werden, »wenn ein von der Scharia vorgeschriebener Grund vorliegt.«[19] Die Erklärung beansprucht die Autorität im Koran geoffenbarter Verbindlichkeit: »sie sind verbindliche Gebote Gottes, die in Gottes offenbarter Schrift enthalten und durch Seinen letzten Propheten überbracht worden sind, um die vorherigen Botschaften zu vollenden.«[20]
Angesichts dieses Befundes kann von einem gemeinsamen Kampf von Juden, Christen und Muslimen um die »Rettung des Menschenlebens, der Menschenrechte und der Menschenwürde« mit allen Menschen, aus »welchen Religionen und demokratisch-rechtsstaatlichen Traditionen … sie auch sonst kommen mögen«[21], nun gerade nicht die Rede sein. Die Kairoer Erklärung sucht kein praktisches Bündnis mit Juden und Christen und steht in keiner demokratisch-rechtsstaatlichen Tradition. Muslime, die in demokratisch-rechtsstaatlicher Tradition stehen, können sich nicht auf den Koran und die Scharia berufen, ohne beide als »offenbarte« Schriften in Frage zu stellen bzw. einer kritischen Exegese zu unterziehen.[22]
Es ist nicht zu übersehen, dass den von Kuschel genannten Aspekten, einschließlich eines historisch-kritischen Umgangs mit dem Koran, in der traditionellen islamischen Theologie wenig Gewicht beigemessen wird.[23] Ein bedrückendes Beispiel dafür ist der Umgang mit dem am 5. Juli 2010 verstorbenen ägyptischen Literaturwissenschaftler und liberalen Denker des Islam, Nasr Hamid Abu Zaid. Er hat sich gegen die hanbalitische (nach dem Gelehrten Ahmad ibn Hanbal [780-855]) und weithin prägende Interpretation des Koran als von Ewigkeit her im Himmel existierendes präexistendes Wort Gottes ausgesprochen. Für ihn ist nicht das materielle Buch, sondern allein sein Ursprung göttlich. Ohne Analyse seiner zeitgeschichtlichen Umstände sei der Koran nicht zu verstehen und nicht der Wortlaut, sondern die Intention des Textes sei entscheidend. Diese Thesen führten in Ägypten zu heftigen öffentlichen Diskussionen und dem Vorwurf der Apostasie. Ein ägyptisches Gericht erklärte ihn zum Apostaten (vom Islam Abgefallenen). Dies hatte zur Folge, dass er seine Professur verlor und von seiner Frau zwangsweise geschieden wurde.[24] Bedenkt man diese Reaktion, dann ist vor einem naiven Dialog, der die hermeneutischen und politischen Machtverhältnisse im zeitgenössischen Islam verharmlost und sich Selbsttäuschungen hingibt gerade auch im Interesse der aufgeklärten reformorientierten Muslime zu warnen.
Aber selbst wenn eine literaturkritische Lesart des Koran im Geiste Abu Zaids und anderer liberaler und reformorientierter Gelehrter mehrheitsfähig würde (was nur zu hoffen ist) und damit dem islamistischen Fundamentalismus bzw. dem Traditionalismus (die Grenzen sind fließend) der Nährboden entzogen würde, selbst wenn die allgemeinen Menschenrechte im Islam anerkannt und eine Trennung von Staat und Religion durchsetzbar wäre (was den Charakter des Islam grundlegend verändern würde), selbst dann kann von der einen Glaubensgemeinschaft aus Juden, Christen und Muslimen nicht die Rede sein. Neben der Christologie sind es vor allem kanontheologische Gründe, die dagegen sprechen.[25]
III. Kanonische Dialogizität und der missionarische Auftrag der Kirche
Die grundlegende Gemeinsamkeit zwischen Juden und Christen ist die beiden gemeinsame biblische Erzähltradition. Der fundamentale Unterschied zwischen der Begegnung von Juden und Christen einerseits und der Begegnung beider mit dem Islam sowie anderen Religionen oder Weltanschauungen andererseits liegt darin begründet, dass beide ein gemeinsames Buch, ein gemeinsames Wort als Grundlage ihrer Glaubenserfahrungen mit dem Gott Israels teilen.[26] Kein Dokument einer anderen Religion, auch nicht der Koran, als allein das NT steht in kanonischer Dialogizität mit der jüdischen Bibel, die dadurch zum »AT« der christlichen Bibel wird. Die jüdische Bibel ist nicht nur Vorläufer, sondern Grundlage, also maßgeblicher Sprach- und Auslegungshorizont des Evangeliums von Jesus Christus.[27] So erweisen sich die Bibel Israels, der Gott Israels und sein Messias als die dem christlichen Glauben vorgegebenen Grundlagen der extraordinären, der besonderen Beziehung zwischen Israel und der Kirche.
Der christlich-jüdische Dialog muss im Unterschied zum allgemeinen interreligiösen Dialog (mit dem Islam und anderen) als biblischer Dialog verstanden und praktiziert werden. Dies hat Auswirkungen auf die Missionstheologie der Kirche, ein Aspekt, den Kuschel nicht in den Blick nimmt. Begründet u.a. die kanonische Dialogizität die Ablehnung jeder Form von Judenmission[28], so gilt für den interreligiösen Dialog mit dem Islam (und anderen Religionen und Weltanschauungen) der unauflösliche Zusammenhang von Konvivenz (Leben mit anderen), Dialog und missionarischem Zeugnis[29], das auch darauf zielt, andere Menschen zum Glauben an Jesus Christus einzuladen.[30] Diese Wahrnehmung des missionarischen Auftrags im Kontext der »missio Dei« ist keine Proselytenmacherei, sondern geschieht unter den Voraussetzungen »zuhören«, »Buße tun«, »Zeugnis geben« und den »Dialog führen«.[31] Inwieweit die christlichen Kirchen zu einer derartigen Mission fähig und willig sind, ist eine offene Frage. Einer »Glaubensgemeinschaft« zwischen Juden, Christen und Muslimen ist auch unter diesen Aspekten eine Absage zu erteilen.