Als Christ das 'Alte' Testament lesen

Drei Vorträge Kirchentag Leipzig 1997, Lehrhaus Judentum für Christen.

Rolf Rendtorff

Als Christ das „Alte“ Testament lesen

Drei Vorträge

Kirchentag Leipzig 1997, Lehrhaus Judentum für Christen

I. Der Verlust der jüdischen "Schrift"

In der Formulierung des Themas steht das Wort "Alt" in Anführungsstrichen. Damit wird ein Grundproblem des christlichen Verhältnisses zum ersten Teil unserer Bibel signalisiert. Der Begriff "Altes" Testament schließt ein, daß es auch ein "Neues" Testament gibt. Das Alte Testament wird nur dadurch zum "alten", daß es vom "Neuen" Testament unterschieden wird. Es wird aber nicht nur von ihm unterschieden, sondern es wird dadurch zugleich zu ihm in Beziehung gesetzt. Das ist der erste Aspekt des Problems, das mit der Formulierung des Themas bezeichnet wird: Das Alte Testament wird vom Neuen Testament unterschieden - und zugleich zu ihm in Beziehung gesetzt.

Wer unterscheidet und setzt in Beziehung? Die Christen. Damit taucht sofort der nächste Aspekt des Problems auf: Das Alte Testament war ja nicht schon immer das "alte". Es existierte ohne die Beziehung auf ein "neues", bevor diese Beziehung entstand und überhaupt entstehen konnte. Das Alte Testament war schon die "Bibel", bevor es das "Alte" Testament wurde. Es war und ist bis heute die Bibel der Juden. Die Formulierung des Themas enthält also zugleich einen wesentlichen Aspekt des Verhältnisses von Juden und Christen. Juden lesen die "Bibel" - ihre Bibel, Christen lesen das "Alte" Testament, das für sie erst gemeinsam mit dem "Neuen" Testament zur "Bibel" wird. Das Alte Testament ist also beiden Glaubensgemeinschaften gemeinsam, aber in einer sehr grundlegenden Unterschiedlichkeit.

I

Lassen Sie mich diesen Aspekt näher entfalten. Das jüdische Volk schuf sich in einem jahrhundertelangen Prozeß seine Bibel. Dies ist ein höchst spannendes, ja geradezu dramatisches Kapitel der Menschheitsgeschichte. Wir können es nicht in allen Einzelheiten nachzeichnen, aber wir können deutlich erkennen, daß die jüdische Bibel eine Vielzahl von Texten enthält, die zum Teil sehr unterschiedlicher Art und Herkunft sind, die aber mehr und mehr zusammenwuchsen und schließlich die eine Heilige Schrift bildeten. Sie ist zugleich Zeugnis von der Geschichte des jüdischen Volkes und wurde zur Grundlage seiner weiteren Existenz. Diese Bibel ist in sich abgeschlossen als "Heilige Schrift". (Über ihre weitere Auslegung im Judentum werden wir später noch sprechen.) Jetzt geht es darum zu sagen, daß diese Sammlung von Texten ihre eigene Dignität hat.

Diese Sonderstellung als Heilige Schrift hatte die Hebräische (oder auch griechische) Bibel von Anfang an auch für die christliche Gemeinde. Sie hieß in ihrem Sprachgebrauch einfach "die Schrift" - ein Wort, das viele Male im Neuen Testament vorkommt. In den Anfängen der christlichen Gemeinde hatte diese also auch "nur" diese eine Heilige Schrift, diese Bibel. Was wir heute das "Alte Testament" nennen, war "die Bibel" der frühen christlichen Gemeinde. Hier zeigt sich wieder, wie die beiden Themenbereiche miteinander zusammenhängen: das Verhältnis der beiden Teile der christlichen Bibel zueinander und das Verhältnis von Juden und Christen. Wir können jetzt zunächst ganz einfach sagen: Weil die ersten Christen Juden waren, war die jüdische Heilige Schrift ganz selbstverständlich ihre Bibel. Dies kommt ganz eindeutig in der Weise zum Ausdruck, in der im Neuen Testament von der "Schrift" gesprochen wird.

Damit haben wir aber einen Punkt erreicht, an dem keineswegs Einmütigkeit unter den Christen, insbesondere unter den Theologen besteht. Wenn ich gesagt habe: "die ersten Christen waren Juden", dann erhebt sich hier schon vielfältiger Widerspruch. Dabei zeigt sich erneut, daß die Frage des Verhältnisses von Juden und Christen und die Frage der Bedeutung der "Schrift" eng miteinander zusammenhängen. Waren die ersten Christen wirklich noch Juden - und lasen sie die Schrift ebenso wie die Juden? Wenn wir versuchen, diese Doppelfrage zu beantworten, dann zeigt sich sehr bald, daß sie an grundsätzliche Probleme des christlichen Selbstverständnisses rührt. Es gibt heute eine wachsende Zahl von Christen - und ich denke, daß auch etliche von ihnen hier sind -, die die Frage nach der Jüdischkeit der frühen christlichen Gemeinde ganz positiv beantworten. Aber das setzt im Ansatz eine Neubestimmung des Verhältnisses von Christen und Juden voraus, die eine Abkehr von traditionellen Vorurteilen einschließt. Das traditionelle christliche Selbstverständnis geht ja gerade von dem Unterschied, ja dem Gegensatz zwischen Christen und Juden aus. Ich brauche das hier gewiß nicht im einzelnen zu entfalten, denn Sie alle kennen die traditionellen Argumente.

In unserem Zusammenhang bedeutet das, daß die Antwort auf die Frage, wie die Christen die "Schrift" gelesen haben, ein gutes Stück weit von der Vorentscheidung über die Jüdischkeit der ersten christlichen Gemeinde mitbestimmt wird. Wenn man die Jüdischkeit der christlichen Gemeinde grundsätzlich bejaht, dann wird man hervorheben, mit welcher Selbstverständlichkeit sie mit der Schrift lebte. Das wird ja aus vielen Zitaten und Anspielungen deutlich, in denen vorausgesetzt wird, daß auch die Zuhörer und Leser mit der Schrift vertraut sind. Wenn man aber den Akzent auf den Unterschied oder gar den Gegensatz zwischen Christen und Juden legen will, kann man viele Schriftzitate so interpretieren, als wollten sie gerade diesen Unterschied betonen. Das gilt z.B. für die "Erfüllungszitate". Z.B. "Das ist alles geschehen, damit die Schriften der Propheten erfüllt würden" (Mt 26,56). In solchen Aussagen, in denen Verheißungen der Schrift im Leben und Werk Jesu als erfüllt betrachtet werden, wollen manche christliche Theologen ein Zeichen dafür sehen, daß die Christen sich damit gleichsam aus dem Judentum verabschiedet hätten, weil die Juden diese Erfüllung ja nicht sehen und ihr sogar widersprechen.

Es ist hier im Lehrhaus Judentum für Christen keineswegs meine Absicht, in kontroverstheologische Diskussionen einzutreten. Aber ich denke, daß es nötig ist, unsere Auffassung sehr deutlich gegenüber denen abzugrenzen, die nach wie vor an einem überkommenen und m.E. überholten Bild vom Verhältnis von Christen und Juden festhalten. So läßt sich leicht zeigen, daß die Auswahl und die Akzentuierung von Schriftzitaten oft von einem vorgängigen Urteil über den Gegensatz von Judentum und Christentum geleitet wird. Wenn man sich davon aber freigemacht hat, dann sieht man auf Schritt und Tritt, wie selbstverständlich die frühe christliche Gemeinde mit der "Schrift" gelebt hat und umgegangen ist.

Dies ist also das erste, was wir festhalten müssen: Das "Alte Testament" ist zuerst ein jüdisches Buch und es bleibt ein jüdisches Buch. Nur wenn wir uns als Christen zu unserem jüdischen Ursprung bekennen, können wir auch ein begründetes und sinnvolles Verhältnis zum Alten Testament finden.

Lassen Sie mich hier gleich noch eine Bemerkung zum grundsätzlichen Umgang mit dem ganzen Fragenkomplex des Verhältnisses von Christen und Juden machen. M.E. wird das Problem allzu oft auf der dogmatischen Ebene angesetzt, ohne daß dabei den historischen Gegebenheiten die nötige Aufmerksamkeit gewidmet wird. Dogmatisch gesehen ist es leicht und es scheint fast unvermeidbar, den Unterschied zwischen Christen und Juden stärker zu betonen als die Gemeinsamkeiten. Historisch gesehen ist aber die ursprüngliche Verwurzelung des Christentums im Judentum sehr viel eindeutiger sichtbar, und die Fragen stellen sich dann ganz anders, nämlich nicht im Sinne eines grundsätzlichen Entweder-Oder, sondern im Sinne eines allmählichen Herauswachsens des Christentums aus dem Judentum und der Herausbildung der damit verbundenen Unterschiede. Wenn ich sage "historisch gesehen", dann umfaßt das auch das Neue Testament. Denn das Neue Testament ist kein dogmatisches Buch, und es wird ihm oft Gewalt angetan, wenn es von der Dogmatik her interpretiert wird. Aber wir erfahren aus dem Neuen Testament viel über die Entstehung des Christentums im Judentum und aus dem Judentum heraus. Insofern ist der historische Aspekt ein grundlegender Bestandteil jeder Auslegung des Neuen Testaments. Und zugleich sind die dabei gewonnenen Erkenntnisse von höchster theologischer Bedeutung.

II

Aber dann hat sich das Christentum mehr und mehr vom Judentum unterschieden und schließlich getrennt. Das war ein schmerzhafter Prozeß, der im Neuen Testament und auch in der jüdischen Literatur jener Zeit seine deutlichen Spuren hinterlassen hat. Auch dieser Prozeß vollzieht sich auf zwei Ebenen: auf der Ebene der institutionellen und sozialen Beziehungen zwischen Juden und Christen und auf der Ebene der Schrift. Denn die Entstehung des Neuen Testaments ist ja ein sehr deutliches Zeichen für ein sich herausbildendes Selbstverständnis der christlichen Gemeinde als eigenständiger Gemeinschaft, sei es innerhalb oder außerhalb des Judentums (dazu später). Für unser Thema ist nun die Frage entscheidend, wie sich das "Neue" Testament zur "Schrift" verhielt und verhält.

Zunächst können wir wiederholen, was wir schon über den Gebrauch der "Schrift" im Neuen Testament gesagt haben. Die "Schrift" ist ständig gegenwärtig, ihr Gebrauch geschieht wie selbstverständlich und ihre Autorität ist gänzlich unbestritten. Dazu kommt aber ein sehr wichtiges zweites Argument: Das "Neue Testament" wurde niemals allein "veröffentlicht" oder "herausgegeben" (sic!), sondern immer als zweiter Teil der Sammlung heiliger Schriften. Das kommt auch schon im Titel "Neues Testament" zum Ausdruck, der ja nur sinnvoll ist als Fortsetzung des Titels "Altes Testament". So wie das "Alte" Testament erst durch das "Neue" Testament zum "alten" wird, so wird auch das "Neue" Testament nur durch das "Alte" Testament zum "neuen". Und durch diese Ausdrücke sind die beiden Teile zu einer Einheit verbunden.

Das bedeutet also, daß die christliche Bibel immer aus beiden Teilen bestand und besteht: der jüdischen "Schrift" und der Sammlung christlicher Schriften. Das Neue Testament hatte niemals einen anderen Namen als diesen, der es unlösbar mit dem Alten Testament zusammenbindet. Dies bedeutet aber, daß die heute oft gestellte Frage: "Brauchen wir das Alte Testament?" in sich sinnlos ist. Die Frage ist nicht, ob wir es brauchen, denn wir haben es als unveräußerlichen Bestandteil unserer Bibel. Es gibt kein Christentum ohne Bibel, und es gibt keine Bibel ohne Altes Testament.

III

Aber wie wurde nun das Alte Testament der christlichen Bibel ausgelegt? Ich will das jetzt nicht im einzelnen historisch darstellen, sondern will verschiedene Typen der Auslegung unterscheiden, die sich seit der frühen Kirchengeschichte herausgebildet haben und in ihren Grundzügen bis heute wirksam sind. Ein weit verbreitetes Verständnis des Alten Testaments ging und geht davon aus, daß dieser Teil der Bibel insgesamt christlich gelesen und gedeutet werden kann und muß. Das Alte Testament wird dabei sozusagen "naiv" als Vorläufer des Neuen Testaments gelesen. Insbesondere werden bestimmte Verheißungen oder "Weissagungen" des Alten Testaments auf Christus bezogen, und es werden auch in vielen Texten, die ursprünglich keine Verheißungselemente enthalten, solche gelesen und hineininterpretiert. Dabei wird in aller Regel gar nicht an die Juden gedacht, weder positiv noch negativ. Das Alte Testament ist einfach ein christliches Buch. (Auf die problematische Seite dieser Sicht komme ich noch zurück.)

Ich will das an einigen Beispielen deutlich machen. Ich kann mich dabei kurz fassen, weil Ihnen das meiste geläufig ist. Die christliche Advents- und Weihnachtstradition lebt von dieser Auslegung alttestamentlicher Texte. Das sind natürlich zunächst die sogenannten "messianischen" Texte. Dabei werden viele Texte, die vom Kommen eines Königs reden, wie selbstverständlich auf Christus bezogen. So Jes 9,1.5f:

Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht...

Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns gegeben...

Oder Jes 11,1ff:

Es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais

und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen.

Auf ihm wird ruhen der Geist des Herrn...

oder Mi 5,1:

Und du, Betlehem Efrata, die du klein bist unter den Städten in Juda,

aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei..

Dieser Text wird ja auch schon im Neuen Testament in der Erzählung von den Weisen aus dem Morgenland zitiert als Hinweis auf Betlehem als die Geburtsstadt des "neugeborenen Königs der Juden" (Mt 2).

Es sind gar nicht allzu viele Texte, die hier in Betracht kommen, und zudem ist ihr "messianischer" Charakter keineswegs eindeutig. Aber sie haben eine sehr große Bedeutung für das christliche Verständnis der biblischen Ankündigung des Kommens des Christus.

Ein Text soll noch genannt werden, weil er einer der wenigen ist, die schon ursprünglich einen "messianischen" Sinn haben - im eschatologischen Sinne des Wortes: Sach 9,9:

Du, Tochter Zion, freue dich sehr,

und du, Tochter Jerusalem, jauchze!

Siehe, dein König kommt zu dir,

ein Gerechter und ein Helfer,

arm und reitet auf einem Esel,

auf einem Füllen der Eselin. (Textfragen lasse ich jetzt auf sich beruhen!)

Dieser Text wird ja schon im Neuen Testament beim Einzug Jesu in Jerusalem ausdrücklich zitiert mit der Einführungsformel: "Das geschah, damit sich erfüllte, was durch den Propheten gesagt ist" (Mt 21,5).

Daneben sind dann auch vielfältig andere Texte "christologisch" ausgelegt worden, die solche Elemente ursprünglich nicht enthielten. Ich nenne zwei besonders charakteristische.

Gen 3,15: Ich will Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weibe,

zwischen deinem Samen und ihrem Samen.

der soll dir den Kopf zertreten

und du wirst ihn in die Ferse stechen.

Hier ist von der uralten und unheilbaren Feindschaft zwischen Mensch und Schlange die Rede. Schon die altkirchliche Auslegung hat den Text so interpretiert, daß der "Same" Evas, also der "Menschensohn", der Schlange, also dem Satan, den Kopf zertritt. Man hat den Vers das "Urevangelium" genannt. Das hat sich dann ja auch in Gesangbuchliedern niedergeschlagen, z.B. in Paul Gerhardts "Kommt und laßt uns Christum ehren" (V.5):

Jakobs Stern ist aufgegangen,

stillt das sehnliche Verlangen

bricht den Kopf der alten Schlangen

und zerstört der Höllen Reich.

Das zweite Beispiel: Hiob 19,25:

Ich weiß, daß mein Erlöser lebt...

Ein komplizierter Text, der im Hebräischen nur teilweise verständlich ist. Er ist aber schon durch die Vulgata, und dann durch Luther, uminterpretiert worden zu einem christologisch-messianischen Text, der zudem von der Auferstehung des Fleisches redet. Dies hat sich u.a. in dem (anonymen) Lied "Jesus, meine Zuversicht" niedergeschlagen, das geradezu eine Auslegung dieses Hiobtextes ist.

Ich könnte fortfahren mit den Texten vom "Gottesknecht", insbesondere vom leidenden Knecht in Jes 53. Auch dies ist wieder ein schwieriger und nicht voll verständlicher Text, der in der christlichen Auslegung ganz neue Dimensionen angenommen hat.

All dies, was ich hier nur andeuten konnte, stellt einen breiten Strom christlichen Lesens und Auslegens des "Alten Testaments" dar. Wir werden später noch genauer darüber sprechen müssen, ob und in welcher Weise durch die Änderung unseres Verhältnisses zum Judentum auch das Lesen dieser Texte beeinflußt und verändert wird.

IV

Ich habe vorhin gesagt, daß diese Auslegung sozusagen "naiv" geschehen könnte. Ich wollte damit andeuten, daß sich darin eine mehr oder weniger selbstverständliche, weitgehend unreflektierte Inanspruchnahme des Alten Testaments als Bestandteil der christlichen Bibel vollzieht. Dabei gibt es aber ein Problem: Die Juden kommen nicht vor. Die Bibel spricht in dieser Sicht von Anfang an und als ganze nur zu den Christen.

Das ist aber nicht nur naiv, sondern gefährlich, wie die Geschichte des christlichen Verhältnisses zu den Juden zeigt. In dem berühmten Beschluß der Rheinischen Synode von 1980 "Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden" (auf den ich noch genauer zurückkommen werde) ist die Rede von der "Verurteilung des jüdischen Volkes zur Nichtexistenz" (Ziffer 7). Das ist eine sehr treffende Formulierung. Die Christen haben so getan, als ob die Juden nicht mehr existieren; dabei läßt der Begriff "Verurteilung" anklingen, welche Folgen das haben konnte und immer wieder gehabt hat. In der christlichen Theologie dominiert diese Haltung bis heute. Judentum ist ein Thema der Vergangenheit, im wesentlichen der Antike. Danach tauchen die Juden höchstens hie und da am Rande der Kirchengeschichte auf, vor allem dann, wenn sie ausgegrenzt, verfolgt oder umgebracht werden. Als selbständiges Subjekt und als Träger der biblischen Religion kommen sie auch heute in der christlichen Theologie kaum vor.

Wenn man ihrer aber ansichtig wird, dann stellen die "naiven" Christen die Frage, warum die Juden diese eindeutigen Hinweise auf den Christus in ihrer eigenen Bibel nicht sehen. Wollen sie nicht oder können sie nicht? Sind sie verstockt oder blind? Die Geschichte der christlichen Kunst zeigt ja sehr anschaulich und vielfältig, wie sich diese "naive" Haltung ausdrücken konnte, z.B. im Gegenüber von "Kirche" und "Synagoge", etwa am Straßburger Münster. Diese Einstellung gegenüber den Juden verlor aber völlig jede Naivität, wenn sie in aggressive Polemik gegen das Judentum umschlug. Ein besonderes eindrückliches Beispiel dafür sind die mittelalterlichen Religionsdisputationen. In ihnen wurden jüdische Gelehrte gezwungen, öffentlich mit christlichen Theologen zu diskutieren, die ihnen nachzuweisen versuchten, daß die jüdische Auslegung der Bibel falsch sei und auf Irrtümern beruhe. Diese Disputationen auf höchster Ebene, in Anwesenheit von Königen und Päpsten, hatten vor allem politische Gründe und auch entsprechende Folgen. Das Verbot und die Verbrennung des Talmud und schließlich auch die Zwangsbekehrung und Vertreibung der Juden in Spanien 1492 standen im Kontext solcher Disputationen.

Bei diesen Disputationen ging es übrigens genau um die Fragen und Texte, von denen wir schon gesprochen haben. Im Mittelpunkt stand natürlich immer die Frage, ob der Messias schon gekommen sei, und d.h., ob Jesus der Messias sei oder nicht. Hier zeigt sich einerseits eine Reduzierung der Bedeutung des Alten Testaments auf bestimmte Fragen, die die Christen interessieren. Andererseits wird die politische Dimension dieser Fragen deutlich, weil die Nichtanerkennung der christlichen Auslegung des Alten Testaments als Infragestellung der Wahrheit des Christentums angesehen und deshalb als Bedrohung des Christentums betrachtet wird.

Dieser Gesichtspunkt erscheint mir als besonders wichtig. Die scheinbare Überlegenheit des Christentums erweist sich hier im Grunde genommen als Schwäche und Unsicherheit. Wenn die christliche Auslegung des Alten Testaments "wahr" ist, dann muß sie auch von allen als wahr anerkannt werden. Sonst könnten ja Zweifel daran bestehen, ob sie wirklich wahr ist. In einer Zeit, in der die Kirche in engster Verflechtung mit der politischen Macht stand, mußte darin aber zugleich eine Gefährdung der Machtstellung der Kirche gesehen werden.

V

Es ist merkwürdig genug, daß sich diese Einstellung bis heute durchgehalten hat, obwohl sich die Machtfrage in dieser Form nicht mehr stellt. Man kann bis heute dieses merkwürdige Schwanken zwischen völliger Ignorierung der Juden und aggressiver Bekämpfung des jüdischen Verständnisses des Alten Testaments feststellen. Ich will das an einigen Beispielen erläutern.

Ich erwähne nur kurz einige charakteristische Positionen in der liberalen Theologie des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts. Schleiermacher hat gesagt, daß es sinnvoller sei, das Alte Testament als Anhang dem Neuen beizugeben, weil doch alles theologisch Relevante im Neuen Testament stünde und das Alte nur "das allgemeinste Hilfsbuch zum Verständnis des Neuen Testaments" sein könne, um nämlich den "geistigen und bürgerlichen Zustand" kennenzulernen, innerhalb dessen das Neue Testament entstanden ist. Dabei stand im Hintergrund die große Sorge Schleiermachers, daß durch Übertritte einer größeren Zahl von Juden zur christlichen Kirche "eine Menge jüdischer Vorurtheile und Aberglauben" in die Kirche hineinkommen könnte. Hier zeigt sich also eine Verbindung zwischen der Abwertung des Alten Testaments und dem Mißtrauen gegenüber dem Judentum.

In diesem Jahrhundert war es dann Adolf von Harnack, der die Kirche dazu aufrief, das Erbe Marcions anzutreten:

Das Alte Testament im 2.Jahrhundert zu verwerfen, war ein Fehler, den die große Kirche mit Recht abgelehnt hat; es im 16.Jahrhundert beizubehalten, war ein Schicksal, dem sich die Reformation noch nicht zu entziehen vermochte; es aber im 19.Jahrhundert als kanonische Urkunde im Protestantismus noch zu konservieren, ist die Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung.

Es ist nicht unwichtig, sich klarzumachen, daß die radikalen Thesen der Deutschen Christen im Jahr 1933 nicht im luftleeren Raum standen, wenn sie forderten, daß die Kirche sich freimachen solle "vom Alten Testament und seiner jüdischen Lohnmoral". (Ich will damit selbstverständlich Harnack nicht in die Nähe der Deutschen Christen rücken.)

Im ganzen herrschte in der christlichen Theologie in Deutschland eine Stimmung, die dem Alten Testament eher skeptisch gegenüberstand und alles andere als judenfreundlich war. Es gab aber in dieser Zeit einen interessanten Versuch, das Alte Testament für die Kirche zu retten. Ich meine Wilhelm Vischers Buch "Das Christuszeugnis des Alten Testaments", dessen erster Band 1934 erschien. Hier zeigt sich eine neue Variante der alleinigen Beanspruchung des Alten Testaments für die christliche Kirche. Vischer knüpft zunächst ausdrücklich an die frühchristliche Aneignung des Alten Testaments an und führt sie noch ein ganzes Stück weiter. Dazu einige Beispiele:

Am ersten Schöpfungstag heißt es in Gen 1,4: "Es werde Licht!" Dazu Vischer:

"Das Licht, das Gott hier aufleuchten läßt, ist...der Inbegriff des Wunders, wodurch Gott sein unsichtbares Wesen zu schauen gibt. Es ist - ja wir können hier diese Aussage schon nicht mehr vermeiden, wenn wir den Text richtig auslegen und gegen jede Art spekulativer Umdeutung sichern wollen - dieses Licht ist "die Klarheit Gottes im Angesicht Jesu Christi" (2.Kor 4,6). Himmel und Erde sind der Schauplatz dieser Klarheit, "des Glanzes seiner Herrlichkeit" (Hebr. 1,3).

Und später: 

"Denn alles, was in diesem Kapitel steht, ist Christusverkündigung."

Für den Fluch über die Schlange in Gen 3,15 greift Vischer den Begriff "Urevangelium" auf. Dazu bringt er noch ein interessantes Luther-Zitat. Adam ist im Glauben an diese Worte "geblieben und gestorben...

Die Väter haben alle darauf gewartet und geglaubt und immer davon gepredigt, daß eine Frucht kommen würde und der Schlangen Kopf zertreten...Da stehet, daß Adam ein Christen ist gewesen schon so lang vor Christus Geburt. Denn er eben den Glauben an Christum gehabt hat, den wir haben.

Zweifellos eine sehr kühne Exegese, über die wir vielleicht nachher noch sprechen können. Dann zum Kainszeichen in Gen 4:

Kain ist durch dieses Zeichen als Jahwes Eigentum gestempelt....es ist ein Bundeszeichen, und zwar das erste Bundeszeichen der Bibel.

Auch in Ez 9 ist von einem Schutzzeichen die Rede, das in der Vision vom Schreiberengel all denen an die Stirn geschrieben wird, die von der bevorstehenden Vernichtung ausgenommen werden sollen. Dort ist das Zeichen als bezeichnet, also als der letzte Buchstabe des Alphabets. Nun wird in der althebräischen Schrift das taw wie ein liegendes Kreuz geschrieben, was in der christlichen Auslegungstradition mit dem christlichen Kreuzeszeichen in Zusammenhang gebracht wird.

Das christliche Amulettzeichen des Kreuzes hat demnach wahrscheinlich nicht im Kreuze Christi seinen Ursprung, sondern im kainitischen Jahwezeichen, so gewiß es durch die Kreuzigung Christi mit neuem Sinn erfüllt oder, richtiger gesagt, in seinem tiefsten Sinn erneuert wurde. Das Zeichen symbolisiert beide Male dasselbe heilige Paradoxon: daß der als Mörder dem Gericht Verfallene als solcher auch der von Gottes Gnade Gehaltene ist...

Diese im zugespitzten, ja geradezu extremen Sinne christologische Exegese steht nun aber bei Vischer in einem Zusammenhang, in dem er auch die Aneignung des Alten Testaments durch die Christen in äußerster Schärfe betont:

Folgerichtig hat die alte Kirche die ganze heilige Schrift Israels übernommen, indem sie sagte: wir, die wir glauben, Jesus sei der Sohn Gottes, wir, die wir seiner Zusage glauben, daß wir seine Brüder seien, wir und nicht die Synagoge, die seinen Messiasanspruch abgelehnt hat, sind die legitimen Erben des göttlichen Testaments. Durch diese Übernahme wollte die Kirche den Juden das Alte Testament nicht wegnehmen....Sie müssen nur das Eine anerkennen, daß Jesus, den sie verworfen haben, von Gott zum Herrn und Christus gemacht ist; diese Metanoia, dieses Umsinnen ist die einzige Bedingung, dann können auch sie und in erster Linie sie aus dem Reichtum des göttlichen Testaments schöpfen. (31f)

Wir - und nicht die Synagoge! 1934 war es nicht möglich, die Juden zu ignorieren. Vielleicht kann man sogar sagen, daß Vischer mit dieser Aneignung des Alten Testaments die Kirche vor dem Vorwurf in Schutz nehmen wollte, daß sie an dem "Judenbuch" festhielte, indem er einfach sagte: das ist gar kein Judenbuch, das ist unser Buch. Und dann lud er die Juden mit einer geradezu massiven missionarischen Geste ein, sich ihr Buch zurückzuholen unter der "einzigen" Bedingung, an Jesus als den "Christus" zu glauben - d.h. Christen zu werden. Es ist für mich immer wieder überraschend, diese Sätze zu lesen und gleichzeitig zu wissen, daß Vischer damals im Rahmen der Bekennenden Kirche fast der einzige war, zusammen mit Bonhoeffer, der sich für eine deutliche öffentliche Erklärung zur nationalsozialistischen Judenpolitik eingesetzt hat, wenn auch ohne Erfolg. (!)

Gegenüber dieser Position des "Alles oder Nichts" dominiert aber in der neueren und auch noch in der gegenwärtigen Theologie eine Position, die das Alte Testament eher selektiv für die christliche Theologie in Anspruch nimmt und dabei den Anspruch erhebt, daß nur die Christen die Maßstäbe für die theologische Relevanz und Gültigkeit alttestamentlicher Aussagen setzen. Am deutlichsten hat diese Position seit Jahrzehnten Antonius Gunneweg vertreten: "Über Geltung oder Nichtgeltung (des Alten Testaments kann) nur vom Christlichen her, also auf Grund und anhand des Neuen Testaments geurteilt werden." Oder: Das Neue Testament ist das Kriterium. "Wo immer das gläubige Daseinsverständnis des Alten Testaments sich diesem Kriterium gewachsen zeigt, kann das Alte Testament unmittelbar christlich rezipiert und entsprechend verkündigt und gelehrt werden....Diese Auswahl des Alten Testaments ergänzt die christliche Botschaft..." Also nicht das ganze Alte Testament ist theologisch relevant, sondern nur eine Auswahl, die sich den christlichen Kriterien "gewachsen zeigt". NB: Wessen Kriterien? Gunnewegs?

Es finden sich zahlreiche ähnliche Stimmen in der heutigen Literatur. Ich nenne noch die Theologie des Alten Testaments von Otto Kaiser (1.Bd. 1993), die diese Position in sehr zugespitzter Weise vertritt und dabei ausdrücklich an Emanuel Hirsch anknüpft, jenen Theologen, der in der Zeit des Nationalsozialismus seine antijüdische Sicht des Alten Testaments darlegte.

Bleibt der Theologe bei dem Wortsinn des Textes stehen, kann er das neutestamentlich-kirchliche Verständnis des Alten als Verheißung des Neuen Bundes nicht wiederholen. Aber nichts hindert ihn, Israels Scheitern am Gesetz und an der Geschichte gegen den Wortlaut der Texte und trotzdem sachgemäß insofern als Verheißung zu verstehen, als unter dem Gesetzesglauben und -dienst...eine der göttlichen Gnade sich entgegenstreckende Anbetung verborgen (liegt), die erst im Evangelium zu ihrer Wahrheit und Freiheit kommt.

Hier zeigt sich also wieder in äußerster Schärfe die Position, daß sich die wirkliche theologische Bedeutung des Alten Testaments erst vom Neuen Testament her erschließt. Dabei ist ein Verständnis des Alten Testaments vorausgesetzt, das mit dem Begriff des "Scheiterns" gekennzeichnet ist - ein Begriff, der von Rudolf Bultmann stammt.

Dies ist also das entgegengesetzte Extrem zu der "naiven" Inanspruchnahme der jüdischen "Schrift" durch die erste christliche Gemeinde. Hier darf das Alte Testament nur noch das sagen, was ihm die christlichen Theologen gestatten. So hat uns unser Gang durch die Geschichte des christlichen Umgangs mit dem "Alten" Testament ein breites Spektrum von Zugängen vor Augen geführt. In einem sind sich diese verschiedenen Positionen allerdings einig: daß die Christen die Maßstäbe setzen und daß andere Möglichkeiten des Verständnisses des Alten Testaments gar nicht diskutiert werden.

Das schließt auch ein, daß dabei nur äußerst selten von den Juden oder dem jüdischen Verständnis der Schrift die Rede ist. Die Zusammengehörigkeit dieser beiden Aspekte, des christlichen Verhältnisses zum Alten Testament und des Verhältnisses zum Judentum, wird nur sehr selten gesehen oder jedenfalls selten ausgesprochen. Vielmehr dominiert in diesen verschiedenen Spielarten die Ignorierung des Judentums, seine "Verurteilung zur Nichtexistenz".

Eine theologische Eigenständigkeit des Alten Testaments wird nur von wenigen Theologen festgehalten. Es sind einige wenige evangelische Alttestamentler, die übrigens auch alle hier auf dem Kirchentag sind. Ich möchte aber ausdrücklich sagen, daß es in den letzten Jahren einige sehr wichtige Stimmen im katholischen Bereich gibt. Unter den Alttestamentlern sind dabei besonders Norbert Lohfink und Erich Zenger zu nennen. Ich werde auf ihre Beiträge noch zurückkommen.

Dieser erste Vortrag sollte den Weg aufzeigen, auf dem wir dorthin gekommen sind, wo wir heute stehen. Er sollte zugleich den Kontext innerhalb der Theologie und Kirche bewußt machen, in dem wir versuchen, unsere theologische Arbeit zu tun. Ich wollte dabei auch bewußt machen, daß wir uns keinen Illusionen darüber hingeben dürfen, daß wir eine ganz kleine Minderheit sind, die gegen den Strom zu schwimmen versucht.

Morgen werde ich dann unsere eigenen theologischen Fragen entfalten:

- unser Selbstverständnis als aus dem Judentum hervorgegangene Gemeinschaft, die sich ihrer "Jüdischkeit" in einem bestimmten Sinne bewußt ist,

- und damit zusammenhängend unser Verständnis des Alten Testaments als der jüdischen Bibel, die zugleich der erste Teil unserer Bibel ist. Später werden wir dann auch die in jüngster Zeit viel diskutierte Frage nach der sinnvollen Benennung dieses ersten Teils unserer Bibel erörtern: Altes Testament - Erstes Testament - Die Schrift - Jüdische Bibel - Hebräische Bibel - Bibel Israels (usw.?). Diese Frage ist ja in der Formulierung des Themas schon angedeutet.

II. Die Wiedergewinnung der jüdischen "Schrift"

I

Das "Alte Testament" war die heilige Schrift des Judentums, bevor das Christentum entstand. Es ist bis heute die heilige Schrift der Juden geblieben. Die Juden sind also die ersten, die einen ganz selbstverständlichen Anspruch darauf haben, über ihren Umgang mit dieser "Schrift" zu entscheiden. Diese scheinbare Selbstverständlichkeit wird aber von der großen Mehrheit der Christen nicht anerkannt oder gar nicht erkannt.

Dies zu erkennen, setzt eine grundsätzliche Änderung des christlichen Verhältnisses zum Judentum voraus. Diese hat sich in den letzten Jahrzehnten langsam angebahnt. Allerdings vollzieht sich in dieser Frage keineswegs eine kontinuierliche Entwicklung. Vielmehr sind es immer nur einige Teilaspekte, die erkennen lassen, daß etwas in Bewegung geraten ist. Ich nenne einige besonders wichtige.

Als erstes muß man hier das Zweite Vatikanische Konzil der Römisch-Katholischen Kirche nennen. Am Ende dieses mehrjährigen Konzils und nach dramatischen Auseinandersetzungen wurde im Oktober 1965 die Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen unter dem Titel "Nostra aetate" verabschiedet. Darin handelt der vierte Abschnitt vom Verhältnis der Kirche zum jüdischen Volk:

Bei ihrer Besinnung auf das Geheimnis der Kirche gedenkt die Heilige Synode des Bandes, wodurch das Volk des Neuen Bundes mit dem Stamme Abrahams geistlich verbunden ist.

So anerkennt die Kirche Christi, daß nach dem Heilsgeheimnis Gottes die Anfänge ihres Glaubens und ihrer Erwählung sich schon bei den Patriarchen, bei Moses und den Propheten finden. Sie bekennt, daß alle Christusgläubigen als Söhne Abrahams dem Glauben nach in der Berufung dieses Patriarchen eingeschlossen sind und daß in dem Auszug des erwählten Volkes aus dem Land der Knechtschaft das Heil der Kirche geheimnisvoll vorgebildet ist. Deshalb kann die Kirche auch nicht vergessen, daß sie durch jenes Volk, mit dem Gott aus unsagbarem Erbarmen den Alten Bund geschlossen hat, die Offenbarung des Alten Testamentes empfing und genährt wird von der Wurzel des guten Ölbaums, in den die Heiden als wilde Sprößlinge eingepflanzt sind.

Diese Erklärung eröffnete, könnte man sagen, ein neues Kapitel der Kirchengeschichte. Nie zuvor war so etwas gesagt worden. Nie zuvor war von dem gesprochen worden, was die Kirche mit dem jüdischen Volk verbindet. Und nie zuvor war in dieser fast demütigen Weise die Priorität des biblischen Israel vor der Kirche anerkannt worden. Und schließlich war auch bisher niemals die primäre Zugehörigkeit des Alten Testaments zum jüdischen Volk so deutlich ausgesprochen worden. Gerade die Zusammengehörigkeit dieser beiden Aspekte ist es ja, die uns heute immer wieder beschäftigt.

Im evangelischen Bereich war es dann die Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland, die fünfzehn Jahre später, im Januar 1980, mit ihrem Beschluß "Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden" einen großen Schritt vorwärts gemacht hat. Die Themen und Formulierungen der Rheinischen Synode bilden bis heute die Grundlage unserer Arbeit, auch und gerade dort, wo wir versuchen, an bestimmten Punkten darüber hinaus zu kommen.

Eindeutiger als das Vaticanum spricht die Rheinische Synode von der "bleibenden Erwählung des jüdischen Volkes als Gottes Volk" (4.4). Die Fortsetzung dieses Satzes macht deutlich, daß sich damit zugleich die Notwendigkeit ergibt, das Verhältnis der Kirche zum jüdischen Volk neu zu bestimmen. Bis dahin war es ja die fast unbestrittene Auffassung, daß die Kirche an die Stelle des biblischen Israel getreten sei. Sie nahm damit wie selbstverständlich auch die Bezeichnung als "Volk Gottes" für sich in Anspruch und bezog alles, was in der Schrift über Israel und das Volk Gottes gesagt ist, auf sich selbst. Das ist nun nicht mehr möglich. Dies ist eine der entscheidenden Änderungen unseres theologischen Denkens, die durch den rheinischen Synodalbeschluß bewirkt worden ist: die Anerkennung der ungebrochenen Kontinuität, in der das jüdische Volk mit dem biblischen Israel steht, und die Notwendigkeit, unser Verhältnis dazu neu zu bestimmen. An dieser Frage arbeiten wir noch. Dabei versuchen wir, den Ansatz der Rheinischen Synode fortzuführen, die einen Unterschied zwischen "Volk Gottes" und "Bund" gemacht hat: "daß die Kirche durch Jesus Christus in den Bund Gottes mit seinem Volk hineingenommen ist." "Volk Gottes" ist auf jeden Fall das biblische Israel und in seiner Nachfolge das jüdische Volk. Der "Bund", den Gott mit seinem Volk geschlossen hat, wäre nach dieser Auffassung ausgeweitet worden auf diejenigen, die in der Nachfolge Israels stehen. Über die Frage, ob eine solche Ausweitung des Begriffs "Bund" möglich ist, gibt es in den letzten Jahren eine sehr intensive Diskussion.

Aber die Einzelheiten dieser Diskussion müssen uns hier heute nicht beschäftigen. Entscheidend ist die Kontinuität zwischen dem biblischen Israel und dem nachbiblischen jüdischen Volk. Und damit hängt nun auch das andere zusammen. Die Rheinische Synode sagt: "Wir bekennen uns dankbar zu den ‘Schriften’, unserem Alten Testament, als einer gemeinsamen Grundlage für Glauben und Handeln von Juden und Christen." Hier wird also der Begriff "Schrift" oder "Schriften" aufgenommen, mit dem ja im Neuen Testament die heiligen Schriften der jüdischen Gemeinschaft bezeichnet werden. Sie werden als "gemeinsame Grundlage für Glauben und Handeln von Juden und Christen" bezeichnet. Das darin liegende Problem, das ja einen wesentlichen Aspekt unseres heutigen Themas bildet, wird damit aber noch nicht angesprochen. (Wir kommen noch einmal auf die rheinische Erklärung zurück, wenn wir über den Begriff "Altes Testament" sprechen.)

II

Dies ist jetzt also unser Ausgangspunkt. Wir kommen damit auf das zurück, was wir gestern historisch nachvollzogen haben. Das Verständnis der "Schrift" als heilige Schrift des jüdischen Volkes war für die ersten Christen selbstverständlich, da sie ja selber Juden waren und noch nicht daran dachten, eine eigene Gemeinde oder gar Kirche zu gründen. Sie hatten auch keine Probleme mit der Identität von "Israel" oder "Volk Gottes", da sie ja selbstverständlich dazugehörten. Deshalb konnten sie auch alles in der Schrift Gesagte auf sich selbst beziehen.

Unsere Situation ist anders. Wir haben jetzt nach zweitausend Jahren wieder gelernt, das jüdische Volk in der Kontinuität des biblischen Gottesvolkes zu verstehen. Darum müssen wir nun neu formulieren, wie wir unsere eigene Identität im Verhältnis zu Israel definieren können - und was das für unser Verhältnis zum Alten Testament bedeutet.

Das letztere ist jetzt unser eigentliches Thema. Ich denke es ist deutlich, daß keine der gestern dargestellten Positionen für uns mehr nachvollziehbar ist. Wir können weder "naiv" alles in der Schrift Gesagte auf uns beziehen und in unserem Sinne weiterinterpretieren, noch können wir uns anmaßen, im einen oder anderen Sinne die Maßstäbe zu setzen für ein angemessenes Verständnis des Alten Testaments.

Bei der Suche nach dem richtigen Ansatzpunkt erscheint es mir sehr wichtig, daß wir den Blick nicht verengen auf eine bestimmte Gruppe von Texten oder einen bestimmten Aspekt. Es gibt viele Christen, besonders Theologen, die meinen, sie müßten bei der Auslegung alttestamentlicher Texte immer einen "christologischen" Aspekt suchen oder hineinbringen. Ich halte das für eine Engführung, die in keiner Weise der Bedeutung des Alten Testaments für den christlichen Glauben entspricht.

Wenn wir das erste Kapitel der Genesis lesen, dann erfahren wir dort grundlegende Dinge über Gott als den Schöpfer der Welt, über die Welt selbst in ihren schöpfungsmäßigen Strukturen und über den Menschen, seine Stellung gegenüber Gott, seine schöpfungsmäßige Zweigeschlechtlichkeit und seine Stellung in der Welt. Dies sind grundlegende Elemente unseres christlichen Glaubens, und es sind Elemente, die sich in nichts vom jüdischen Glauben unterscheiden. Dies ist eine erste grundlegende Einsicht: daß wichtige Teile des Alten Testaments von grundlegender Bedeutung für das Leben des Menschen in der von Gott geschaffenen Schöpfung sind.

Von hier aus können wir Linien durch das ganze Alte Testament ziehen:

Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen...

Wenn ich sehe den Himmel, deiner Finger Werk,

den Mond und die Sterne, die du bereitet hast:

was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst,

und des Menschen Kind, daß du dich seiner annimmst? (Ps 8)

Oder den großartigen Psalm 104, der in dem Ausruf gipfelt:

Herr, wie sind deine Werke so groß und viel!

Du hast sie alle weise geordnet,

und die Erde ist voll deiner Güter.

Wenn wir den ganzen großen Bereich der Aussagen über Gottes Schöpfung und Gottes Wirken in der Schöpfung durchschreiten, dann wird sehr schnell deutlich, daß dies nicht nur Texte für Sonnentage sind.

Warum sprichst du denn, Jakob, und du Israel sagst:

"Mein Weg ist dem Herrn verborgen,

und mein Recht geht vor meinem Gott vorüber"?

Weißt du nicht? Hast du nicht gehört?

Der Herr, der ewige Gott,

der die Enden der Erde geschaffen hat,

wird nicht müde noch matt,

sein Verstand ist unausforschlich.

Er gibt dem Müden Kraft

und Stärke genug dem Unvermögenden.

Männer werden müde und matt,

und Jünglinge straucheln und fallen;

aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft,

daß sie auffahren mit Flügeln wie Adler,

daß sie laufen und nicht matt werden,

daß sie wandeln und nicht müde werden. (Jes 40,27-31)

Dieser Text aus dem Buch Jesaja zeigt, daß die Erinnerung an Gottes Schöpfermacht auch in kritischen und angstvollen Situationen Trost und Hilfe bedeuten kann. Denn das entspricht dem biblischen Gottesbild, daß Gott nicht nur der Schöpfer ist, der fern von der realen menschlichen Welt residiert, sondern daß seine Schöpfermacht unmittelbar hineingreift in das irdische, menschliche Leben.

Dazu noch ein Text. Das Buch Hiob enthält die tiefsten Klagen über menschliches Leiden, Klagen, die mit Anklagen gegen Gott und mit Zweifeln an seiner Gerechtigkeit verbunden sind. Und was ist Gottes Antwort? Er antwortet aus dem Wettersturm, und er fragt Hiob:

Wo warst du, als ich die Erde gründete?

Und dann ruft er ihm die ganze Fülle seiner Schöpfungstaten ins Gedächtnis - und Hiob gibt sich geschlagen. Er versteht, daß sein Gottesbild zu klein und zu eng ist, und daß er Gott aus einer falschen Perspektive betrachtet und darum angeklagt hat.

Gewiß, das Buch Hiob gehört zu den am schwersten auszulegenden und zu deutenden. Aber die Grundelemente, die ich eben angedeutet habe, sind ja ganz eindeutig. Und dabei spielt es überhaupt keine Rolle, ob wir dieses Buch als Juden oder als Christen lesen. Denn Hiob selbst war ja kein Israelit. Er kam aus dem Lande Uz, das irgendwo "im Osten" liegt. Hiob ist sozusagen der exemplarische Mensch mit seinen Lebensschicksalen und seinem Leiden, und schließlich mit seiner Einsicht in die Wirklichkeit Gottes - mit seinem Glauben, könnten wir ganz einfach sagen.

III

Kehren wir noch einmal an den Anfang der Bibel in die ersten Kapitel des Buches Genesis zurück. Schon die bisher zitierten Texte haben gezeigt, daß der Blick in die Schöpfung und auf Gott den Schöpfer alles andere als eine idyllische, schönfärberische Betrachtung der Welt darstellt. Dies wird aber vollends deutlich, wenn wir lesen, was die Bibel unmittelbar nach der Schöpfung berichtet. Im dritten Kapitel der Genesis endet der Aufenthalt des ersten Menschenpaares im Garten der Schöpfung ganz jäh, weil die Menschen vor der Aufgabe versagt haben, ein Gebot Gottes einzuhalten. Dies ist eine der großartigen Erzählungen der Bibel, die in ihrer scheinbaren Einfachheit tiefe Zusammenhänge enthält, die sie teils verbirgt, teils offenlegt. Hier ist ganz deutlich, daß es gar nicht darum geht, eine Geschichte zu erzählen, sondern daß dieser Text von der realen Welt der Menschen auf die Schöpfung zurückblickt, auf die Anfänge, wie sie hätten sein können und sollen, und daß seine Botschaft ist, daß die Menschen nicht in einer ungestörten, ungetrübten Schöpfung leben, sondern in einer Welt voller Spannungen und Störungen, voller Leiden und mit dem Tod vor Augen, in dem der Mensch wieder zu dem Staub zurückkehrt, von dem er genommen ist.

Und dann steigert sich die Sünde auf der Erde, bis es Gott schließlich reut, daß er die Menschen geschaffen hat, und er beschließt, die ganze Schöpfung wieder zu vernichten. Aber er führt es nicht aus, und er schließt sogar einen Bund mit Noah, dem einen, der durch Gottes Gnade gerettet wurde, und durch ihn mit der ganzen Schöpfung und sagt ihr zu, daß er sie nicht noch einmal zerstören will. Wieder ist dies aus dem Rückblick aus der jetzigen realen Menschenwelt heraus geschrieben. Die Botschaft lautet: Trotz der fortdauernden Sünde der Menschen existiert die Welt weiter durch Gottes Gnade. Eine großartige Sicht der Welt, die die ganze Menschheit betrifft und umfaßt, Juden und Heiden - und Christen. Daß diese Sicht nichts mit der Sonderstellung Israels zu tun hat, sagt die Bibel ausdrücklich, oder genauer: sie sagt ausdrücklich nichts, was überhaupt auf Israel hinweisen könnte. Israel existiert noch nicht, höchstens in ersten Spuren in den Genealogien (vgl. Gen 11,10ff).

Diese ersten großen Menschheitsdramen prägen das Weltbild der Leser dieser Schriften, ob Juden oder Christen. Hier gibt es auch kein sinnvolles Einbringen christologischer Aspekte oder Interpretationen. Nirgends ist gesagt, daß Christus uns in den Garten Eden zurückbringen oder die Sintflut rückgängig machen wird.

Aber, könnte nun ein Einwurf lauten: Die Botschaft des Neuen Testaments ist doch - im Unterschied vom Alten Testament - die der Gnade Gottes. Lassen Sie uns gemeinsam überlegen, welche Bibeltexte denn die Gnade und Vergebung Gottes am eindrücklichsten formulieren. Ich denke, daß ganz obenan dieser Text stehen wird:

Lobe den Herrn, meine Seele,

und was in mir ist, seinen heiligen Namen!

Lobe den Herrn, meine Seele,

und vergiß nicht, was er dir Gutes getan hat,

der dir alle deine Sünden vergibt,

und heilet alle deine Gebrechen;

der dein Leben vom Verderben erlöst,

der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit...

Barmherzig und gnädig ist der Herr,

geduldig und von großer Güte...

Er handelt nicht mit uns nach unsern Sünden

und vergilt uns nicht nach unsrer Missetat.

Denn so hoch der Himmel über der Erde ist,

läßt er seine Gnade walten über denen, die ihn fürchten.

So fern der Morgen ist vom Abend,

läßt er unsre Übertretungen von uns sein.

Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt,

so erbarmt sich der Herr über die, die ihn fürchten. (Ps 103).

Dies ist ja nicht der einzige Text im Alten Testament, der diese Botschaft von der unermeßlichen Gnade Gottes verkündigt. Ich füge nur noch einen hinzu:

Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen,

aber meine Gnade soll nicht von dir weichen,

und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen,

spricht der Herr, dein Erbarmer. (Jes 54,10)

Diese Botschaft von der Gnade Gottes finden wir also in sehr volltönender Weise im Alten Testament. Wir als Christen verwenden diese Texte oft in unseren Gottesdiensten, nicht zuletzt deshalb, weil es keine wirklichen Alternativen dazu im Neuen Testament gibt. Die meisten Christen denken beim Gebrauch solcher Texte im Gottesdienst oder anderswo nicht darüber nach, daß diese Texte aus dem Alten Testament stammen, oder sie gebrauchen sie ganz unbewußt in der von mir beschriebenen "naiven" Weise, indem sie das Alte Testament einfach als Teil der christlichen Bibel verstehen.

Ich möchte nicht mißverstanden werden. Die unbefangene, "naive" Verwendung alttestamentlicher Texte als Bestandteil des christlichen Glaubens und Lebens ist völlig legitim und notwendig. Aber wir müssen uns bewußt sein, warum wir so reden können: Weil es in der Schrift steht, der Bibel Israels, die zugleich der erste Teil unserer Bibel ist.

Christen neigen gelegentlich dazu, alttestamentliche Aussagen als spezifisch christliche darzustellen. Ein besonders anschauliches Beispiel dafür ist das Gebot der Nächstenliebe, das ja oft als etwas für das Christentum besonders Charakteristisches bezeichnet wird. Die Evangelien stellen aber sehr klar heraus, daß dieses Gebot von Jesus oder seinen Gesprächspartnern aus der Schrift zitiert wird. Bei Matthäus nennt Jesus selbst auf die Frage nach den Geboten, die der Mensch halten soll, zunächst einige Gebote des Dekalogs und fügt dann das Gebot aus dem Buch Leviticus (19,18) hinzu: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" (Mt 19,18f). Bei Markus verbindet Jesus das Gebot aus Leviticus 19 mit dem grundlegenden jüdischen Glaubensbekenntnis aus dem Buch Deuteronomium (Dtn 6,4f):

"Höre Israel, der Herr ist unser Gott, er ist der einzige Herr. (Schema Jisra’el adonaj elohenu adonaj echad) Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und mit deiner ganzen Kraft" (Mk 12,19f).

Bei Lukas werden die Rollen vertauscht. Der Schriftgelehrte, der Jesus gefragt hat: "Was muß ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?", wird von Jesus aufgefordert, die Antwort selbst aus der Schrift zu geben; und er zitiert wie Jesus es im Markusevangelium tut, indem er das Gebot der Nächstenliebe mit dem jüdischen Glaubensbekenntnis verbindet (Luk 10,25-27). Hier ist es also gar nicht Jesus selbst, sondern ein Schriftgelehrter, der dieses Gebot aus dem am meisten "jüdischen" der Fünf Bücher Mose, dem Buch Leviticus, zitiert. Wenn also eine Religion es verdient, daß man das Gebot der Nächstenliebe als ihr Charakteristikum herausstellt, dann ist es die jüdische.

Aber mit ihr ist es dann auch die christliche, zu deren Bibel die jüdische Schrift nun geworden ist. Aber eben nur mit ihr und nach ihr. Nur weil die jüdische Schrift diese Aussagen besitzt, und nur weil sie für die jüdische Religion grundlegend sind, nur darum gelten sie auch für die christliche Religion. Und dazu bedarf es keiner zusätzlichen christlichen - oder, um es noch einmal zu sagen, "christologischen" Interpretation. Im Gegenteil: Das Neue Testament selbst betont immer wieder, daß gerade die Reihenfolge von Altem und Neuem Testament, also die Vorordnung des Alten vor das Neue, grundlegend ist für das Verständnis dessen, wovon das Neue Testament redet. So beginnt das Neue Testament mit den Worten: "Das Buch der Abstammung Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams..." (Mt 1,1). Man kann also überhaupt nicht verstehen, wovon die Rede ist, wenn man nicht weiß, wer Abraham und David sind und was es mit deren Genealogien auf sich hat. Das Markusevangelium beginnt: "Anfang des Evangeliums von Jesus Christus. Wie geschrieben steht beim Propheten Jesaja..." (Mk 1,1). Ohne den Propheten Jesaja erschließt sich dieses Evangelium nicht. Lukas stellt in den ersten beiden Kapiteln seines Evangeliums in großer Ausführlichkeit den alttestamentlich-jüdischen Zusammenhang dar, von dem allein her die Ereignisse zu verstehen sind. Der Lobgesang der Maria in Lukas 1 ist ganz und gar geprägt vom Lobgesang der Hanna, der Mutter Samuels am Anfang des 1.Samuelbuches; auch dort ist es eine heilsgeschichtliche Wende, die angekündigt wird. Und schließlich beginnt die Sammlung der neutestamentlichen Briefe mit dem Hinweis, daß das Evangelium, das der Apostel Paulus verkündet, von Gott "vorher verheißen wurde durch seine Propheten in den heiligen Schriften" (Röm 1,1f).

Das ist jetzt also für uns die grundlegende Einsicht: Nur weil das, was in der Schrift steht, für das Judentum gilt, kann es auch für uns gelten. Wir stehen in der Nachfolge des Judentums. Wir haben dies alles nicht ohne das Judentum, und wir brauchen seine Geltung nicht noch einmal mit anderen, christlichen Maßstäben zu begründen. Ja, wir haben gar keine anderen, eigenen Maßstäbe. In dieser Frage können wir wieder sehr viel von Paulus lernen - gerade von Paulus, der doch so sehr seine eigenen Gedanken über den Glauben der Christen entwickelt. Aber er greift dabei immer wieder auf die Schrift zurück. "Alles nämlich, was zuvor geschrieben ist, ist zu unserer Belehrung geschrieben, damit wir durch die Geduld und durch den Trost der Schrift die Hoffnung haben" - so kann Paulus in Röm 15,4 die Bedeutung der Schrift für die jungen christlichen Gemeinden charakterisieren. Oder: Paulus begründet seine grundlegende These, daß "die Gerechtigkeit Gottes außerhalb der Tora offenbar" ist, gerade damit, daß er sagt, daß dies "durch die Tora und die Propheten bezeugt" ist (Röm 3,21). ‘Was also in mancher Hinsicht mehr ist - oder mehr zu sein scheint - als die Schrift, ist nichts ohne sie.’ Immer wieder bezieht Paulus sich auf die Schrift, vor allem auch in den berühmten Kapiteln 9 bis 11 des Römerbriefs.

IV

Wir könnten jetzt fortfahren und uns einmal vorstellen, wie unser christlicher Glaube und unsere christliche und kirchliche Praxis aussähen, wenn wir die Schrift, das Alte Testament, nicht hätten. Was wäre unser Gottesdienst ohne die Psalmen! Ich glaube, ich brauche das nicht zu entfalten; aber vielleicht wäre es eine Anregung, einmal positiv darüber nachzudenken, welche große Rolle die Psalmen im Gottesdienst spielen. Aber nicht nur die Psalmen, sondern auch zahlreiche andere Texte der Schrift. Als wir in einer Vorbereitungstagung der Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen darüber sprachen, kam der Zwischenruf: Und was wäre der Kindergottesdienst ohne das Alte Testament! Auch das gebe ich weiter an alle, die damit zu tun haben. Und wir können es dann gleich auf den Umgang mit unseren eigenen Kindern und Enkeln ausweiten. Könnten wir uns eine Einführung von Kindern in die Gedanken- und Glaubenswelt des Christentums vorstellen ohne das Alte Testament?

Hier ist allerdings auch eine kritische Bemerkung nötig: Es müßte viel mehr über alttestamentliche Texte gepredigt werden. Bei der erwähnten Tagung nannte jemand Zahlen: In den sechs Jahrgängen der Ordnung der Predigttexte gäbe es 80 alttestamentliche Texte gegenüber 300 neutestamentlichen. Hier füge ich hinzu, daß die meisten Pfarrer nicht gelernt haben, über alttestamentliche Texte zu predigen und sich womöglich davor scheuen - oder eben meinen, sie müßten die Texte "christologisch" ausdeuten. Aber ich denke, daß jeder alttestamentliche Predigttext mehr als genug Stoff für eine Predigt enthält, ohne daß man ihn neutestamentlich "überhöhen" müßte.

Aber fahren wir fort: Was wäre nicht nur der Gottesdienst und die Kinderunterweisung, sondern was wäre die christliche Theologie ohne das Alte Testament? Was wollten wir über das christliche Glaubensbekenntnis sagen, wenn wir den Ersten Artikel verschweigen müßten: "Ich glaube an Gott den Vater, den Allmächtigen, Schöpfer Himmels und der Erde." Wie sollen wir das überhaupt aussagen, geschweige denn erläutern, ohne das Alte Testament? Und nicht nur der Anfang der Genesis, sondern auch wieder die Psalmen und viele Prophetenworte leben von dem Glauben an Gott den Schöpfer in seinen vielfältigen Aspekten. Und wie sollten wir verstehen, was Jesus über Gott gesagt hat, wenn wir die Schrift nicht kennten, aus der er dabei schöpft?

Und wie sollten wir eine christliche Ethik entwerfen, wenn wir nicht mit den Zehn Geboten anfangen könnten, wie Luther es uns in seinem Katechismus gelehrt hat? Vielleicht wissen viele Christen gar nicht, daß die Zehn Gebote im Alten Testament stehen. Aber ihre Stellung im Katechismus hat auch ihre ganz besondere Bedeutung. Ich möchte dazu einmal zitieren, was Luther im Großen Katechismus als Abschluß der Behandlung der Zehn Gebote gesagt hat:

Aus dem sieht man abermal, wie hoch diese zehn gebot zu heben und preisen sind über alle Stände, Gebot und Werk, die man sonst lehret und treibt. Denn hier können wir trotzen und sagen: Laßt auftreten alle Weisen und Heiligen, ob sie könnten ein Werk hervorbringen wie diese Gebote, die Gott mit solchem Ernst fordert und befiehlt bei seinem höchsten Zorn und Strafe, dazu so herrliche Verheißungen dazu setzet, daß er uns mit allen Gütern und Segen überschütten will. Darum soll man sie vor allen anderen Lehren teuer und wert halten als den höchsten Schatz, von Gott gegeben.

"Den höchsten Schatz, von Gott gegeben!" Hier lernen wir von Luther, daß diese Gebote aus der Schrift die Grundlage unserer christlichen Ethik und unseres christlichen Lebens sind, ohne daß wir etwas "Christliches" hinzutun müßten.

Ich denke, das gilt für viele Bereiche unserer Theologie und unseres christlichen Denkens, daß sie so sehr auf alttestamentlichen Grundlagen ruhen und so durchtränkt sind von alttestamentlichem Geist, daß wir sie ohne das alles gar nicht entfalten könnten.

V

Ich habe in meinem Manuskript den Ausführungen für den ersten Tag die Überschrift gegeben: Der Verlust der jüdischen "Schrift". Den zweiten Teil habe ich überschrieben: Die Wiedergewinnung der jüdischen "Schrift". Nun gibt es natürlich noch Vieles zu sagen.

Zum einen: Natürlich enthält die Schrift nicht alles, was zu unserem christlichen Glauben gehört. Deshalb ist es eine wichtige Aufgabe, die wiedergewonnene jüdische Schrift zum zweiten Teil unserer Bibel in die richtige und angemessene Beziehung zu setzen. Dazu gehört auch die heute viel diskutierte Frage, ob diese Wiedergewinnung eine Änderung der Bezeichnung dieses ersten Teils unserer Bibel zur Folge haben müßte. Es ist ja keine Frage, daß es eine Tradition gibt, in der der Begriff "Altes Testament" einen abwertenden Sinn hatte. Das hat z.B. die Rheinische Synode in ihrem Beschluß nachdrücklich hervorgehoben. Sollten wir deshalb nach einer anderen Bezeichnung suchen? Es sind in neuerer Zeit allerlei Vorschläge gemacht worden. Ich nenne jetzt schon einmal einige dieser Vorschläge, damit wir dann morgen ausführlicher darüber sprechen können:

  • das Erste Testament
  • die Jüdische Bibel
  • die Hebräische Bibel
  • der Tanach
  • die Bibel Israels
  • die Schrift.

Jede dieser Bezeichnung hat gute Gründe für sich, und es lassen sich auch noch andere Bezeichnungen denken. Die Frage für uns ist, wie wir mit solchen Vorschlägen umgehen wollen, was für Gründe es für das eine oder das andere gibt - nicht nur für den einen oder den anderen Vorschlag, sondern natürlich auch für die Beibehaltung der Bezeichnung "Altes Testament".

Ein zweiter Fragenkreis, der uns noch beschäftigen muß, ist unser Verhältnis zum Judentum auf der Grundlage der wiedergewonnenen jüdischen Schrift. Es könnte nun nämlich leicht geschehen - und es geschieht schon manches Mal -, daß Juden sagen: Jetzt wollt ihr uns ja doch wieder unsere Bibel wegnehmen. Ist nicht diese neue Aneignung wieder der Versuch einer Enteignung? Unter diesem Gesichtspunkt soll die Überschrift für meine morgigen Überlegungen heißen: Keine neue Enteignung der jüdischen "Schrift"!

III. Keine neue Enteignung der jüdischen "Schrift"!

I

Lassen Sie uns heute mit der Frage nach der sachgemäßen Bezeichnung des Alten Testaments beginnen. Zunächst noch einmal: Warum stellen wir diese Frage? Hauptsächlich deshalb, weil der Begriff "alt" einen negativen, abwertenden Klang hat oder haben kann. "Alt" im Sinne von "überholt", "abgetan" usw. Das Wort muß diesen Klang nicht haben, und deshalb wäre es eine mögliche Antwort auf dieses Problem, daß nicht der Begriff geändert wird, sondern daß das Wort "alt" neu interpretiert wird.

Aber hier zeigt sich sofort die Komplexität des Problems. Die Frage ist ja, wem eine Neubenennung oder Neubewertung dienen soll. Es ist verhältnismäßig einfach, in der theologischen Fachsprache einen neuen Begriff einzuführen. Der wird dann zwar vielleicht nicht allgemein verwendet, aber er erscheint in der Literatur als mögliche Alternative. Es gibt ein interessantes Beispiel für einen solchen Wandel in der Fachsprache, der auch mit unserem Thema zu tun hat. Bis vor wenigen Jahrzehnten war es allgemein üblich, das Judentum der Zeit nach dem Alten Testament als "Spätjudentum" zu bezeichnen. Dieser Begriff war ursprünglich dadurch entstanden, daß man im 19.Jahrhundert die Geschichte des biblischen Israel so einteilte, daß nach dem Babylonischen Exil das "Judentum" begann. So betrachtet waren dann die nachbiblischen bzw. außerbiblischen jüdischen Texte; wie z.B. die "Apokryphen", "spät". Aber diese Bezeichnung war natürlich zugleich in höchstem Maße diskreditierend, weil sie den Anschein erweckte, als ob diese nachbiblische Phase schon das Ende des Judentums bedeutete, als ob es danach kein Judentum mehr gäbe. Aber man ist sich dann doch der Unangemessenheit dieses Begriffs bewußt geworden, und er ist jetzt fast völlig (?) aus der Literatur verschwunden. Man sagt statt dessen "Frühjudentum" oder "nachbiblisches Judentum". Aber dies war ohnehin ein Begriff, der nur von den Fachleuten benutzt wurde, so daß er sich leichter auswechseln ließ.

Wenn wir jetzt über den Begriff "Altes Testament" sprechen, dann haben wir dabei ein viel komplexeres Problem vor uns. Es geht einmal darum, was sachlich richtig oder sinnvoll ist. Es muß aber zugleich auch darum gehen, den Begriff für alle verständlich und akzeptabel zu machen, die ihn gebrauchen oder mit ihm konfrontiert werden. Deshalb lassen Sie uns noch einmal an dem grundlegenden Ausgangspunkt ansetzen. Das Buch, von dem wir sprechen, ist "die Bibel". In den üblichen Bibelausgaben erscheint auf dem Titelblatt nur dieses Wort, ohne daß Altes und Neues Testament erwähnt werden. Wir müssen also immer daran denken, daß es nur darum gehen kann, den ersten Teil der Bibel in seiner Eigenständigkeit zu kennzeichnen.

NB: Soweit ich sehe, gibt es keine Diskussion über die Benennung des Neuen Testaments, obwohl der Begriff "Testament" ja mißverständlich oder zumindest mehrdeutig ist. testamentum = griechisch diatheke meint ja ursprünglich "Bund".

Einige Vorschläge zur Neubenennung des Alten Testaments behalten das Wort "Bibel" bei. So spricht man z.B. von der "Jüdischen Bibel", weil ja für die Juden nur dieser erste Teil "die Bibel" ist. Das kann man in bestimmten Zusammenhängen, vor allem im christlich-jüdischen Gespräch, gewiß tun; aber als Bezeichnung des Alten Testaments als Teil der christlichen Bibel ist dieser Begriff kaum geeignet. Er würde eher das Gegenteil von dem erreichen, was wir eigentlich wollen, indem er dem Alten Testament ganz den Charakter als Teil der christlichen Bibel aberkennt. Dasselbe gilt auch für die im jüdischen Sprachgebrauch übliche hebräische Abkürzung Tanakh, die von manchen Teilnehmern am christlich-jüdischen Gespräch gern verwendet wird. Auch das kann man natürlich in einem entsprechenden Gesprächskontext tun, aber es eignet sich gewiß nicht als allgemeine Bezeichnung.

Etwas anders verhält es sich mit der Bezeichnung "die Bibel Israels", die jetzt von einigen Alttestamentlern verwendet wird. Sie unterscheidet sich insofern von der vorigen, als hier mit "Israel" das biblische Israel gemeint ist. Wenn dies bewußt ist, kann dieser Begriff ausdrücken, daß dieser erste Teil unserer Bibel schon die Bibel Israels war, bevor er auch die unsere wurde. Ich habe den Begriff innerhalb der theologischen Diskussion über das Verhältnis von Altem und Neuem Testament auch schon verwendet. Aber ich denke, er setzt doch zu viel zusätzliche Überlegungen voraus und kann zudem leicht zu dem Mißverständnis führen, daß es eben die Bibel Israels und nicht unsere Bibel sei. Und außerdem kann die Mehrdeutigkeit des Wortes Israel leicht zu dem Mißverständnis führen, als sei hier der gegenwärtige Staat Israel gemeint.

Weiterhin wird auch der Begriff "Hebräische Bibel" gebraucht. Damit kann man den hebräisch geschriebenen ersten Teil der Bibel bezeichnen. Ich persönlich benutze diesen Begriff im wissenschaftlichen Sprachgebrauch regelmäßig, wenn es tatsächlich nur um das hebräische Alte Testament geht. Ich tue es auch, um den Begriff "Altes Testament" dort zu vermeiden, wo ich mir auch Juden als Zuhörer oder Leser vorstelle. Aber dieser Begriff hat auch seine Tücken. Zunächst ist er für die katholischen Kollegen nicht ohne weiteres verwendbar, weil ja zu ihrer Bibel auch die "Apokryphen" gehören, von denen die meisten nur in griechischer Fassung überliefert sind. Es kommt hinzu, daß die Christenheit bis zur Reformation das Alte Testament gar nicht in der hebräischen Fassung gekannt und benutzt hat, sondern in der griechischen Fassung der "Septuaginta" und vor allem in der lateinischen Fassung der "Vulgata". Beide waren zwar aus der hebräischen Vorlage übersetzt, aber der griechische bzw. lateinische Text ist eben doch etwas anderes. Deshalb sagen auch manche, daß die christliche Bibel eigentlich nicht der hebräische, sondern der griechische Text sei, also die Septuaginta. Erst Luther hat dann den hebräischen Text seiner Übersetzung zugrundegelegt, und inzwischen arbeiten nicht nur die lutherischen, sondern alle christlichen Alttestamentler mit dem gleichen Text, der auch die jüdische Bibel bildet. Insofern ist diese Bezeichnung im wissenschaftlichen Sprachgebrauch berechtigt. Als allgemeine christliche Bezeichnung des Alten Testaments würde sie aber wohl eher irritieren, weil es für den christlichen Bibelleser nicht so wichtig ist, in welcher Sprache der Text ursprünglich geschrieben war, und weil er oder sie auch keine besondere Beziehung zur hebräischen Sprache hat. So könnte dieser Begriff auch entfremdend wirken.

Ein großes Echo hat in den letzten Jahren der Begriff "das Erste Testament" gefunden, der in Deutschland vor allem von katholischen Alttestamentlern verwendet und propagiert wird. Zweifellos hat die Bezeichnung "das erste" nicht die gleichen negativen Assoziationen wie "das alte". Vielmehr steht dabei die Vorordnung des ersten vor dem zweiten im Vordergrund. Andererseits setzt der Ausdruck "das erste" voraus, daß ihm noch etwas folgt, und zwar mindestens ein zweites. Deshalb wird damit die Unvollständigkeit zum Ausdruck gebracht. Hier zeigt sich ein Dilemma: Diese Bezeichnung des ersten Teils der christlichen Bibel ist für Juden nicht annehmbar, weil damit ihre Bibel als unvollständig und vor allem als einer Fortsetzung und Überhöhung bedürftig bezeichnet wird. Auf ein weiteres Problem macht Erich Zenger selbst aufmerksam: Das Wort "Testament" wird in unserem Sprachgebrauch als "letztwillige Verfügung" verstanden und dann könnte sich die Frage stellen: "Hebt nicht ein Zweites Testament das Erste Testament auf?" Also auch hier gibt es mögliche Mißverständnisse.

Schließlich haben wir schon ganz zu Anfang den Ausdruck "die Schrift" gebraucht. Im Neuen Testament ist dies der Ausdruck, mit dem die jüdischen heiligen Schriften bezeichnet werden. Dabei steht das Wort oft im Plural, "die Schriften", worin sich zeigt, daß die jüdische Bibel damals noch nicht als ein in sich geschlossenes Buch vorlag. (NB: Das "Buch" gab es noch gar nicht, weil alles auf einzelne Lederrollen geschrieben wurde.) Die jüdische Bibel oder die "Bibel Israels" war in jener Zeit also "die Schrift". Manche plädieren dafür, diesen Begriff wieder aufzunehmen. Von der Sache her leuchtet mir das sehr ein. Allerdings ist ja in einem - gewiß etwas veralteten - christlichen Sprachgebrauch die Bibel als ganze "die Schrift". So kommt Frank Crüsemann, der diesen Vorschlag kürzlich gemacht hat, zu der etwas problematischen Formulierung: "Folgt man dem evangelischen Schriftprinzip, so ist das Alte Testament die Schrift der Schrift."

Wir befinden uns in dieser Frage in einem Diskussions- und Experimentierstadium, und ich würde gern von Ihnen hören, wie Sie auf diese Frage reagieren und was Sie selbst für Erfahrungen und Vorschläge haben. Ich denke allerdings, daß die Frage der Benennung des Alten Testaments ganz eng mit unserem Verhältnis zum Judentum zusammenhängt. Wenn wir dieses Verhältnis auf eine neue Grundlage gestellt haben, dann erledigen sich die negativen und abwertenden Aspekte des Begriffs "Altes Testament" von selbst.

II

Für uns Christen ist das Alte Testament der erste Teil unserer Bibel, der erst durch das Hinzutreten des zweiten Teils zur ganzen Bibel wird. Nun wird oft gesagt, daß es doch im Judentum ebenso sei, daß nämlich noch etwas Zweites hinzukommt, das erst mit der Bibel zusammen das ganze der grundlegenden Glaubensüberlieferung ausmacht. Das ist nur zum Teil richtig. Es ist insofern richtig, als für das jüdische Glauben und Leben die Bibel niemals allein existiert. Sie wird ergänzt durch die Auslegungstradition, die mit der Mischna beginnt und dann zum Talmud führt. So gibt es in Ergänzung zur "schriftlichen Tora" (tora sche-bikhtab), d.h. der Bibel, die "mündliche Tora" (tora sche-be‘al-peh), die ursprünglich nur mündlich weitergegebene Auslegung der schriftlichen Tora, die dann seit dem dritten Jahrhundert aber auch aufgeschrieben wurde.

Allerdings besteht ein grundlegender Unterschied zur Situation im Christentum. Die jüdische Auslegungstradition ist ausdrücklich und konsequent Auslegung des geschriebenen Textes. Sie fügt nichts grundsätzlich Neues hinzu. Daß sie de facto doch Neues hinzufügt, ist in der geschichtlichen Weiterentwicklung einer Religion unvermeidlich; auch die Kirche hat ja im Lauf der Kirchengeschichte Vieles und Grundlegendes zu dem hinzugefügt, was im Neuen Testament steht - denken Sie nur an die Trinitätslehre. Aber in der "mündlichen Tora" muß alles von der "schriftlichen Tora" her begründet werden. Und es gibt im Judentum nichts, was etwa mit dem Gefälle von Verheißung und Erfüllung vergleichbar wäre. Und vor allem, es vollzieht sich nicht der Übergang in eine andere "Religion". Denn wie eng auch immer wir heute die Gemeinsamkeiten von jüdischer und christlicher Religion bestimmen wollen, sie bleiben doch an einem zentralen Punkt durch die Person des Jesus von Nazaret und die mit ihm verbundenen Überlieferungen unterschieden. (Das ist jetzt allzu kurz ausgedrückt; es würde aber sonst den Rahmen unseres Themas sprengen.)

Es ist also wichtig, daß wir uns die besondere Art der jüdischen Traditionsbildung vor Augen führen und uns bewußt machen, daß auch für das Judentum die "Bibel" der erste Teil einer zweiteiligen geheiligten Tradition ist. Aber es ist genauso wichtig, daß wir uns den Unterschied bewußt machen. "Es steht geschrieben" kann im Judentum nur vom ersten Teil, von der Bibel, gesagt werden.

III

Nun folgt aber noch ein weiteres Kapitel unserer Überlegungen über ein christliches Lesen des Alten Testaments. Wenn wir noch einmal an den Ausgangspunkt unserer neuerworbenen Position zurückgehen, dann ist ganz klar, daß der erste Teil unserer Bibel zunächst die "Bibel Israels" ist, und das bedeutet, daß die Worte dieser Schrift an Israel gerichtet sind. Zunächst nur an Israel. So stellt sich die Frage noch einmal neu und nun ganz anders: Redet diese Schrift uns an? Gilt sie uns? Sind wir gemeint? Oder mitgemeint?

Hier zeigt sich jetzt ganz deutlich, wie sich die bisherigen hermeneutischen Ansätze sozusagen in ihr Gegenteil verkehren. Sowohl die "naive" Inanspruchnahme des Alten Testaments als auch die "aggressive", wenn ich einmal die Position Wilhelm Vischers so charakterisieren darf, kommen für uns nicht mehr in Betracht. Wir haben keinen vorrangigen Anspruch mehr auf die Schrift, von dem aus wir beurteilen könnten, wie es mit der Beziehung der Juden zur Schrift bestellt ist.

Haben wir überhaupt einen Anspruch? An dieser Stelle ist es mir sehr wichtig, ganz deutlich klarzumachen, daß es mir völlig fern liegt, den Christen das Recht auf den uneingeschränkten Gebrauch ihrer ganzen Bibel zu bestreiten. Das gilt übrigens für unser Verhältnis zum Judentum überhaupt. Ich höre nicht selten die erschrockene Frage: Ja, sollen wir denn alle Juden werden? Nein, ganz gewiß nicht! Aber wir müssen zunächst einmal lernen, daß die Juden nicht Christen werden müssen, um dessen teilhaftig zu werden, was die Schrift sagt. Wir sind die Jüngeren, denen die Zuwendung Gottes zur Menschheit nach Israel und im Gefolge Israels zuteil geworden ist.

Aber sie ist auch uns zuteil geworden. Und das müssen wir lernen, neu zu formulieren. Wir müssen also nicht unser Anrecht auf den ersten Teil unserer Bibel allererst begründen. Aber wir müssen es angesichts der gegenwärtigen Existenz des jüdischen Volkes, das in unmittelbarer Kontinuität mit dem biblischen Israel steht, neu formulieren. Auch diese Diskussion hat erst begonnen. Es gibt in ihr Stimmen, jüdische und christliche, die auch in unserer neuen Position die Gefahr einer Aneignung der Schrift durch die Christen angelegt sehen, die auf eine Enteignung hinausläuft. Wir bewegen uns hier auf einem schmalen Grat.

Also fragen wir noch einmal: Sind wir in den Worten der Schrift gemeint? Hier ist es jetzt sehr wichtig, wo wir ansetzen. Wir haben früher schon von dem Bund Gottes gesprochen, von dem die Bibel spricht. Manche gehen nun von dem Bund als dem zentralen Begriff der ganzen Schrift aus und sagen: Gott hat nur mit Israel den Bund geschlossen. Dabei wird der Begriff des Bundes ganz auf den Sinaibund bezogen. Dazu muß man zweierlei sagen: Es ist zweifellos richtig, daß der Sinaibund nur mit Israel geschlossen worden ist und daß er deshalb (zunächst) nur Israel gilt.

Aber: der biblische Begriff des Bundes taucht ja nicht erst am Sinai auf. Er hat zwei äußerst wichtige Vorstadien. Von dem ersten haben wir schon gesprochen: dem Bund mit Noah nach der Sintflut (Gen 9). Ich denke, es kann keine Diskussion darüber geben, daß sich dieser Bund nicht nur - genauer: überhaupt nicht - an Israel richtet, sondern an die ganze Menschheit und darüber hinaus an die ganze Schöpfung. Hier sind wir ganz gewiß auch gemeint. Hier hat die Schrift die Menschheit als ganze im Blick, und es zeigt sich, daß sie auch von der Völkerwelt reden kann ohne Blick auf deren Beziehung zu Israel.

Dann verengt sich das Bild und richtet sich wie in einem Fokus ganz auf einen, auf Abraham. Hier müssen wir nun ganz genau lesen (Gen 12). Zum einen: Angesichts der Abrahamerzählung kann man nicht einfach sagen: Gott hat den Bund mit Israel geschlossen. Denn "Israel" existiert ja noch nicht. Gott hat den Bund nicht mit einem schon existierenden Volk geschlossen, das er dadurch anderen Völkern vorgezogen hätte, sondern er hat einen einzelnen Menschen erwählt, hat mit ihm den Bund geschlossen und sich damit gleichsam das Volk "geschaffen", das dann sein Volk sein sollte. (NB: Der Begriff "Volk Israel" begegnet zuerst in Ex 1, übrigens im Mund des ägyptischen Pharao!) Gleichwohl ist klar, daß von hier aus die Linie zum Volk Israel, nach Ägypten und schließlich zum Sinai weiterläuft.

Sind wir also gemeint oder mitgemeint? In der Tat hat uns die Schrift schon damals nicht vergessen. In der Berufungsgeschichte Abrahams kommen wir vor:

Der Herr sprach zu Abraham:

Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause

in ein Land, das ich dir zeigen will.

Und ich will dich zum großen Volk machen

und will dich segnen und dir einen großen Namen machen,

und du sollst ein Segen sein.

Ich will segnen, die dich segnen,

und verfluchen, die dich verfluchen;

und in dir werden sich Segen wünschen alle Geschlechter der Erde (Gen 12,1-3).

Hier sind wir mitgemeint. Alle Geschlechter der Erde, man könnte auch übersetzen: alle Familien der Erde (kol mischpechot ha’adamah) sollen Anteil haben an dem Segen, den Gott Abraham verheißt. (wenibreku beka heißt vielleicht: sie sollen sich gegenseitig segnen, d.h. sich Segen wünschen mit dem Namen Abrahams.) Dabei werden gleich noch einige sehr gewichtige Worte über das Verhältnis der Völker zu Abraham und seinen Nachkommen gesagt: "Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen."

Dies ist ein ganz entscheidender Vers: Ganz am Anfang der Geschichte Gottes mit seinem Volk, sozusagen in der ersten Minute, wird ganz klar gesagt, daß diese Erwählung Abrahams mit allem, was aus ihr folgt, von grundlegender Bedeutung für die übrige Menschheit sein wird. Hier sind wir mitgemeint: nicht als Israel, nicht als unmittelbare Nachkommen Abrahams, sondern als Angehörige der Völkerwelt.

Ich glaube, daß dies ein ganz entscheidender Schlüssel für eine angemessene biblische Bestimmung unseres Verhältnisses zu Israel ist. Wir sind nicht Israel, wir gehören auch nicht zu Israel im biblischen Sinne, sondern wir gehören zu den Völkern, zu den gojim, wenn man diesen Ausdruck verwenden will. Hier könnte sich ein ganz neuer Zugang zu einem wichtigen Aspekt des Alten Testaments ergeben. Bisher lesen wir die Texte, die von den Völkern sprechen, meistens aus der Sicht Israels - oder in manchen neueren Arbeiten aus der Sicht der von Israel Unterdrückten. Jetzt sollten wir sie einmal unter einem veränderten Blickwinkel lesen, indem wir uns selbst darin angeredet sein lassen.

Dazu ist noch ein Vorbemerkung nötig. Rein zahlenmäßig sind im Alten Testament diejenigen Texte in der Mehrzahl, die negativ von anderen Völkern reden. Das hat vor allem zwei Gründe. Der eine ist die politische und kriegerische Situation, in der das biblische Israel über viele Jahrhunderte gelebt hat. Hier erscheinen die Völker vorwiegend als Feinde, manchmal sogar als Werkzeuge Gottes gegenüber Israel, manchmal auch als solche, die von Gott gestraft werden wegen ihres Verhaltens gegenüber Israel. Ein zweiter Grund ist die Gefahr für die Reinheit des israelitischen Glaubens, die von der Verbindung mit anderen Völkern ausgeht. Dieses Thema wird schon im Zusammenhang mit der Landnahme der Israeliten in Kanaan behandelt, wo ausdrücklich untersagt wird, Ehen mit Angehörigen anderer Völker zu schließen. In verschärfter Form taucht dieses Problem dann in nachexilischer Zeit bei Esra und Nehemia auf. Das Verhältnis zu den Völkern ist also keineswegs einheitlich. Aber wir wollen jetzt nur die Linien verfolgen, die auf unser eigenes Verhältnis zu Israel hinführen können.

In den erzählenden Texten wird wiederholt von Angehörigen anderer Völker, also von "Heiden" berichtet, die den Gott Israels als den wahren Gott erkennen und anerkennen. Ein erstes, bedeutendes Beispiel ist Jitro, der midianitische Priester und Schwiegervater Moses. Als Mose ihm über die wunderbare Herausführung Israels aus der ägyptischen Fronknechtschaft berichtet, ruft er aus: "Jetzt erkenne ich, daß Jhwh größer ist als alle Götter" (Ex 18,11). Die Erkenntnis dieses Gottes ist also nicht auf Israel beschränkt, und wenn andere zu ihr vorstoßen, verbindet sich das mit der Einsicht, daß dieser Gott größer ist als alle Götter. Noch volltönender klingt das Bekenntnis der Hure Rahab in Jericho. Sie erzählt den israelitischen Kundschaftern, was man in Jericho von den großen Taten Gottes an Israel gehört hat, und endet mit den Worten: "Jhwh, euer Gott, er ist Gott im Himmel droben und auf der Erde unten" (Josua 2, 11). Von dem aramäischen Feldherrn Naaman, den der Prophet Elisa vom Aussatz geheilt hat, wird geradezu eine Bekehrung berichtet. Er bekennt: "Jetzt erkenne ich, daß es keinen Gott gibt auf der ganzen Welt außer in Israel". Er verpflichtet sich, künftig keinem anderen Gott außer Jhwh mehr zu opfern, wozu er Erde aus Israel mitnimmt, um auf ihr niederzuknien (2.Kön 5,15.17). Dies sind sozusagen biblische Beispiele oder Vorläufer von Proselyten, also von Angehörigen der "Völker", von "Heiden", die sich der israelitischen Religion zuwandten. Sie bleiben in den Texten einzelne, die aber zeigen, daß es solche "frommen Heiden" gegeben hat. Hierher müßte man auch Jes 56,6f rechnen, wo ausdrücklich die Zulassung von Proselyten zum Tempelgottesdienst ins Auge gefaßt wird.

Die Schrift spricht jedoch auch immer wieder davon, daß sich "Völker" der Verehrung des einen und einzigen Gottes zuwenden werden, "viele Völker", ja sogar "alle Völker". Besonders eindrucksvoll wird dies in dem zweimal überlieferten Text von der "Völkerwallfahrt zum Zion" beschrieben. "Alle Völker" und "viele Nationen" werden zum Zion als dem erhöhten Mittelpunkt der Welt herzueilen und sagen:

Auf, laßt uns hinaufziehen zum Berg des Herrn,

zum Haus des Gottes Jakobs,

damit er uns seine Wege lehre

und wir auf seinen Pfaden wandeln.

Denn von Zion wird Weisung ausgehen

und das Wort des Herrn von Jerusalem. (Jes 2,2-5; Micha 4,1-5)

Auch im Gebet Salomos bei der Einweihung des Tempels in Jerusalem wird die Hoffnung ausgesprochen, "daß alle Völker der Welt deinen Namen erkennen, damit sie dich fürchten wie dein Volk Israel und erkennen, daß dein Name über diesem Haus, das ich gebaut habe, ausgerufen ist" (1.Kön 8,43).

Aber diese Erwartungen sind nicht nur auf Jerusalem beschränkt. Im Buch Jesaja heißt es:

Mir wird sich beugen jedes Knie,

und jede Zunge wird schwören:

Nur im Herrn ist Heil und Stärke. (Jes 45,23f)

Am Schluß des Jesajabuches wird dies noch im Blick auf den israelitischen Festtagskalender konkretisiert:

Neumond für Neumond

und Sabbat für Sabbat

wird alles Fleisch kommen, um vor mir anzubeten,

spricht der Herr. (Jes 66,23)

Und schließlich beim letzten der Propheten:

Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang

ist mein Name groß bei den Völkern.

An jedem Ort werden meinem Namen Räucheropfer

und reine Opfergaben dargebracht,

denn mein Name ist groß bei den Völkern.,

spricht der Herr Zebaoth. (Maleachi 1,11)

Die Texte, in denen ähnliche Erwartungen ausgesprochen werden, ließen sich noch vermehren. Sie zeigen, daß die Völker nicht nur am Anfang der Geschichte Gottes mit der Welt und der Menschheit da waren, sondern daß sie niemals aus Gottes Blick und aus seiner Obhut verschwunden sind und am Ende der Tage auch im Kreis derer da sein werden, die den Namen des einen Gottes verehren.

Daß die Völker auch für Israel nicht gleichgültig sind, geht ja schon daraus hervor, daß diese Texte in der Bibel Israels stehen. Es gibt aber auch einige Texte, die davon sprechen, daß Israel eine Aufgabe gegenüber den Völkern hat. Dies tritt vor allem in den Kapiteln 40-55 des Jesajabuches hervor. Hier heißt es mehrmals: "Ihr seid meine Zeugen", nämlich dafür, daß es außer dem Gott Israels keinen Gott gibt (Jes 43,10.12; 44,8, vgl. 55,4). Israel wird andere Völker rufen:

Siehe, ein Volk, das du nicht kennst, wirst du rufen,

Völker, die dich nicht kannten, eilen zu dir

um des Herrn, deines Gottes, des Heiligen Israels willen,

der dich herrlich gemacht hat. (Jes 55,5).

Insbesondere wir diese Zeugenschaft mit dem Titel des "Gottesknechts" verbunden, der in einer Reihe von Texten auf Israel angewandt wird. Er soll zum "Licht für die Völker" werden:

Es ist zu wenig, daß du mein Knecht bist,

um die Stämme Jakobs wieder aufzurichten

und die Verschonten Israels heimzuführen:

Ich habe dich zum Licht für die Völker gemacht,

damit mein Heil bis an die Enden der Welt gelangt. (Jes 49,6, vgl. 42,6)

Israel hat also trotz - oder genauer: wegen - seines besonderen Gottesverhältnisses zugleich eine große Bedeutung für die Völker. Die in der Hebräischen Bibel nur vereinzelt, aber unüberhörbar in Erscheinung tretende Frage, ob auch andere Völker oder gar alle Völker eines Tages zur Erkenntnis des einen Gottes gelangen könnten, ist eng mit Israels Existenz als des einzigen Volkes, das diesen Gott schon kennt, verbunden. Der eine Gott ist in der Zeit der Hebräischen Bibel nur als der Gott Israels bekannt. Wie wird er sich zeigen, wenn die Völker zu seiner Erkenntnis kommen? Er wird der Gott Israels bleiben, aber er wird dann auch als der Gott aller Völker offenbar werden.

Nach den eben zitierten Texten hat auch Israel die Aufgabe, an der Weitergabe der Erkenntnis des einen Gottes an die Völker mitzuwirken. Man kann die Geburtsgeschichte Jesu im Lukasevangelium im Licht dieser Texte lesen. Besonders eindrücklich kommt das in den Worten des greisen Simeon zum Ausdruck:

Herr, nun läßt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast;

denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen,

den du bereitet hast vor allen Völkern,

ein Licht, zu erleuchten die Heiden

und zum Preis deines Volkes Israel (Luk 2,29-32).

Ich weiß, das ist ein kühner Gedanke, den ich nur mit Vorsicht aussprechen möchte. Aber ich denke manchmal, daß die christliche Gemeinde darin einen Teil des Auftrags übernommen hat, der zunächst an Israel gerichtet war. Die christlichen Missionare, allen voran Paulus, haben den Völkern den Gott Israels verkündigt. Und gerade Paulus hat sich auch der schwierigen Frage gestellt, wie das Verhältnis zwischen der neu entstehenden christlichen Gemeinschaft und Israel aussehen könnte, indem er eine entscheidenden Grundsatz formuliert hat: "Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das er zuvor erwählt hat" (Röm 11,2). Es kann also gar keine Rede davon sein, daß die Christenheit jetzt in Konkurrenz zu Israel träte oder Israel gar verdrängen wollte. Aber wenn die Bibel Israels nun auch unsere Bibel ist, und wenn wir, die wir selbst zu den Völkern gehören, den Gott dieser Bibel verkündigen, dann treten wir damit in eine gemeinsame Aufgabe mit Israel gegenüber der Welt ein.

Diese letzten Überlegungen sind auch für mich selbst noch sehr neu. Sie haben sich mir erst bei der Arbeit an dieser Vortragsreihe ergeben. Ich spreche sie deshalb hier mit allem Vorbehalt aus. Ich denke aber, daß sich hier auch ein neuer Ansatz ergibt, das Alte Testament viel stärker und viel nachdrücklicher in den Vordergrund der christlichen Predigt und Unterweisung zu rücken. Unser Auftrag ist keineswegs nur, die Botschaft des Neuen Testaments zu sagen und dabei dann auch das Alte Testament ein wenig mit zur Sprache zu bringen. Vielmehr ist es die ganze Bibel, die weiterzusagen uns aufgetragen ist. Unser Glaubensbekenntnis beginnt mit dem Ersten Artikel, dem Glauben an Gott den Schöpfer des Himmels und der Erde. Eben damit beginnt auch unsere Bibel: "Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde." Und damit muß auch unsere christliche Predigt beginnen. Wer Gott ist, ist heute weniger selbstverständlich als je. Und um zu verstehen, was Jesus und Paulus meinen, wenn sie "Gott" sagen, müssen wir die Schrift, die Bibel Israels, unser Altes Testament, lesen und weitersagen.

Editorische Anmerkungen

© Copyright 1997 Rolf Rendtorff. Mit freundlicher Erlaubnis des Autors