„Angst überwinden – Brücken bauen“

Festrede zur Schlussversammlung der Woche der Brüderlichkeit 2018 von Dr. Nikolaus Schneider, Präses a. D. der EKD, am Sonntag, 18. März 2018 um 17.00 Uhr im Goldenen Saal des Rathauses der Stadt Augsburg.

I.    Vorbemerkung:

„Angst essen Seele auf“ – eine von Fassbinders Film inspirierte Annäherung an das Thema des Vortrags

‚Angst essen Seele auf‘ ist der Titel eines Filmes von Rainer Werner Fassbinder aus dem Jahr 1974.

Der Film spielt in München und erzählt die Liebes-Geschichte von Emmi Kurowski, einer verwitweten Putzfrau jenseits der 60, und Ali, dem mehr als 20 Jahre jüngeren Gastarbeiter aus Marokko. 

Fassbinder spürt mit diesem Film – einer eigenwilligen Mischung zwischen Melodram und politischem Lehrstück – Gründen nach, die das Zusammenleben von Menschen erschweren und das Glückspotential von Liebesbeziehungen zerstören.

Als äußere Gründe werden die Verletzungen von Normen und Erwartungen ihres Lebensumfeldes durch Emmi und Ali deutlich: 

Eine partnerschaftliche Liebe zwischen zwei Menschen aus so unterschiedlichen Kulturkreisen und zwischen einer so ‚alten Frau‘ und einem so ‚jungen Mann‘ kann von  Nachbarinnen, Kindern, Kolleginnen, Lebensmittelhändler und Kellnern nicht akzeptiert werden.

Entscheidender aber ist ein innerer Grund:

Emmi hat Angst vor ihrer Liebe.

Als sie Ali diese Angst gesteht, antwortet Ali darauf mit dem Satz, der zum Filmtitel und zur Botschaft des Filmes wurde:

„Angst essen Seele auf“.

‚Nefesch‘ = die ‚Seele‘, gehört im jüdischen – nicht immer auch im christlichen –  Sprachgebrauch zum diesseitigen Körper von uns Menschen.

Die Seele umfasst dabei unser ‚ganzes Inneres‘, also unser Fühlen, Denken, Hoffen und Glauben. Und dazu noch unsere ‚Kehle‘, das Organ, durch das sich unser Inneres nach außen wendet.

Ohne Seele kann ich mein Inneres dem Anderen nicht öffnen und nicht mitteilen. Ohne Seele kann ich deshalb keine vertrauensvollen Beziehungen knüpfen und gestalten. Und das hat Folgen:

Ohne Seele können Menschen nicht lieben.

„Angst essen Seele auf“ – die Botschaft des Filmes verweist uns auf eine Angst, die uns beziehungsunfähig macht, wenn wir ihr Raum geben und Raum lassen. Auf eine Angst, die wir bekämpfen und überwinden müssen, wenn wir Brücken zum Anderen und zum Fremden bauen wollen.

Von dem jüdischen Philosophen Martin Buber lernen wir, unser menschliches Leben als Begegnung und Beziehung zu betrachten und zu verstehen. Alles ‚wirkliche Leben‘ erfüllt sich für Martin Buber in Begegnung und Beziehung. (vgl. dazu Martin Buber/ Stefan Liesenfeld (Hg), Alles wirkliche Leben ist Begegnung, Verlag Neue Stadt 1998).

Und da, wo echte Begegnungen und Beziehungen zwischen Menschen stattfinden – also mit Anteilnahme und Gegenseitigkeit – da ist für Buber auch der Raum Gottes. Da verorten wir Gott nicht in einem für uns irdische  Menschen unerreichbaren und nur zukünftigen Jenseits.

Da, wo echte Begegnungen und Beziehungen zwischen Menschen stattfinden, da lässt sich Gott schon in unsere diesseitige Welt hineinziehen:

In den echten Begegnungen und Beziehungen unseres irdischen Lebens ereignet sich die ‚Schechina‘, die Einwohnung und Gegenwart Gottes unter den Menschen. (vgl. dazu etwa Martin Buber, Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre, Gütersloher Verlagshaus, S. 38 – 43)

Diese Einsicht Martin Bubers begegnet uns auch im Reden und Handeln von Jesus Christus, wie es uns in den Evangelien bezeugt wird: Der im christlichen Glauben mit Gottes lebendigem Wort identifizierte Jesus von Nazareth wirbt für ein Gottes-Verständnis, das Gottes Reich und Gottes Antlitz schon jetzt, in unserer irdischen Wirklichkeit und mitten unter uns, wahrnimmt.

  • Was aber ermutigt und befähigt Menschen zu echten Begegnungen und gelingenden Beziehungen über die Grenzen ihrer kulturellen, nationalen und religiösen Beheimatung hinaus?
  • Was vermag das Fühlen und Denken von Menschen für die Wahrnehmung der Gegenwart Gottes zu öffnen? Für die Gegenwart  Gottes, die uns inspiriert, Angst vor dem Anderen und Fremden zu überwinden und Brücken zu bauen!

Diese existentiellen Grundfragen des Lebens kann dieser Vortrag nicht erschöpfend beantworten. Aber einige theologisch gefärbte Antwortimpulse will ich im Folgenden geben:

  • indem ich Auswirkungen von Ängsten anspreche, die mich aktuell mit Angst und Sorge erfüllen (II),
  • indem ich über die Ambivalenz unserer christlichen Gottesbilder nachdenke, die Grund oder Gegenkraft für beziehungsfeindliche Ängste sein können (III),
  • indem ich „Vertrauen“ als eine notwendige Lebenshaltung zum Brückenbauen akzentuiere (IV)
  • indem ich uns zum Abschluss einen zeitlosen Ratschlag von Hilde Domin mitgebe (V).

II.    Ängste, die aus Fremdsein, Unkenntnis und Vorurteilen entstehen, hindern uns auch heute, Brücken zum Anderen zu bauen.

Im Themenheft 2018 des Deutschen Koordinierungsrates stellt das Redaktionsteam des Heftes im Editorial fest:

„Unsere Arbeit in den bundesweit über 80 Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit zeigt, dass wir Experten darin sind, Ängste zu überwinden, die aus Fremdsein, Unkenntnis und Vorurteilen entstehen; Experten darin, Brücken zu bauen, Frieden zu schaffen und Schritte zur Versöhnung zu gehen.“  (Themenheft 2018, S. 4)

Ich sehe das auch so und ich bin dankbar für die Expertise und für das Engagement der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und des Koordinierungsrates.

Wir brauchen Ihre Inspiration und Ihre Arbeit gerade  heute, in einer Zeit, in der uns auch in unserem Land die Angst vor Überfremdung und der Antisemitismus in alten und neuen Gestalten wieder verstärkt begegnen.

Mir scheint, mit der Überwindung von Ängsten, die aus ‚Fremdsein, Unkenntnis und Vorurteilen entstehen‘ ist es wie mit dem Rudern gegen den Strom:

Wenn wir meinen ‚Wir haben es geschafft‘ und wir ruhen uns aus, dann treiben wir zurück …

Oder um eine Bildrede Martin Luthers abgewandelt aufzunehmen:

Der alte Adam und die alte Eva in uns mit all ihren fremdenfeindlichen Ängsten und Vorurteilen muss täglich neu ersäuft werden, damit sie unsere ‚Seele nicht aufessen‘. Damit uns also die Fähigkeit nicht verloren geht ‚Brücken zu bauen, Frieden zu schaffen und Schritte zur Versöhnung zu gehen‘ über die Grenzen unserer nationalen und religiösen Beheimatung hinaus.

Diese Fähigkeit brauchen wir heute im Blick auf die Integration von Flüchtlingen und – leider Gottes – auch wieder ganz besonders im Blick auf unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger.

Am 6. März erschien in der Süddeutschen Zeitung auf der Seite 3 ein „Notruf“. In diesem Notruf beklagen und fragen die beiden recherchierenden Journalisten Verena Mayer und Thorsten Schmitz:

„Wenn man in Deutschland über Antisemitismus recherchiert, kommt man an viele Orte. Man merkt schnell, dass es also nicht um Einzelfälle geht, sondern um ein tief wurzelndes Problem, für das sich, wie es aussieht, niemand richtig verantwortlich fühlt. Haben sich die Deutschen an den Antisemitismus gewöhnt? Und warum belässt es der Staat so oft nur bei Worten?

Und der Politiker Volker Beck von den Grünen erklärt in diesem Notruf:

Dass Juden sich nicht mehr heimisch fühlten in ihrer Heimat, liege daran, dass antisemitische Vorfälle einfach hingenommen würden. „Es fehlt das Signal des deutschen Staates an die Opfer antisemitischer Zwischenfälle: Das war einer von uns, wir sind auch damit gemeint.“

Yorai Feinberg, der Besitzer eines Restaurant mit israelischer Küche in Berlin - Schöneberg, hat eine mich verstörende verbale antisemitische Gewaltattacke gegen ihn mit dem Handy gefilmt und ins Internet gestellt. Er sagt in diesem Notruf:

„Wenn Deutschland nicht gegen Antisemitismus, gegen Judenhass, gegen Israelhass vorgehe, dann wird es hier immer schlimmer für uns‘.“

Verena Mayer und Thorsten Schmitz, die beiden Verfasser des Notrufes bringen auch meine Sorgen und Ängste auf den Punkt, wenn sie dazu konstatieren:

„Angesichts der deutschen Geschichte ist dieser Satz und die Angst, aus der heraus er gesagt ist, kaum auszuhalten.“

Juliane Wetzel vom Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin konfrontiert uns  in der März-Ausgabe  von ‚zeitzeichen‘ (Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft) mit neuen Fakten zum Antisemitismus in unserem Land und resümiert:

„Antisemitismus begegnet uns in allen gesellschaftlichen Schichten, in allen religiösen Spektren und sozialen Milieus. Judenfeindschaft ist im rechtsextremen Lager ebenso wie im radikalen Islamismus wichtigster Träger und konstitutiver Bestandteil der Ideologie. Auch das linke Spektrum ist nicht frei von antisemitisch konnotierten Konstrukten, die aber keine elementare Komponente linksextremer Denkstrukturen sind. Diskurse allerdings, die den Nahostkonflikt, antizionistische Imperialismus-Zuschreibungen oder die Finanz- und Zinspolitik entsprechend linker Denkschemata thematisieren, können antisemitische Inhalte transportieren oder als solche verstanden werden.“

Und Julia Wentzel warnt:

„Es gibt insgesamt zwar viele Hinweise für die Annahme einer großen Verbreitung von Antisemitismus bei Geflüchteten aus arabisch-muslimisch geprägten Ländern. Gleichzeitig zeigt sich aber auch, dass die Lage komplex ist. Die Gefahr besteht, den Blick zu einseitig nur auf die muslimische Bevölkerung oder aktuell auf Geflüchtete als Träger antisemitischer Einstellungen zu richten.“(zeitzeichen 3/2018, S.27-30)

Dem stimme ich zu. Nur zu leicht erliegen wir der Gefahr, judenfeindliche Vorurteile in unseren eigenen sozialen Milieus zu verdrängen, indem wir auf den Antisemitismus der muslimischen Flüchtlinge und Eingewanderten verweisen.

Vor allem die in weiten Teilen rechtsradikale AfD versucht aus dieser ‚Sündenbock-Methode‘ politisch Kapital zu schlagen:

Sie stellt sich mit ihrer Feindschaft  gegen muslimische Flüchtlinge als die „einzige Schutzmacht für jüdisches Leben in Deutschland“ dar (so Alice Weidel im Dezember im ‚Focus‘, zitiert nach ‚zeitzeichen‘, 3/2018, S. 32). Und sie lenkt mit dieser  strategischen Behauptung, die keinerlei inhaltliche Verankerung in ihrem Grundsatzprogramm hat, von ihren eigenen Antisemitismusproblemen ab (vgl. dazu den Artikel von Wolfgang Thielmann, Schutzmacht für jüdisches Leben? Die Rechtspopulisten der AfD wollen glauben machen, sie hätten kein Antisemitismus-Problem, in ‚zeitzeichen‘ 3/2018, S. 31-33).

Um Ängste, die aus Fremdsein, Unkenntnis und Vorurteilen entstehen, zu überwinden und Brücken über religiöse und kulturelle Unterschiede zu bauen, gilt auch für uns Christinnen und Christen:

Wir dürfen uns nicht nur an den ‚Splittern der Judenfeindlichkeit in den Augen anderer Milieus‘ abarbeiten. Wir müssen auch sensibel bleiben für den ‚Balken der Judenfeindlichkeit  in unseren eigenen Augen‘!

Mit diesem Anliegen möchte ich Ihnen im Folgenden – in der hier gebotenen Kürze und damit zwangsläufig auch Verkürzung – einige Gedanken über die Ambivalenz unserer christlichen Gottesbilder im Blick auf Fremdenangst und Judenfeindlichkeit zumuten.

III.    Zur Ambivalenz unserer christlichen Gottesbilder: Gottesbilder können als  Grund oder als Gegenkraft für beziehungsfeindliche Ängste wirken.

Im Themenheft zur diesjährigen Woche der Brüderlichkeit gibt Prof. Dr. Joachim Valentin, der neben seinen Ämtern an der Katholischen Akademie und der Universität in Frankfurt auch der Vorsitzende des Frankfurter Rates der Religionen ist, zu bedenken:

„Die Frage, welcher Gott denn in unseren Moscheen, Synagogen und Kirchen gelehrt wird, könnte aber auch für die Politik entscheidend sein.“

Und Valentin konkretisiert dann diese Frage:

„Ist es ein Gott, der Angst macht und willkürlich straft,

oder einer, dem ich vertrauen kann, der mich in meinem Ich-Sein und in meiner Freiheit wirklich will und bestärkt; dessen Gebote Gebote sind, die das Leben und den anderen Menschen sein lassen oder die vernichten wollen?“ (Themenheft 2018, S. 10)

Das ist eine wichtige Frage und das sind wichtige Konkretionen der Frage – gerade auch für unsere christlichen Gottesbilder und unser christliches Verständnis von Gottes Wort und Willen.

Wir haben uns in unseren Kirchen immer neu diesen Fragen zu stellen. Auch wenn wir darauf wohl kaum eindeutige und allgemeingültige Antworten finden werden. Das liegt nicht allein an den unterschiedlichen Predigerinnen und Predigern. Sondern das liegt wesentlich auch in den Gottesbildern selbst, die uns in der Bibel überliefert und bezeugt werden. Und die Grund und Bezugspunkt alle christlichen Theologie und aller kirchlichen Verkündigung sind.

Ambivalente Wirkungen der menschlichen Rede von Gott – also eben auch der biblischen Gottesbilder –  lassen sich meines Erachtens nicht vermeiden und nicht leugnen.

Die Erfahrung der Ambivalenz von Gottesbildern musste schon Jesus machen: Jesu Rede von Gott und seine Gottesbilder stärkten viele Menschen in ihrem ‚Ich-Sein‘, überwanden ihre Ängste und machten sie neu beziehungsfähig zu Gott und zu ihren Mitmenschen.

Jesu Rede von Gott und seine Gottesbilder riefen aber auch Ängste hervor.

Menschen fürchteten, durch seine Gottesbilder alt-vertraute  Glaubensgewissheiten zu verlieren. Menschen fürchteten Unruhen und Spaltungen in ihren Glaubensgemeinschaften.

Ich bin davon überzeugt:

Nicht nur im Christentum müssen wir mit Gottesbildern leben und glauben, die ambivalente Wirkungen auf unsere Ängste und unsere Beziehungsfähigkeit haben.

Diese Überzeugung entlässt uns allerdings nicht aus der Notwendigkeit der Frage:  ‚Welcher Gott wird denn in unseren Kirchen gepredigt und gelehrt?

Im Rückblick auf die Geschichte ‚meiner‘ christlichen Religion und Kirche scheint mir, dass sich christliche Theologie und christliche Prediger im Blick auf ihre Gottesbilder einige Jahrhunderte lang auch verrannt hatten:

Sie lehrten die Menschen Furcht statt Ehrfurcht vor Gott. Und Glaubens-Gehorsam statt Gottvertrauen. In der irrigen Annahme, dass selbstbewusste Menschen ohne Angst vor Höllenstrafen und ewiger Verdammnis ihre Bindung an Gott und Kirche verlören. Und schlimmer noch: Sie meinten und lehrten, sie hätten das göttliche Mandat, Gottes strafendes Gericht schon auf Erden an Anders-Glaubenden zu vollziehen.

Das hat sich – Gott sei Dank – in der Verkündigung und in der Praxis unserer Kirchen gegenwärtig weitgehend geändert.

Aber wir müssen feststellen:

Die Freiheit von der Angst vor Gottes Strafgericht  und das Vertrauen auf Gottes Liebe und Gegenwart im irdischen Leben machen Christinnen und Christen nicht automatisch frei von Ängsten gegenüber Anders-Glaubenden.

Das Reden und Predigen von dem Gott, der seine ganze Schöpfung und alle seine Menschenkinder liebt, konnte und kann offensichtlich die Angst vor Überfremdung und vor In-Frage-Stellungen durch Anders-Gläubige in unseren Kirchen und Gemeinden nicht endgültig überwinden.

Woran liegt das?

Brauchen Christinnen und Christen in und für ihren Glauben eine Selbstvergewisserung durch Abgrenzung? 

Brauchen wir für unsere Glaubens-Gewissheit, unser Heil in der Kirche bzw. in der Nachfolge Christi zu finden, gleichzeitig die Annahme von Heillosigkeit außerhalb des christlichen Glaubens und außerhalb unserer Kirchen? (vgl. dazu auch den Aufsatz von Rainer Kampling ‚Was wir mitschleppen – Über die Befreiung vom Joch der Judenfeindlichkeit‘ in ‚zeitzeichen‘ 3/2018, S. 24- 26)

Brauchen wir für unsere religiöse Beheimatung in der Kirche den Anspruch, Erbe und Teilhaber der absoluten Wahrheit Gottes zu sein?

Mir scheint:

Solange in christlichem Reden von Gott als Begleitmelodie die Überzeugung  mitschwingt:

‚Gott hat die absolute Wahrheit über sein Wort und seinen Willen letztgültig nur Christus und der christlichen Kirche offenbart‘

solange wird unser Reden von Gott nicht Gegenkraft, sondern Grund für beziehungs- und fremdenfeindliche Ängste sein.

Solche Absolutheitsansprüche von Religionen überwinden nur vordergründig die Angst der Menschen vor Verunsicherungen. Und der Preis für diese vordergründige Überwindung  ist, dass gleichzeitig zwischen den verschiedenen Religionen Mauern gebaut und schon bestehende Brücken eingerissen werden.

Solche Absolutheitsansprüche von Religionen spalten unsere Gesellschaft, statt dass sie uns inspirieren, Brücken zum Anderen und gerade auch zum Fremden zu bauen.

Solche Absolutheitsansprüche von Religionen verhindern, dass unsere Erde ein ‚Gottesplanet‘ wird. So wie Kurt Marti, der Schweizer Poet und Theologe, es uns Christinnen und Christen ins Stammbuch geschrieben hat:

„Absolutheit?

Ein Wahngebilde des Willens zur Macht,

Giftquell der Fanatismen.


Absolut ist nichts,

auch keine Religion.

Absolut ja hieße: losgelöst

von Zeit, von Geschichte.


Religionen aber: gewachsene Vielgestalt,

zeitlich, geschichtlich.

Auch das Christentum: nicht absolut!


Und Christus?

Lebte, litt zu der ihm bestimmten Zeit

unter dem ihm bestimmten Volk, den Juden;

wirkt, auferstanden,

für ein Dasein,

das alle Geschöpfe erfreut,

damit die Erde werde,

wozu sie erwählt ist:

ein Gottesplanet.“

(Kurt Marti, Die gesellige Gottheit. Ein Diskurs, Radius-Verlag 2015, S. 70f).

IV.    ‚Vertrauen isst Ängste auf‘ – Vertrauen ermutigt uns, Brücken zum Anderen und auch zum Fremden zu bauen

Vertrauen verlangt vom Anderen keine vollkommene Übereinstimmung mit dem eigenen Denken, Fühlen und Urteilen. Vertrauen setzt darauf, dass der Andere es gut mit mir meint; dass die Begegnungen und die Beziehungen mit ihm uns gegenseitig gut tun.

Vertrauen ist vorschüssig und treu: Es ist nicht Belohnung sondern Zutrauen.

Und es hält am Anderen fest, auch wenn er mich irritiert, enttäuscht oder gerade nicht versteht. So wie bei der Freundschaft.

Vertrauen gründet nicht auf beweisbares und bewiesenes Wissen. 

Vertrauen gründet auf erfahrungsbezogene und hoffnungsvolle Gewissheit,

hat also eine vergangenheits- und zukunftsbezogene Perspektive.

Es geht beim Vertrauen nicht um ein spontanes, auf Sympathie und Faszination beruhendes Bauchgefühl. Es geht um ein Grundvertrauen, das – um ein biblisches Bild zu benutzen – nicht auf Sand, sondern auf Fels gebaut und gegründet ist. Um ein nachhaltiges Vertrauen, das Irritationen,  Enttäuschungen und immer wieder neu aufflackernden Ängsten zu widerstehen vermag.

Mit meinem Vertrauen schenke ich einem anderen nicht zugleich meine Einwilligung in alles, was der Andere sagt und tut. Das Geschenk meines Vertrauens ist für mich nicht zugleich der Verzicht auf kritische Begleitung und eigene Verantwortung.

Deshalb ist ein blindes und kritikloses Vertrauen gegenüber allem Denken,  Reden und Handeln von Menschen in konkreten Situationen oft naiv, manchmal bequem und in der Regel verantwortungslos.

Wir müssen unser Vertrauen und unseren Verstand zusammenhalten – nicht nur in unserem Privatleben. Auch gegenüber Personen im öffentlichen Leben, auch im interreligiösen Dialog, auch gegenüber Flüchtlingen und Einwandernden und auch gegenüber der Berichterstattung in unseren Medien.

Die Schriftstellerin Hilde Domin beschreibt ‚Vertrauen‘ als ein ‚Hauptwort in ihren Lebensberichten‘ und zwar ein „sich regenerierendes Vertrauen, widerständiges Vertrauen, Dennoch-Vertrauen“ (Hilde Domin, Gesammelte Essays, Fischer Verlag 1993, S. 11). Sie macht sich und uns keine Illusionen darüber, dass diese Lebenshaltung uns nicht einfach zufliegt, sondern von uns Mut und Anstrengung erfordert. In ihrem ‚Lied zur Ermutigung II‘ spricht sie deshalb von „Vertrauen, dieses schwerste ABC“ (Hilde Domin, a.a.O., S. 388).

So wie wir uns täglich neu mit unseren Ängsten auseinandersetzen müssen, so müssen wir auch täglich neu „Vertrauen, dieses schwerste ABC“ üben.

Aus Fremdsein, Unkenntnis und Vorurteilen gespeiste Ängste lassen sich nicht ein für alle Mal überwinden. Sie prägen und begleiten uns und unsere Mitmenschen – in unserem ‚kleinen‘ privaten Leben wie auch in den ‚großen‘ gesellschaftlichen, kirchlich-religiösen und weltpolitischen Bezügen.

Wenn ich aber Vertrauen über die Grenzen meiner kulturellen und religiösen Beheimatung hinaus wage, dann kann ich die Erfahrung machen:

‚Vertrauen isst Ängste auf‘.

Vertrauen ermutigt mich, Brücken zum Anderen und auch zum Fremden zu bauen. Damit Ängste schwinden und Freude am Brückenbauen Raum greift!

V.    Schlussbemerkung:

„Vermehrt die Angst nicht“ – Hilde Domins zeitloser Ratschlag nicht nur für Abiturienten!

Im Januar 1982 formulierte Hilde Domin auf eine Anfrage der Freiherr-vom Stein-Schule in Leverkusen folgenden „Ratschlag für Abiturienten“:

„Vermehrt den Hass nicht. Vermehrt die Angst nicht.

Geht auf Distanz zu Euch selbst, zu Eurer Angst.

‚Sich selber einmal auf den Kopf sehen können‘, wünschte Büchner.

‚Sich selbst relativieren‘, verlangte mein Lehrer Karl Mannheim.

In dieser Distanz ist die Möglichkeit zur Freiheit. …

Gebt dem andern eine Chance: Er hat so viel Angst vor Euch wie Ihr vor ihm. …

Etikettiert ihn nicht. Vertrauen ist das Schlüsselwort. ‚Vertrauen, dieses schwerste ABC‘. Buchstabiert es täglich neu. Ohne Wehleidigkeit.

Nicht ‚Verweigerung‘. 

Verzicht ist das Gebot dieser historischen Stunde. Verzicht auf den eigenen Vorteil. Verzicht darauf, immer und überall ‚in‘ sein zu müssen. Verzicht macht frei. 

Verzicht auch auf die Benutzung der Sprachklischees, die die Wirklichkeit verdecken. Distanz, Hinsehen, Genau-Hinsehen. Selber Benennen.

Ich plädiere hier für eine bescheidene, ungeschützte Art von Emanzipation: ohne Rückzugslinien. Als einziges Credo die menschliche Solidarität. Niemanden im Stich lassen, der Euch vertraut.

Ich plädiere für das Unbequeme, das außerhalb der Schlagworte praktiziert wird: ohne Öffentlichkeit und ohne Lohn. Das Wunder, das konkrete, kleine Wunder, wartet immer um die nächste Ecke für den, der es wahrnehmen mag.“

(Hilde Domin, Gesammelte Essays, Fischer Verlag 1993, S. 254f)

Hilde Domin gab diesen hellsichtigen Ratschlag, bevor rechtspopulistische Parteien in Europa und demagogische Regierungschefs in den USA und in der Türkei mit ihren vereinfachenden Sprachklischees ‚die Wirklichkeit verdeckten‘. Bevor rechtspopulistische Parteien und demagogische Regierungschefs die aus Fremdsein, Unkenntnis und Vorurteilen gespeisten Ängste von Bürgerinnen und Bürgern für ihre politischen Ziele verzweckten. Bevor sie Brücken einrissen und Mauern bauten.

Hilde Domins Ratschlag möge unser aller Denken, Reden, Entscheiden und Handeln inspirieren. Und uns gleich hier ‚um die nächste Ecke‘ das ‚konkrete, kleine Wunder‘ unserer christlich-jüdischen Gemeinschaft wahrnehmen lassen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

Editorische Anmerkungen

Quelle: Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Augsburg und Schwaben e.V.: http://www.gcjz-augsburg.de.