Antisemitismus. Ein unbewältigtes Problem der westlichen Gesellschaft

Der älteste Haß der Welt' hat viele mythologische Schichten.

Alan Davies

Antisemitismus -

Ein unbewältigtes Problem der westlichen Gesellschaft

Im Jahr 1985 erlebte Kanada die Gerichtsverfahren (unter verschiedenen Paragraphen des Strafgesetzbuches) von zwei hier wohnhaften Antisemiten: Ernst Zündel in Toronto, Ontario, und Jim Keegstra in Red Deer, Alberta. Einige Jahre später wurde in Moncton, Neubraunschweig, ein weiterer ausgesprochener Antisemit, Malcolm Ross, auf den Befund einer Untersuchungskommission hin von seiner Lehrposition im örtlichen öffentlichen Schulsystem entfernt. In meiner eigenen Universität wurde ein psychotischer Professor keltischer Studien (jetzt verstorben), seiner antisemitischen Schriften und seines verwirrten Verhaltens wegen suspendiert.

Der Antisemitismus hat in der kanadischen Gesellschaft zwar nicht bedrohliche Ausmaße angenommen, ist aber auch nicht ausgestorben, und das trotz aller Lektionen der Geschichte und trotz der schrecklichen Ereignisse des 20. Jahrhunderts. Auch Kanada hat in früheren Jahren tatsächlich Antisemiten hervorgebracht, bekannterweise den Quebecer Faschisten Adrien Arcand in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts und — vielleicht überraschend für manche — die bekannte Gestalt des Goldwin Smith, einst das Idol der Toronto Intelligentsia und Mentor des jungen William Lyon Mackenzie King um die Jahrhundertwende. Unsere Geschichte ist in dieser Hinsicht nicht so rein, wie die meisten Kanadier es gerne glauben möchten. Außerdem enthält sowohl Anglo- als auch Franco- Kanada eine angeborene Neigung zum Antisemitismus, die schnell ihre gefährliche Seite zeigt, wenn das soziale Gewebe von ökonomischen und politischen Stürmen zerissen wird. Der Ausschluß jüdischer Flüchtlinge während der Nazizeit ist nur ein Beispiel dafür, wozu sogar demokratische Nationen fähig sind, wenn sie sich bedroht fühlen.

Nach dem 2. Weltkrieg gab es in den westlichen Gesellschaften eine große Abneigung gegen den Antisemitismus im Nazistil. Dennoch, wie der Französische Schriftsteller Pierre Paraf bemerkte, die Macht und Vielschichtigkeit der Rassenideologie, der vorherrschenden modernen Form des Antisemitismus, "läßt uns sogar in seinen schlimmsten Niederlagen nicht hoffen, daß er völlig ausgelöscht ist". In Männern wie Zündel, Keegstra und Ross hält sich der Judenhaß lebendig. Wenn er sich in Kanada halten kann, einem Land, in dem Antisemitismus trotz der genannten Beispiele eher die Ausnahme als die Regel ist, wieviel mehr dann in Ländern, in denen Antisemitismus eher die Regel als die Ausnahme war. Aber auch hier ist er gewöhnlich nicht an der Oberfläche zu finden, sondern vermischt mit anderen unruhestiftenden "Ismen". Nur wenige würden diese Behauptung bestreiten; es gibt dafür einfach zu viel Beweismaterial. Noch immer werden Hakenkreuze an Synagogen geschmiert, jüdische Friedhöfe geschändet, und jüdische Gemeinden fallen noch immer terroristischen Angriffen zum Opfer (nicht nur in Israel). Eine neue Generation von Antisemiten, die sich der Leugnung des Holocaust verschrieben haben, ist entstanden, und sie sind auf dem Internet zu finden.

Es entstehen heiße Diskussionen, wenn man zu verstehen versucht, wie sich das, was der älteste Haß der Welt genannt wird, in der Abenddämmerung des zwanzigsten Jahrhundertes noch halten und sich tatsächlich in den Boden einer sich schnell verändernden Zivilisation umpflanzen kann, die weitaus weltbürgerlicher ist als sie es vor fünfzig Jahren war.

Ich will mit Ihnen über diese merkwürdige Tatsache nachdenken. Einer der Gründe hat meiner Ansicht nach mit der eigenartigen Natur des Antisemitismus zu tun. Er ist, entgegen volkstümlicher Auffassung, nicht ein Vorurteil oder eine besondere Art des Vorurteils, sondern ein komplizierter negativer Mythos, der sich über lange Zeit hin in der Geschichte des Westens entwickelt hat. Sobald man das Wort "Mythos" benutzt, stellt man das Thema in eine neue Dimension. Ein Mythos ist eine Geschichte, manchmal eine Fabel — gut oder schlecht — über die großen Fragen menschlicher Existenz. Daher haben Mythen kosmische Bedeutung; sie handeln vom Leben, aber sind weit größer als das Leben; sie beschäftigen sich mit dem Guten und dem Bösen, besonders mit den Ursprüngen des Bösen, und dies macht sie zur Ursache beständiger Faszination.

Ich habe kürzlich Elaine Pagels neues Buch, Der Ursprung Satans (The Origin of Satan), gelesen, das eigentlich eine Studie der Entwicklung der Vorstellung von einem kosmischen Bösen im frühen sektiererischen Judentum und frühen Christentum ist. Dabei ist bedacht, daß das Christentum eins der "Judentümer" des Altertums war. Die Sektierer dämonisierten ihre Feinde und verliehen ihnen kosmische Motivierung. "Ihr habt den Teufel zum Vater und nach eures Vaters Lust wollt ihr tun", sagt der Jesus des Vierten Evangeliums zu den "Juden" des Vierten Evangeliums, wer diese auch immer gewesen sein mögen (Joh. 8,44). Dies ist eine mythische Definition der Juden, darum wird Johannes nicht ganz ohne Grund manchmal als "Vater des Antisemitismus" bezeichnet. Es ist dabei fraglich, ob das eine gerechte Einschätzung des Johannes ist. Doch das will ich hier nicht weiter ausführen. Tatsache ist jedenfalls, daß der Antisemitismus — echter Antisemitismus — immer da zu finden ist, wo diese mythische Dimension auftaucht, und die Geschichte des Antisemitismus ist die Geschichte der Mythologisierung der Juden.

Mythen müssen natürlich nicht immer religiös sein, sie können auch weltlich und sogar wissenschaftlich sein. Der große Rassenmythos der weißen Europäer, der arische Mythos, eine Fabrikation des neunzehnten Jahrhunderts, war sowohl ein historischer als auch ein wissenschaftlicher Mythos, und deshalb um so gefährlicher. Selbst der Ausdruck "Antisemitismus", der in Deutschland im Zweiten Deutschen Reich geprägt wurde, war gewählt worden, weil er einen wissenschaftlichen Klang hatte und weil im modernen Zeitalter die Sprache der Wissenschaft die Sprache der Wahrheit ist. Wie der grosse deutsche protestantische Theologe Paul Tillich einmal sagte, Mythos ist im modernen Zeitalter glaubhaft "nur in wissenschaftlichem Gewand."

Noch vor nur wenigen Generationen wurde die Rassenlehre als gute Wissenschaft angenommen, wodurch Antisemiten unserer Tage die Juden weit wirksamer und mit weit schrecklicheren Resultaten dämonisieren konnten, als die Antisemiten vergangener Jahrhunderte. "Ich bin ein Antisemit" bedeutet, "ich bin gegen die Semiten". Ich bin gegen die Semiten nicht nur, weil sie minderwertig sind, sondern auch, weil sie böse sind. Jean-Paul Sartre sagte schon vor Jahren, daß der Jude, der in der Phantasie des Antisemiten heraufbeschworen wird, eine kosmische Gestalt ist. Es ist dieses kosmische Element im Antisemitismus, das seinen dauerhaften Reiz erklärt und es zuläßt, daß der älteste Haß sich erneuern und sich immer wieder in neuem Gewand zeigen kann.

Mythen lassen sich nicht leicht zerstören. Sie haben ihre eigene Weise, sich immer neu Geltung zu verschaffen. Wir sind sowohl Geschöpfe des Mythos als auch Mythos-schaffende Geschöpfe, und die Frage ist nicht, ob wir mit oder ohne Mythen leben wollen, sondern ob wir mit guten oder schlechten Mythen leben wollen. Antisemitismus basiert auf einem schlechten Mythos, mit dem wir schon viel zu lange leben, aber sein mythisches Fundament trägt zur Erklärung seiner merkwürdigen Beharrlichkeit in der Welt nach dem Holocaust bei.

Ein weiterer, dem ersten nicht ganz unverwandter Grund für die Beständigkeit des Antisemitismus hat mit seinem vielschichtigen Charakter zu tun. Technisch gesehen ist Antisemitismus ein Produkt der Moderne, denn er setzt moderne Rassenkunde voraus, die sich wissenschaftlich gibt. Tatsächlich aber ist der Antisemitismus eher wie ein riesiger Schneeball, der vom Altertum zum heutigen Tag gerollt wurde und dabei immer neue Schichten aufnahm.

Der Schneeball hat seinen Ursprung in der vorchristlichen hellenistischen Welt. Das Problem begann mit der Wiederbelebung altägyptischer Fremdenfurcht durch die Römische Eroberung der Griechischen Reiche des östlichen Mittelmeeres. Die neuen Herrscher begünstigten die örtliche jüdische Bevölkerung in Alexandria, was die örtlichen Griechen übelnahmen. Dies führte zu Gewalttaten und brachte einen Zweig literarischer Judenhasser hervor. Die Namen Posidonius, Apollonius, Molon und Apion (ein Zeitgenosse Jesu) standen in Verbindung mit dem neuen Genre. Nach Apion, den wir durch Josephus, den jüdischen Historiker des Altertums kennen, sollen die Juden unglückliche Griechen entführt, heimlich in ihrem Tempel in Jerusalem gemästet und geopfert haben, während sie in einem Eid über ihren Eingeweiden dem Rest der Menschheit endlose Feinschaft schworen. Apion klagte die Juden auch des Atheismus, der Volksverhetzung, des Parasitentums und der Anbetung von Gold an. Diese Anklagen infizierten die römische Oberklasse und färbten die lateinische Lyrik und Prosa mit Judenhaß vor und nach der Geburt des Christentums. Später, als die Kirche nach dem vierten Jahrhundert die griechisch-römische Welt taufte, taufte sie auch die heidnische Judenfeindschaft und schuf damit eine bleibende Ablage im Tiefenbereich des kollektiven Gedächtnisses der westlichen Welt. Soweit die erste Schicht des Schneeballs. Juden wurden als Hasser der Menschheit angesehen.

Das Christentum ist ein Zweig des Judentums, der vor dem katastrophalen Krieg mit Rom (66-70 n) auftauchte. Darum enthält das Neue Testament, das weitgehend eine Sammlung jüdischer Schriften ist, die Kennzeichen des innerjüdischen religiösen Konflikts sowohl vor als auch besonders nach dem Römischen Krieg. Ein Beispiel ist das matthäische Bild der Pharisäer, die als gesetzlich, scheinheilig, diebisch, ruchlos, fanatisch und mörderisch dargestellt wurden (Matt. 23) — ein Bild, von späteren Antisemiten ausgiebig genutzt. Es reflektiert offensichtlich den verärgerten Zustand des jüdisch-christlichen Verhältnisses der Nachkriegszeit, als die Pharisäer (die offenbaren Vorfahren des rabbinischen Judentums) und die (jüdischen) Christen einander konfrontierten nach der nationalen Katastrophe des verlorenen Krieges. Ähnlich reflektiert das johannäische Bild der Juden als Kinder des Teufels (Joh. 8,44f) das Endstadium der Verschlechterung dieses Verhältnisses, wie auch die Rivalitäten innerhalb der jüdischen Diaspora und eine schwierige örtliche Situation in Ephesus, dem wahrscheinlichen Ort der Entstehung des Evangeliums. Auch diese Schriftstelle wurde von späteren Antisemiten ausgiebig genutzt.

Wie dem auch sei, der Antijudaismus des Neuen Testamentes ist immer noch größtenteils (die Apostelgeschichte des Lukas ist die wichtige Ausnahme), ein jüdischer Antijudaismus, d.h. eine sektiererische Rhetorik, die in den polemischen Kämpfen des Altertums und der Identitätskrise der apostolischen Kirche wurzelt. Leider wurde der Rückstand dieser Kämpfe das Fundament, das die Historiker die adversus Judaeos-Tradition der nach-neutestamentlichen Kirche nennen: christlich-theologischer Antijudaismus. Er formte die zweite Schicht des Schneeballs. Als ehemalige Heiden anstelle von Juden anfingen, christliche Theologie zu schreiben, veränderten sie den innerjüdischen Streit zu einem Streit zwischen Nichtjuden und Juden. Diese Veränderung diente nicht zum Besten. Der (ethnozentrische) Stolz der Heiden, die der neuen Religion eingeflößt wurde, hatte einen entfremdenden Effekt: es entwickelte sich das, was Jules Isaac "eine Lehre der Verachtung" (der Juden) nannte. Es entstand daraus das bekannte Bild des Gott-mordernden, fleischlichen und verfluchten Juden, das in westlicher Folklore so geläufig wurde.

Jedes darauffolgende Zeitalter fügte dem mytischen Schneeball neue Schichten hinzu. Ich kann die Geschichte des Antisemitismus nicht in einem einzigen Vortrag überschaubar machen, aber ich werde einige ihrer Höhepunkte zusammenfassen. Während des Mittelalters zwang eine blühende Ökonomie des Handels die Juden in unpopuläre Rollen — sie wurden Krämer, Zwischenhändler und Kreditgeber. Ohnedies schon als Kain und Mörder gebrandmarkt, wurde der Jude im Verständnis zahlungsunfähiger Christen nun auch noch Judas, der Verräter, der Christus für 30 Stücke Silber verkaufte: eine gefährliche Fusion religiöser und ökonomischer Symbole. Rekrutierungskampagnen für die Kreuzzüge erregten religiösen Fanatismus und führten zu Blutbädern an Juden in der Welt des Christentums, obwohl die Päpste oft alles taten, um die Gewalttaten einzudämmen. Diskriminierende Gesetzgebung folgte dem vierten Lateran Konzil (1215), das unter anderem von Juden verlangte, den gelben Judenstern zu tragen (eine Regel, die vorher in islamischen Ländern eingeführt worden war). Der Talmud wurde angegriffen und in Paris (1242) sogar verbrannt — der Anfang einer neuen Tradition, einer neuen Schicht des Judenhasses. Oft stifteten zum Christentum bekehrte Juden diese Angriffe an in einem Versuch, durch die Vernichtung heiliger Texte ihre ehemalige Religion auszumerzen. Diese Texte hielten nach ihrer Meinung die Juden von der Bekehrung zu Christus ab. Bis auf den heutigen Tag bleibt Antitalmudismus ein beharrliches Motiv in der Literatur des Antisemitismus — man braucht nur die Verhandlungsprotokolle der verschiedenen Gerichtsprozesse im Fall Keegstra nachzulesen. Die merkwürdigen Bezichtigungen rituellen Mordes und der Hostienschändung entstanden in Nordeuropa: die Gott-mordernden Juden, nicht zufrieden mit der einmaligen Folterung und Kreuzigung Jesu, kreuzigen ihn immer wieder in Form eines christlichen Kindes oder der heiligen Hostie (der christlichen Eucharistie, des Abendmahls). Als die Katastrophen von Seuche und Hungersnot das 14. Jahrhundert heimsuchten, fanden die Juden sich verleumdet als Brunnenvergifter und Zauberer sowie Verschwörer gegen das Christentum im Bund mit dem Teufel. Der Teufel war eine christliche Hinzufügung, aber die Verschwörungsanklage hatte bereits vorchristliche Wurzeln.

Humanistische Regungen des 17. Jahrhunderts — als ‘Vorspiel der Aufklärung" — modifizierten traditionelle christliche Bilder zu einem gewissen Grad, und der große protestantische Künstler Rembrandt stellte junge Juden des Amsterdamer Ghettos sogar als Modelle für seine Jesus-Zeichnungen an. Trotz dieses hoffnungsvollen Trends sah das Ende des Jahrhunderts die Veröffentlichung eines der Klassiker des modernen Antisemitismus, Johann Eisenmengers Entdecktes Judentum, eine wilde Parodie rabbinischer Ideen, die viel von späteren Antisemiten verwertet wurde. Paradoxerweise hat das Zeitalter der Vernunft, diese zweite Renaissance europäischer Kultur, nicht nur den Judenhaß nicht abgeschafft, sondern hat es tatsächlich fertig gebracht, ihn durch die Verherrlichung des heidnischen Altertums wiederzubeleben. Mit heidnischen Augen gesehen waren sie Hasser der Menschheit und ein von Natur aus mangelhaftes Volk.

Die einst christlichen Philosophen der Aufklärung verachteten das Christentum teilweise wegen seiner jüdischen Herkunft. Sie sahen den Christen nur als verdorbenen Heiden an, aber den Juden als unerlösbar: in ihren Augen waren jüdische Natur und jüdische Religion ein und dasselbe. Es ist offensichtlich, daß hier eine noch viel schlimmere Form des Antijudaismus ausgebrütet wurde. Seit der Morgendämmerung des modernen Zeitalters waren rassistische Feuer geschürt worden, teilweise als Ergebnis des grossen Zeitalters der Entdeckungen und der europäischen Begegnung mit einer größeren Anzahl von Nicht-Europäern. Die Geburt der Biologie, Zoologie und Botanik und die Leidenschaft der Aufklärung, Daten zu klassifizieren, führte zu radikalen neuen Theorien über menschliche Ursprünge und menschliche Natur. Doch erst das l9. Jahrhundert konnte die entstandenen Theorien in eine voll entwickelte Ideologie der Rassen umwandeln, in die Überzeugung, daß Rasse alles erklärt. Das ist die wahre Bedeutung des Wortes "Rassismus". Der neu erfundene Ausdruck ‘Antisemitismus’ nahm dieses Prinzip zum Ausgang.

Mit der Macht dieser Vorstellungen schlugen antijüdische Demagogen, gequält durch die jüdische Emanzipation im nachfeudalen Europa, auf die traditionellen Feinde des Christentums ein. Mit vermischten Vorstellungen von Religion und Rasse versuchten sie, die Juden zurück ins Ghetto zu zwingen. Beim Versuch, den Uhrzeiger zurückzudrehen, verbanden sie das Judentum mit allem anderen, was ihnen am modernen Zeitalter nicht gefiehl, wie zum Beispiel Kapitalismus und politische Demokratie. In Deutschland wob der große Komponist Richard Wagner nationalistische und rassische Themen in seine Opern ein, und prophezeite die Geburt einer neuen Ordnung und eines neuen Siegfried-artigen deutschen "Prometheus." Er glaubte, die moderne Musik sei eine "von (jüdischen) Würmern zerfressene Leiche".

Die Stimmen der Linken waren nicht weniger virulent als die Stimmen der Rechten. Nach dem Beispiel von Karl Marx schimpften sie gegen semitischen Kapitalismus im Namen des arischen Sozialismus. Die Juden wurden verfügbare Symbole des Übels in einer Welt, die durch ökonomische, soziale und politische Umwälzungen jeder Art disorientiert war. Sie wurden für einfach alles beschuldigt. Schicht auf Schicht wurde dem Schneeball hinzugefügt. Diese Fähigkeit, einem alten Thema immer neue Wendungen hinzuzufügen, ist ein wichtiger Grund für die seltsame Dauerhaftigkeit des Antisemitismus.

In unserer Zeit nach dem Holocaust wurde wieder eine neue Schicht hinzugefügt, nämlich die Leugnung oder Minderung des Ausmaßes des Holocaust. Eine neue Generation von Antisemiten, die auf alte Schichten aufbaut, versucht es, das Deutschland der Nazis zu rehabilitieren, indem sie das best bezeugte Verbrechen moderner Geschichte leugnet. Die Nach-Auschwitz-Antisemiten ersparten sich keine Anstrengung, um die letzten 60 Jahre zu de- und rekonstruieren, und ihre fanatischen Anstrengungen lassen nicht nach.

Nach einem kürzlich herausgegebenen Bericht über den Antisemitismus in der ganzen Welt (Antisemitism World Report 1996) gibt es zur Zeit in Kanada nur eine geringfügige antisemitische Aktivität und sie erscheint meist in der sozialen Randzone. Kanadischer Antisemitismus ist jedoch keinesfalls verschwunden; er bleibt nur unter der Oberfläche, immer bereit, wieder zu erscheinen, sollte eine bedeutende Krise die Gelegenheit liefern. Die Feuer des Nationalismus, die gegenwärtig in der Provinz Quebec brennen, stellen wahrscheinlich die größte Gefahr dar, aber die elastische Qualität des Antisemitismus und seine Fähigkeit, sich jeder öffentlichen Unzufriedenheit anzuhängen, sollte nie unterschätzt werden.

In anderen Ländern ist die Lage unterschiedlich, aber sogar in Ländern mit verhältnismäßig reiner Vergangenheit verbleibt ein harter Kern. Bestimmte Warnzeichen sind beständig, zum Beispiel —

  • die Tendenz, den Holocaust zu verringern, wenn auch nicht völlig abzuleugnen (eine besondere Gefahr in zeitgenössischer deutscher Historiographie),
  • die Legitimierung exklusiver Formen von Nationalismus (letztendlich hat aller Nationalismus eine ausschließende Qualität — aus diesem Grund würde ich mich selbst nie als kanadischer Nationalist bezeichnen),
  • die allgemein harscher werdende Sprache des öffentlichen Umgangs in großen Teilen der westlichen Gesellschaft,
  • die merkwürdige Wiederbelebung rassistischer und quasi-rassistischer Sprache an manchen Orten, zum Teil direkt, zum Teil indirekt (bestimmte sog. anti-rassistische Gruppen sind anscheinend selbst vom Rassismus infiziert),
  • die Legitimierung von Gewalt seitens antirassistischer und anderer Ideologen.

Ein kindisches Beispiel dieser letztgenannten Tendenz geschah 1994 auf dem Gelände der Queens Universität, als der Herausgeber einer antirassistischen Studentenzeitung vorschlug, Weiße mit Beleidigungen, Flüchen und sogar Todesdrohungen zu plagen, denn nur so könnten rassistische Minderheiten eine wirksame Belagerung der Bastionen rassischen Privilegs und ihrer Macht in einer von Weißen beherrschten Gesellschaft erreichen. Eine Professorin der Soziologie unterstützte offenbar diese Position, indem sie sagte, daß die Sprache der Gewalt Aufmerksamkeit errege und daher nützlich sei. Außerdem, fügte sie hinzu, hätten ausgeschlossene und unterordnete Gruppen Rechte, die Mehrheitsgruppen fehlten.

Meiner Meinung nach ist das eine gefährliche These, nicht nur wegen ihrer offensichtlichen Selbstgerechtigkeit. Die Sprache der Gewalt erzeugt Gewalt, und untergräbt die Fundamente sozialer Toleranz in einer demokratischen Gesellschaft. Dies ist es, was mit der Vergröberung der Sprache im öffentlichen Umgang gemeint ist. Nicht nur ist dies nicht der Weg, Rassismus zu besiegen, es ist der Weg, Rassismus in einer neuen Tonart zu fördern. Und eine derartige Vergröberung kann zweifellos die Glut eines unterschwelligen Antisemitismus neu zur Flamme schüren. Die Mittel, die wir wählen, um soziale Übel wie z.B. Rassismus und Antisemitismus zu bekämpfen, erfordern ebensoviel Aufmerksamkeit wie die Übel selbst. Wenn wir nicht sorgfältig sind, werden uns die eigenen Anstrengungen zu Fallen, in die wir dann selbst geraten können.

 

Editorische Anmerkungen

© 1996 Alan T. Davies. Mit freundlicher Genehmigung des Verfassers. Vortrag zu einer Veranstaltung des Christlich-Jüdischen Gesprächs. Beth Tzedec Synagoge, Calgary, Alberta, Kanada

Aus dem Englischen übertragen von Fritz B. Voll.