Antijudaismus durch das Neue Testament?

Überlegungen zur Überwindung theologisch begründeter und praktizierter Verneinung des Gottesvolkes vom Sinai

Antijudaismus durch das Neue Testament?

Überlegungen zur Überwindung theologisch begründeter und praktizierter Verneinung des Gottesvolkes vom Sinai

Zum Problem einer angemessenen Begrifflichkeit für die Thematik

Im Untertitel dieses Beitrags habe ich zum Ausdruck zu bringen gesucht, auf welchen Punkt sich das Problem eines christlichen Antijudaismus, der sich auf das Neue Testament beruft oder mit dem Neuen Testament verbreitet wird, zentrieren lässt: Die Crux im Verhältnis von Theologie und Kirche zum jüdischen Volk besteht im Wandel der Zeiten in der theologisch begründeten Verneinung des jüdischen Volkes als einer religiös relevanten, in bedeutsamer Kontinuität mit ihren Ursprüngen lebenden, ihres Auftrags nicht enthobenen Gemeinschaft. Eine in diesem Sinne stärker an der gemeinten Sache orientierte, wenn auch notwendig etwas längere Beschreibung ist insofern hilfreicher, als sie den plakativ gewordenen Begriff »Antijudaismus« meidet und damit folgendes gewinnt: Die sachorientierte Beschreibung vermeidet, dass - ein verbreitetes Phänomen - diejenigen, die dem Vorwurf des Antijudaismus ausgesetzt werden, sich selber als »Opfer« verstehen und so der Problematik auf fragwürdige Weise entziehen; sie werden vielmehr stärker genötigt, sich mit der in diesem Vorwurf enthaltenen Sache selbst auseinander zu setzen.

Wenn mithin dafür plädiert wird, den Begriff Antijudaismus zwar nicht zu ersetzen, aber doch mit Bedacht und nicht allein zur Kennzeichnung der gemeinten Sache zu verwenden, so allerdings nicht nur aus dem genannten Grund. Vielmehr kommen weitere hinzu. Der Begriff »Antijudaismus « selbst ist ja in sich durchaus mehrdeutig. Er ließe sich z. B. auch so verstehen, dass er eine Bewegung bezeichnet, die gegen einen christlichen Judaismus, also gegen christliches Judaisieren, gerichtet ist. Mit Zügen eines solchen Judaismus hat es z.B. Paulus in seiner Auseinandersetzung mit den Gemeinden in Galatien zu tun. Mit dieser Eingrenzung ist zwar noch keineswegs entschieden, ob diese Form eines Antijudaismus legitim oder unproblematisch ist. Dennoch ist die heutige Verwendung des Begriffs anders akzentuiert. Der gemeinte Sinn tritt deutlicher hervor, wenn man den Begriffsteil »Judaismus« im Sinne des englischen Begriffs »Judaism« versteht, der einfach »Judentum« bedeutet.

Antijudaismus ist demgemäss, wie bereits angedeutet, eine gegen das Judentum gerichtete, seine Existenz in bestimmter Weise verneinende Grundeinstellung. Kennzeichnend für den Gebrauch des Begriffs dürfte nicht zuletzt seine im allgemeinen und sicher mit Recht vollzogene Unterscheidung von Antisemitismus sein. So scheint sich mit dem Begriff »Antijudaismus«, obwohl eine nachhaltig jüdische Existenz gefährdende Haltung gemeint ist, die Vorstellung zu verbinden, es handele sich um eine Einstellung, die allein auf der Ebene ideologischer, hier religiöser Auseinandersetzung gegen das Judentum gerichtet ist, während das menschlich Destruktive eher unter den Begriff des Antisemitismus subsumiert wird, und zwar als Bezeichnung für eine judenfeindliche Einstellung, die sich mit vorurteilsbeladenen politischen und ökonomischen Gründen zu legitimieren sucht.

Einem solchen allein unterscheidenden und abgrenzenden Verständnis, dem die Tendenz innewohnt, die Vertreter von Antijudaismus zu entlasten, stehen jedoch die eminent praktischen Konsequenzen des christlichen Antijudaismus entgegen. Das bedeutet: Die Grenzen zwischen Antijudaismus und Antisemitismus sind fließend. Um diesen Zusammenhang bewusst zu machen, scheint es empfehlenswert, dem Wissenschaftsbegriff »Antijudaismus« öfter den konkreten deutschen Begriff »Judenfeindschaft« an die Seite zu stellen und vor allem auch statt des sich zunehmend einbürgernden Adjektivs »antijudaistisch« das sachentsprechende und in der Aussage klarere Adjektiv »antijüdisch« zu wählen.

Mit zwei, z.T. Früheres aufnehmenden Überlegungen möchte ich diesen Teil schließen:

Erstens: Anstelle der Begriffsbestimmung, Antijudaismus sei eine gegen das Judentum gerichtete, seine Existenz in bestimmter Weise verneinende Grundeinstellung, hätte ich vor dem dargelegten Hintergrund auch sagen können, Antijudaismus sei eine das (religiöse) Existenzrecht des Judentums bestreitende und seine Existenz eminent gefährdende Grundeinstellung. Nach allem in unserem Jahrhundert Geschehenen dürften freilich Äußerungen, in denen dies offenkundig wird, eher selten sein. Der Begriff der (theologisch begründeten und formulierten) Verneinung der Existenz des Gottesvolkes vom Sinai als entscheidendem Problem des christlichen Antijudaismus soll dem Tatbestand Rechnung tragen, dass eine Zurückhaltung in der Rede noch keinen Wandel der Einstellung einschließt. Der Begriff der Verneinung scheint deshalb eher geeignet, an die Quelle destruktiver christlicher, theologisch begründeter Einstellungen gegenüber den Juden heranzureichen und damit gerade auch latenten Antijudaismus zu erfassen.

Zweitens: Im Falle des christlichen Antijudaismus befasst man sich auch dann, wenn man es anscheinend mit rein historischen Fragen zu tun hat, ständig mit der Gegenwart, gerade auch dann, wenn man wie im Falle des Neuen Testaments von der Vergangenheit handelt. Für wen sind irgendwelche assyrischen, den Gegner dem Unheil überantwortenden Fluchtafeln ein Problem? Sie sind mehr oder weniger allein von historischem Interesse. Anders im Falle des Neuen Testaments und im Falle der jüdischen Gemeinschaft. Das Neue Testament ist Heilige Schrift, mit kanonischem Rang, und in diesem Sinne bereits stets in der Gegenwart angesiedeltes Wort. Und desgleichen ist die jüdische Gemeinschaft kein Gegenstand historischer Erinnerung, sondern gegenwärtige, lebendige Realität. Diese beiden ganz in der Gegenwart lokalisierten Phänomene setzen zwar das Postulat einer historischen Auslegung des Neuen Testaments nicht außer Kraft; sie nötigen aber zu einer Sensibilität im Umgang mit den Texten, die ständig ihrer stattgehabten und heute möglichen aktuellen Wirkung eingedenk ist. Wer es sich deshalb heute leistet, sich als Theologin oder Theologe mit scheinbar rein historischen Ausführungen zu begnügen und deren Verwertungszusammenhänge nicht gründlich mitzureflektieren, hat schlicht und einfach seine theologischen Schularbeiten nicht gemacht und sollte jedenfalls eins nicht tun: historische Arbeiten als unmittelbares Korrektiv für heutige theologische Überlegungen ansehen. Sie sind rein archivarischer Natur, auch wenn sie selbst in der Regel de facto zwischen den Zeilen immer auch mehr sind als rein historische Ausführungen.

2. Schaltstellen von offenem und latentem christlichen Antijudaismus in Exegese und Verkündigung

2.1 Jesus der Lehrer

Die Grenzen zwischen offenem und latentem Antijudaismus sind in vielen Fällen fließend. Oft wird es eine Frage der mehr oder weniger subjektiven Einschätzung sein, in welche Kategorie bestimmte Äußerungen gehören.

Um ein Beispiel zu geben: Wenn ein durchaus bekannter Exeget unserer Tage auf einem in die Breite wirkenden kirchlichen Abreißkalender die Gemeinden mit Blick auf das Gebot der Sabbatheiligung belehrt, Jesus habe die Schriftgelehrten seiner Tage kritisiert, »dass sie dies einfache und befreiende Gebot mit so vielen Bestimmungen ergänzten und belasteten, dass jedermann froh war, wenn der Sabbat vorüber war; denn nun konnte er das Sabbatgebot wenigstens nicht mehr übertreten, wenn er z.B. ein Herdfeuer anzündete und seinen Hunger stillte, indem er die Körner aus den Ähren trieb« - wenn also so belehrt wird, ist dies ein Zeugnis von offenkundigem oder latentem Antijudaismus? In jedem Fall ist es eine groteske Verzeichnung der historischen Gegebenheiten und des Selbstverständnisses nennenswerter Kreise des jüdischen Volkes im 1. Jahrhundert.

In diesem Sinne ist es objektiv antijüdisch und wird auch nicht dadurch abgemildert, dass es der Ehre Jesu dienen soll. Um also einer in solchen Zusammenhängen denkbaren Engführung auf Grund verschiedener Einschätzungen vorzubeugen, habe ich beide Adjektive in die Überschrift dieses Teils aufgenommen - latent und offen. Doch um die eigene Einschätzung nicht schuldig zu bleiben: In diesem Fall würde ich eher von offenem Antijudaismus sprechen: Was bleibt, ist das »einfache und befreiende« (also anscheinend nicht der Auslegung bedürftige) biblische Gebot, das jetzt von Jesus restituiert wird, auf der einen Seite, die ihr Volk (»jedermann«) versklavenden Schriftgelehrten auf der anderen Seite. Tertium non datur, so dass wir es mit einer restlosen Verneinung jüdischer religiöser Existenz am Beispiel des Sabbatgebots zu tun haben.

Mit diesem Beispiel sind wir bereits ein erstes Mal mitten im Zentrum der hier zu erörternden Zusammenhänge. Denn z.T. vielleicht schon bei Markus, auf jeden Fall aber bei seinem zitierten Exegeten geht es ja mit all dem nicht um einen zu klärenden Einzelfall, vielmehr sind die Aussagen so gefasst, dass sie als Exempel einer grundsätzlichen Antithetik erscheinen: Das Gegenüber: dort die versklavende Sabbattora der Lehrer Israels, hier der von ihr befreiende Jesus, lässt die Geschichte als Einzelfall des grundsätzlichen, einander ausschließenden Gegeneinanders des auf die Tora zentrierten Judentums und des an Jesus orientierten Christentums erscheinen. Der erörterte kleine Passus leistet in diesem Sinne einen mehrfachen Dienst:

- Er zeigt zum einen, wie schwer sich Exegeten unverändert damit tun, ein sachgerechtes Bild vom Judentum in ihre Ausführungen einzubeziehen.


- Er zeigt zum anderen, wie schwer es anscheinend ist, christliche Identität christologisch differenziert auszusagen.


- Er lässt drittens erkennen, dass wir uns mit den Größen »Tora« und »Jesus (Christus)« und ihrer Rezeption unverändert an den Schaltstellen des christlichen Antijudaismus befinden.

2.2 Jesus der Gekreuzigte

Wie schwer es offenbar ist, ungeachtet historischer Klarstellungen eingewurzelte Vorurteile in Exegese und Verkündigung zu überwinden, zeigt sich in geradezu bedrückender Konsequenz, wenn wir von dem lebendig wirkenden zum leidenden und sterbenden Jesus und seiner Rezeption übergehen.

So findet sich am Ende der Streitgespräche in Mk 2-3, zu denen auch das Ährenausraufen am Sabbat gehört, die Notiz, Pharisäer und Herodianer hätten nach all dem beratschlagt, wie sie Jesus umbringen könnten. Diese Notiz gilt heute allenthalben als redaktionell, sei es auf der vormarkinischen, sei es auf der markinischen Ebene. In der Passionsgeschichte spielen im Übrigen beide Gruppen keine Rolle. Sodann zeichnet sich eine gewisse Einmütigkeit in der Auffassung ab, dass Jesus von dem Römer Pontius Pilatus verurteilt und hingerichtet worden ist. Eine Beteiligung von Seiten des Synhedriums ist wahrscheinlich vorauszusetzen, liegt aber einigermaßen im Dunkeln.

Orientiert man sich an den Evangelien, so werden dort zwei motivierende Zusammenhänge erkennbar: zum einen die sog. Tempelreinigung, zum anderen das Messiasbekenntnis Jesu. Ungeachtet all dieser Eckdaten ist es nach wie vor gängig zu behaupten, Jesus sei wegen seiner Stellung zur Tora zu Tode gebracht worden. Da sich aber die Konflikte in der Lehre im Gegenüber zu Schriftgelehrten und Pharisäern abspielen, sind es letztlich und wiederum - diese Gruppen, denen in entscheidendem Maße die Schuld am Tode Jesu zugewiesen wird. Mir erscheint dies als Fortleben der alten antijüdischen These, »die Juden« und ihre Tora seien schuld am Tode Jesu. Das Verhältnis der beiden Größen »Jesus« und »Tora« erscheint entsprechend auch hier als pauschalantithetisch und nicht differenziert-konkret behandeltes. In gewissem Sinne hat damit die jüdische Seite die Kosten dafür zu tragen, dass man den irdischen Jesus weithin entmessianisiert hat. Denn würde man Messianischem im Rahmen des Ausgangs Jesu in Jerusalem mehr Raum geben, würde sich auch die Schuldfrage erheblich differenzierter stellen. Im Sinne einer Faustregel kann man sagen, dass diese Verknüpfung zwischen der Lehre Jesu und seinem Tod letztendlich von der - ja ebenfalls prinzipiell als spät erkannten johanneischen Sicht der Dinge bestimmt ist.

2.3 Christologisch fundiertes Anspruchsdenken

Viele von uns sind vermutlich bereits unzählige Male in der Situation gewesen, dass Ihnen in Diskussionen um die Erneuerung des christlichjüdischen Verhältnisses - manchmal geradezu einem theologischen Keulenschlag gleich - die beiden geradezu klassischen Bibelstellen entgegengehalten worden sind: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich« (Joh. 14,6) und: »Es ist in keinem andern Heil, ist auch kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, darin wir sollen selig werden« als in dem Namen Jesu Christi (Apg. 4,12). Die Frage des Umgangs mit solchen christologisch-soteriologischen Sätzen scheint mir ins Zentrum unserer Aufgabe zu gehören. Denn zwar werden diese und vergleichbare Sätze nicht immer in der angedeuteten Weise biblizistisch gehandhabt, aber der Sache nach führen sie in die Mitte des Problems des latenten Antijudaismus.

Zwar gibt es, was die Frage des Umgangs betrifft, Hilfen wie das bekannte Diktum Franz Rosenzweigs, der Satz (Joh. 14,6) habe allein für die Völker Geltung, da die Juden bereits beim Vater seien. Und zu Apg. 4,12 möchte ich in einem ersten Zugang kritisch auf den nun doch bemerkenswerten Sachverhalt verweisen, dass hier vielfach wohl unerkannt und bedenkenlos, sofern der Satz gegen das Judentum gewandt wird, der Name Jesu gegen den Namen Gottes ausgespielt wird. Aber damit sind wir erst am Beginn einer Auseinandersetzung. Ich möchte deshalb diesen Zusammenhang später noch einmal thematisch aufnehmen, allerdings bereits hier zusätzlich auf die schwierige Hypothek dieser Sätze hinweisen: Wo verläuft hier die Grenze zwischen dem Lautwerden eines christologischen Anspruchs und eines christologisch verbrämten ekklesiologischen?

2.4 Judenmission

Wir haben damit fast zwanglos den Übergang zu einem weiteren Zusammenhang gewonnen, in dem latenter Antijudaismus zu Hause ist, nämlich in dem Bereich der sog. Judenmission. Wiewohl man zeitweise denken konnte, es handele sich um mehr oder weniger vergangene Phasen einer christlich-jüdischen Verhältnisbestimmung, haben die letzten Jahre teilweise das Gegenteil gelehrt. Ich verweise dazu auf die Vorgänge in der Synode der ev.-luth. Landeskirche Hannovers und nachfolgend an der Göttinger theologischen Fakultät. In Aufnahme einer biblischen Wendung: Als Juden auf Glauben, Liebe und Hoffnung der Christen angewiesen waren, haben wir sie ihnen, nicht zuletzt weil es gefährlich war, weithin versagt. Nun, da es ungefährlich ist, möchten manche auf judenmissionarische Weise treue Christen sein. Beiden Situationen gemeinsam ist, dass die Situation des Anderen nicht zählt. In der hier nötigen Kürze sei gesagt: Ein judenmissionarisches Verhältnis zu Israel bleibt hinter der mühsam erreichten Dialogsituation zurück. Es ist in diesem Sinne latent antijüdisch, d.h. vor allem deshalb, weil es das Judentum als eine defizitäre Religionsgemeinschaft betrachtet, die erst dann zu ihrer Fülle kommt, wenn sie die tragenden Voraussetzungen der christlichen teilt. Im Rahmen der Entfaltung der entsprechenden christlichen Begründungszusammenhänge sind antijüdische Aussagen geradezu programmiert. Es gibt dabei natürlich verschiedene Spielarten, und da wir in Berlin sind, möchte ich die besonders erbärmliche nicht verschweigen, dass es hier - in der Regel von außen kommende - Gruppen gibt, die sich an das schwächste Glied der jüdischen Gemeinschaft wenden, an die aus den GUS-Staaten kommenden Jüdinnen und Juden, die nur eine rudimentäre Identität haben und denen mit ein paar hebraisierenden Brocken vorgegaukelt wird, sie würden im Christentum diese jüdische Identität finden. Mit der Frage der Judenmission ist natürlich die des christlichen Zeugnisses gegeben, auf die ich im Schlussteil zurückkomme.

2.5 Desavouierung von Römer 11

Es ist der Judenmission in historischer Perspektive zugute zu halten, dass sie das Bewusstsein der Relevanz von Römer 9-11, gerade auch des zukunftsgerichteten 11. Kapitels, wach gehalten hat. Indem sie das von Paulus enthüllte Mysterium jedoch als biblische Aufforderung zur Judenmission rezipiert hat, hat sie dem Kapitel die Spitze abgebrochen. Eine ganz andere Tradition des Umgangs mit diesem Kapitel ist bekanntlich von Bultmann begründet worden und wird teilweise unter seinen Anhängern gepflegt, nämlich die Einschätzung dieses Hoffnungskapitels als spekulative Apokalyptik.

In der Konsequenz führt dies zu verschärften Formen von Antijudaismus. Dies kommt z.B. darin zum Ausdruck, dass der Absage an die Zukunftsgewissheit für Israel diejenige an die Gewissheit seiner bleibenden Erwähltheit entspricht. Israelkritische Aussagen werden demgemäss auch nicht mehr durch die Klammer von geschehener Erwählung und kommender Rettung relativiert, wie sich überhaupt die ganze Thematik umso stärker auf die Auseinandersetzung um die Tora, das Gesetz, konzentriert, mit vielen nur zu bekannten die Tora desavouierenden Aussagezusammenhängen. Von der Sache her müsste ich nun folgerichtig einen eigenen Abschnitt über den Antijudaismus bringen, wie er in dieser Desavouierung des Gesetzes zum Ausdruck kommt. Doch da es sich um bekannte Zusammenhänge handelt, nehme ich diesen Aspekt in nuce mit in den nächsten Abschnitt hinein.

2.6 Restriktion soteriologisch qualifizierter Ekklesiologie und Ethik

Jede Form von Antijudaismus ist im Tiefsten eine Verletzung auch des Christentums. Feinde von Juden und Christen haben dies zuzeiten schärfer gesehen. Es ist freilich schwer, diesen Zusammenhang wahrzunehmen, wenn christliche Identität sich im Anti zum Judentum definiert, wie es am deutlichsten in der zuletzt angesprochenen Frage nach der Stellung zum Gesetz zutage tritt. Nicht dass einer Rechtfertigung auf Grund von Werken des Gesetzes das Wort zu reden wäre. Aber wenn Judentum auf diese Formel, dazu in einer bestimmten paulinisch-lutherischen Fassung, festgelegt und christlicher Glaube als radikale Antithese zur Rechtfertigung aus Werken des Gesetzes definiert wird, dann ist Antijudaismus zum Programm geworden und gehört zum Wesen des Christentums. Die christliche Eigenschädigung wird vor allem in den aufs Engste zusammengehörigen Bereichen der Ekklesiologie und Ethik spürbar. Zeigen möchte ich dies am Beispiel unseres Themas. Der skizzierte christliche Antinomismus ist die Kehrseite der christlichen Orientierung am Glauben an Jesus Christus. Die traditionelle theologische Verortung des Judentums geschieht nach Maßgabe des Kriteriums, ob seine Glieder diesen Glauben teilen. Eine untergeordnete (wenn überhaupt relevante) Rolle spielt demgegenüber die Frage, wie diejenigen, die diesen Glauben verkündigen, ihn selber leben, und zwar gerade auch im Verhältnis zum Judentum. Eine nicht die Kirche selber zu Grunde richtende Verkündigung des Christus kann - etwa gerade gemessen an Paulus, wie besonders eindrücklich der erste Korintherbrief zeigt - auch nicht einen Augenblick davon absehen, wer sie selber von Gott her ist: Gemeinde der Geheiligten, der Gerechtfertigten, der Versöhnten, die also als Gemeinde in diesem Sinne soteriologisch qualifiziert ist und die die Frage, ob sie als die lebt, die sie ist, nicht beliebig entscheiden kann. Eine christliche Ethik ist in diesem Sinne stets soteriologisch-ekklesiologisch qualifizierte Ethik, das Verhalten der christlichen Gemeinde für Außenstehende stets Spiegel dessen, was ihr selber Jesus Christus wert ist und wer er in diesem Sinne ist. Theologisch wird man immer zwischen Christus und Gemeinde und Einzelnem zu unterscheiden haben, nach außen hin - und Verkündigung und Zeugnis sind in dem diskutierten Zusammenhang nach außen gerichtete Aktionen - bzw. für die Wahrnehmung von außen, so kann man zugespitzt formulieren, sind die Werke Christi und die seiner Gemeinde ungeteilt. Die erste Frage ist also, ob wir wirklich versöhnt sind, versöhnt auch mit dem die bleibende Erwählung Israels wollenden Willen Gottes, und allenfalls dann steht die Frage an, wie Israel es mit dem Christus Jesus halten mag. Aber ich denke, dass dann, wenn diesem Zusammenhang Rechnung getragen wird, das christlich-jüdische Verhältnis ebenso auf einer qualitativ anderen Ebene angesiedelt ist wie dann, wenn man statt auf Mission auf offene Begegnung und Gespräch setzt.

Ich möchte diesen ganzen Zusammenhang kritisch bündeln, indem ich ihn wie folgt charakterisiere: Christliche Selbstauslegung ist traditionell in eminentem Maße durch eine Totalisierung der Bedeutung von Lehre (Verkündigung) und Glauben (hieran hängt alles) und durch eine Fragmentarisierung der Bedeutung kirchlichen und christlichen Lebens gekennzeichnet. Und eben dies Verhältnis ist eine ständige Quelle von latentem Antijudaismus und auch Antichristianismus.

3. »... was sollen wir tun?« (Apg. 2,38)

Wie also ist all dem zu begegnen, wie ist mit ihm umzugehen, damit es in den Prozess einer qualitativen Erneuerung des christlich-jüdischen Verhältnisses zu stehen kommt?

3.1 Eckdaten der Gegenwart

Die jüdische und die christliche Gemeinschaft sind historisch und theologisch gegenwärtige Größen. Mit Blick auf die jüdische Gemeinschaft heißt dies, dass sie nach neu gewonnener christlicher Glaubensgewissheit Gottes Volk vom Sinai her ist mit einer eigenen, lebendigen, reichen Identität, gegründet auf einen - mit Buber gesprochen - »ungekündigten« Bund. Die Gegenwart in beiderlei Sinn schließt ein, dass das, was Judentum ist, sich nicht allein auf der Grundlage des Neuen Testaments bestimmen lässt, sondern nur mit Hilfe von Selbstaussagen Israels in Geschichte und Gegenwart. Ihre Wahrnehmung dient dem bereits vor hundert Jahren von einem jüdischen Feldgeistlichen formulierten (und fast alles Wesentliche umschließenden) Ziel, einander kennen, verstehen und achten zu lernen, also die Identität beider Gemeinschaften zu respektieren und so jeweils zugleich die eigene heilsam zu verwandeln. Die je eigene Identität ist dabei durch beiderlei gegeben: durch die je andere, unverwechselbare Geschichte und die je eigene Verortung im Horizont der gemeinsamen Bibel.

3.2 Identität, Auftrag und Zeugnis

Christliche Identität ist in ihrem Zentrum nicht von der simplifizierenden antijüdischen Antithese »Christus oder Gesetz« her zu definieren. Die entscheidende Differenz zwischen Juden und Christen ist in der Tat christologischer Natur. Sie hat ihren Grund in der Gewissheit der Auferweckung des Gekreuzigten (Jesus lebt). Sie ist konstitutiv mit der Gewissheit der Beauftragung mit dem Zeugnis von diesem Geschehen verbunden. Sätze wie Joh. 14,6 und Apg. 4,12 sind entsprechend ihrer ganzen Struktur nach - auch wenn sie wie im Falle von Joh. 14,6 von Jesus gesprochen sind - Bekenntnis- und Zeugnissätze, die sich nicht verobjektivierend von den Zeugen trennen lassen.

Ein heilsames Lautwerden christlichen Zeugnisses ist - im Verhältnis zu Israel durchbuchstabiert - nur unter der Voraussetzung möglich, dass mit Blick auf die andere, die jüdische Seite von der gleichen Pflicht und dem gleichen Recht eines solchen Zeugnisses für die eigene Wahrheitsgewissheit ausgegangen wird. Gegenüber stehen sich nicht Erleuchtete und Verstockte, sondern verschiedene Zeugen vom Handeln desselben Gottes, Zeugen einer je spezifischen Wahrheitsgewissheit. Dass sich diese Wahrheitsgewissheit auf denselben Gott, literarisch z.T. auf dieselben Heiligen Schriften, bezieht und doch unterschieden ist, macht das Problem des christlichjüdischen Verhältnisses aus. Die Frage ist, ob es allein ein Problem bleiben muss oder ob es nicht ganz anders, im Sinne einer Bereicherung, einer Verheißung für beide und einer Gabe für andere ausgelegt und verstanden werden kann. Entscheidend dürfte jedenfalls im Verhältnis zu früheren Zeiten sein, dass das im Allgemeinen vorauszusetzende Verbleiben bei der überlieferten Wahrheitsgewissheit nicht theologisch abwertend gedeutet, vielmehr anders aufgenommen wird.

Dazu gehört zentral, dass man nach den Gründen für die Position des Anderen fragt. Geschieht dies, so ist man in einem Gespräch und qualitativ auf einer anderen Ebene als etwa der judenmissionarischen. Hier liegt - bei allen möglichen Anfragen die Stärke des Übergangs zu einem dialogischen Verhältnis. Bei dem Übergang zur Frage nach den Gründen und damit beim Abstehen von den traditionellen Deutungen kann und wird sich erweisen, was es mit der eigenen Identität auf sich hat, sobald sie nicht mehr ihre Nahrung aus der pauschalen Negation des Anderen bezieht. Und ebenso bedarf es keiner Frage, dass es sich um ein mühsames Unterfangen handelt. Denn nehmen wir z.B. den Zusammenhang, den ich als die Mitte der christlichen Identität bezeichnet habe, die Verkündigung von der Auferweckung des Gekreuzigten und - pneumatologisch verlängert - von der Ausgießung des Heiligen Geistes.

Es sind diese Gewissheiten, die bei Paulus zur Deutung des Nein Israels als Leben aus dem Fleisch, aus Werken des Gesetzes führen. Aber vielleicht ist diese Relationalität der paulinischen Deutung Israels, d.h. ihre Grundbezogenheit auf eine Gewissheit, bereits ein Schritt auf dem Weg zu ihrer angemessenen Deutung - eben weil sie als debattierbares Zeugnis in den Horizont tritt. Ich breche hier ab - wir können diesen für Lutheraner vielleicht besonders relevanten Zusammenhang gegebenenfalls noch einmal in der Diskussion aufnehmen. Ich resümiere nur noch einmal den zentralen Punkt: Es stehen sich Wahrheitsgewissheit hier und Wahrheitsgewissheit dort gegenüber. Ihre wechselseitige Verneinung macht schwerlich einen Sinn. Und das heißt mit anderen Worten: Das christlich-jüdische Verhältnis lässt sich nicht mehr so gestalten, dass der Andere mit allgemeinen Sätzen oder Wahrheiten definiert wird, sondern allein so, dass konkret über bestimmte Einzelprobleme und -fragen debattiert wird. Die Diskussion könnte aufregend genug sein. Gehören doch beide Seiten - ein zentrales Merkmal ihrer Identität - in einer komplizierten Schichtung zugleich verschiedenen Zeiten (vormessianisch, messianisch) und derselben Zeit an. Von hier ergibt sich wie von selbst der nächste thematische Aspekt.

3.3 Eine gemeinsame Zukunft?

Martin Buber hat einmal gesagt, das, was Juden und Christen gemeinsam hätten, seien ein Buch (der Tenakh/das AT) und eine Hoffnung, nämlich die auf das Reich oder die Herrschaft Gottes. Christlicherseits wäre an dieser Stelle wohl auch die Messias- oder Christuserwartung zu nennen, und zwar ungeachtet ihrer je verschiedenen Ausprägung als reine Erwartung im einen, als - in gewissem Sinne - Wiedererwartung im anderen Fall. Es ist dieser Zusammenhang, in dem Röm 11 m.E. sein volles Gewicht erhält. Zwar spricht Paulus in dem von ihm enthüllten Mysterium nicht ausdrücklich von Jesus Christus, sondern allgemein vom »Retter aus Zion«. Aber es ist schwer vorstellbar, dass er nicht oder nicht mitgemeint sein sollte. Verfehlt wäre dieser Zusammenhang, verstünde man ihn so, am Ende würden die Juden also doch noch an Jesus Christus glauben, bekehrt werden oder wie immer die Wendungen lauten. Denn Paulus redet an dieser Stelle von der Zeit, die er an anderer Stelle als Zeit nicht des Glaubens, sondern des Schauens bezeichnet (2.Kor. 5,7). Was man sachlich dieser Stelle entnehmen kann, ist entsprechend die Gewissheit, Israel werde dann, wenn sein/der Messias kommt, ihn auch als solchen begrüßen, durchaus in Entsprechung zur synoptischen Tradition, dann würden sie sagen: »Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn« (Lk. 13; Mt. 23). Diese Erwartung tut dem jüdischen Volk kein Leid an, sondern ehrt es. Und sie entspricht der Struktur nach der Erwartung Israels, am Ende der Zeit würden alle Völker den einen Gott anerkennen (Alenu).

4. Leitlinien und Ausblick

Ohne die Grundlinien des Referates nachzuzeichnen oder zusammenzufassen, möchte ich doch zumindest abschließend einige Eckdaten hervorheben und auswerten. Weder einem Antijudaismus noch auch dem Umgekehrten, einem Philojudaismus, das Wort reden, heißt kurz und bündig:

  1. Wahrnahme des Judentums als eine gegenwärtige Realität, und zwar von seinen eigenen Lebenszusammenhängen und seinen eigenen Voraussetzungen her.
  2. Wertschätzung des Judentums als eines Wertes an sich, unabhängig von der Frage, was wir christlicherseits ‚davon haben‘.
  3. Absage an die Definition christlicher Identität in prinzipieller Abgrenzung vom Judentum.
  4. Absage an die - wenn auch seltener begegnende - Einstellung, bereits deshalb, weil etwas jüdisch sei, sei es richtig oder besser oder wie immer man zu sagen geneigt sein könnte. Wenn das Ganze unter dem Schutz steht, kann an Einzelnem jederzeit Kritik geübt werden, die nicht per se destruktiv ist, und nur eine differenzierende Wahrnahme des Judentums wird ohnehin der Vielfalt des Judentums der Gegenwart gerecht.
  5. Integration jüdischer Anfragen als positive Herausforderungen an Theologie und Kirche.
  6. Formulierung echter christlicher Fragen an die jüdische Seite (Warum ...) statt Wiederholung überkommener theologischer Negativbestimmungen der Existenz Israels.
  7. Existenz in einer geschichtsbezogenen Partnerschaft, in der nach konkreten Formen einer Gemeinsamkeit - vor allem im Bereich des Handelns - gesucht wird.

Die Grenze von Philo- und Antijudaismus liegt darin, dass beide auf ihre Weise von der Nichtselbstverständlichkeit der Existenz des Judentums als Gottesvolk vom Sinai ausgehen. Dies Faktum spiegelt sich darin wider, dass man tendenziöse Grundaussagen meint treffen zu müssen. Demgegenüber sollte entsprechend von der Selbstverständlichkeit der Existenz der jüdischen Gemeinschaft als Gottesvolk vom Sinai ausgegangen und vor allem gefragt werden, was sie gegebenenfalls für sich, für die Christenheit und generell für andere bedeutet. Falls aber dies Bewusstsein von der selbstverständlich gegebenen und nicht prinzipiell zu hinterfragenden Existenz Israels als Gottesvolk von Ägypten und Sinai her als Pro- oder Philojudaismus bezeichnet wird, so ist dies gelassen zu tragen, ist letzterer doch im Zweifelsfalle das kleinere Übel, zumal wenn man die Gleichung aufmacht: Antijudaismus = Judenfeindschaft, Projudaismus = Judenfreundschaft.

So oder so ist als Leitlinie zu resümieren, dass es nicht darauf ankommt, sich in prinzipiellen, möglichst umfassenden Definitionen des Anderen zu verlieren, sondern nach möglichst konkreten Problemen zu fragen und sie in der Hoffnung zu diskutieren, dass auf einem solchen Verhältnis anders als auf dem vergangenen ein Segen ruhen könnte, auch für andere. Eine noch immer sehr weit gefasste, aber vielleicht doch überkommende Schemata transzendierende Frage wäre deshalb die nach dem je spezifischen und vielleicht hier und da auch gemeinsamen Auftrag von Kirche und Synagoge in unserer Welt, wie sie ist und in der nächsten Zukunft sein wird.

Editorische Anmerkungen

Vortrag auf der Tagung „Antisemitismus – Erscheinungsformen der Judenfeindschaft gestern und heute“, Görlitz 7.10.2002.