"Abel steh auf" - oder: Warum es um Kain geht

Vortrag zur Woche der Brüderlichkeit 2002 des Deutschen KoordinierungsRates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Dr. Brocke ist Preisträgerin der Buber-Rosenzweig Medaille dieses Jahres.

Edna Brocke

„Abel steh auf“ – oder: Warum es um Kain geht

Das Zitat „Abel steh auf“ stammt aus einem Gedicht einer Zeitgenossin und dient als Motto der diesjährigen „Woche der Brüderlichkeit“. Es ist ein Gedicht, das sich der Thematik der Brüderlichkeit widmet, vor allem jedoch der Frage nach den Spannungen zwischen Menschen, auch dann, wenn sie Brüder sind. Um einen authentischeren Zugang zum Gedicht gewinnen zu können, möchte ich mich jedoch zunächst dem Text und Kontext des Originals widmen.

Die ersten Kapitel der jüdischen Bibel, des TaNaCh, sind dem Schöpfungsmythos gewidmet, jenem Teil des Geschichtsberichtes, der allgemein gehalten ist und Menschsein an sich zum Thema hat. Diese Kapitel führen dem Leser sogleich zwei große und entscheidende Verfehlungen vor: den Verzehr der Frucht vom Baum der Erkenntnis einerseits und den Brudermord an Abel andererseits.

In beiden Geschichten hören wir eine fast gleich lautende Frage. Nachdem Adam vom Baum der Erkenntnis gegessen hatte, mit seiner Frau im Garten umherlief, wusste, dass er nackt war, ebenso, dass er eine Fehlentscheidung getroffen hatte, heißt es (in Gen 3,9) nur ganz vorsichtig und zahm: „Und adonaj rief zu Adam >Wo bist du?“< Adam wurde also die Möglichkeit der Umkehr eingeräumt, die Möglichkeit, seine Verfehlung einzusehen, sie zu bereuen und umzukehren.

Wie kaum anders zu erwarten, fällt Adams Antwort jedoch so menschlich, so bekannt, so nachvollziehbar aus: „Die Frau, die du mir zugesellt, sie gab mir von dem Baum, und ich aß.“ (Gen 3,12).

Die dann folgende Frage Gottes an die Frau fällt weit weniger sanft aus als jene, die Adam gestellt wurde: „Was hast du da getan?“ (Gen 3,13) lautet die beschuldigende Frage, auf die erneut ein Verschieben von Verantwortung folgt: „Die Schlange hat mich verführt, und ich aß.“

Alle drei, die Schlange, Eva und Adam werden bestraft, doch für unterschiedliche Vergehen und in unterschiedlicher Weise. „Weil du das getan, bist du verflucht vor allem Vieh“, heißt es an die Adresse der Schlange, während Eva von ihrem Mann beherrscht werden soll. Beiden gegenüber wird keine Begründung genannt. Adam gegenüber wird jedoch (in Gen 3,17) erklärt, weshalb und wofür er bestraft wird. Nicht allein für das Essen der Frucht, sondern, „weil du auf deines Weibes Stimme gehört und von dem Baum gegessen hast“ ... Die Schuld für sein eigenes Vergehen muss er auch selbst tragen und kann sie nicht auf andere abwälzen.

Ganz ähnlich wie der TaNaCh uns die sanfte Frage an Adam als Eröffnung der Möglichkeit zur Umkehr nahe legt, lautet auch die Frage an Kain, nachdem er seinen Bruder Abel erschlagen hatte, lediglich: „Wo ist dein Bruder Abel?“ Auch ihm wurde die Möglichkeit einer Umkehr eingeräumt.

Doch wovon sollte Kain umkehren? Was hatte Kain zu diesem Handeln getrieben? Was motivierte ihn? Da lässt uns der TaNaCh eher im Unklaren.

Wir erfahren, dass die beiden Brüder sehr verschieden waren und folglich auch unterschiedliche Lebensweisen gewählt hatten. Der eine war erdverbunden und wurde ein Bauer, der andere war kontemplativer und beweglicher, weshalb er ein Hirte wurde.

Mit diesem begrenzten Wissen über die Brüder Kain und Abel werden wir informiert, dass „am Ende von Tagen“ (Gen 4,3) Kain ein Opfer darbrachte. „Und Abel brachte, auch er ... eine Gabe dar.“ Die Tatsache, dass adonaj sich der Gabe Abels zuwandte, jener des Kain aber nicht, „erzürnte Kain sehr und sein Antlitz sank“. Kain war also einerseits wütend und andererseits deprimiert. Können diese beiden Empfindungen jedoch gleichzeitig erlebt werden? War Kain vielleicht über sich selbst und seine Faulheit erzürnt? Fürchtete er seine eigene Unkontrolliertheit, und war er deshalb deprimiert? War es mangelndes Selbstvertrauen, das ihn umtrieb?

Vers 7 versucht uns eine Antwort zu geben: „Wenn du recht handelst, darfst du frei aufschauen; handelst du aber nicht recht, so lauert die Verfehlung vor der Tür und nach dir steht ihre Begierde; du aber sollst Herr werden über sie.“ Wenn man so will, liefert uns der TaNaCh die Erklärung dessen, was nun in der Geschichte folgt, nämlich das Erschlagen Abels, noch bevor wir wissen, um welche Verfehlung es sich handeln wird.

Zunächst bleiben wir aber noch im Unklaren, denn enigmatisch beginnt ein Halbvers wie folgt: „Nun sprach Kain zu seinem Bruder Abel. Es war nun, als sie auf dem Feld waren.“ Der TaNaCh verrät aber nicht, was Kain zu Abel gesagt hat. In der jüdischen Auslegungstradition wird verschiedentlich hier weitererzählt. So etwa, als hätten die Brüder sich die Aufgabenbereiche aufgeteilt, der eine (der erdverbundene Bauer) begrenze sich auf die unbeweglichen, der andere (kontemplative) auf die beweglichen Güter dieser Erde. Andere Ausleger wollen in diesen nicht ausgeführten Halbvers eine Unterhaltung zwischen den Brüdern über die Frage nach „dieser Welt“ und nach der „kommenden Welt“ hineinlesen.

In einer aramäischen Übersetzung (Targum Jonathan zu Gen 4,8), die, wie jede Übersetzung, zugleich auch eine Interpretation ist, heißt es wie folgt:

“Kain sagte zu Abel: Mit Barmherzigkeit ist die Welt erschaffen worden, aber sie besteht ohne gute Taten. Es muss Parteilichkeit in der Gerichtsbarkeit geben, weshalb deine Gabe angenommen wurde und meine nicht. Es gibt keine Parteilichkeit in der Gerichtsbarkeit, antwortete Abel, sondern mein Handeln ist besser als deins.

Es gibt kein Recht, keinen Richter und keine zukünftige Welt, sagte daraufhin Kain und deshalb auch keinen Lohn und keine Strafe für Gerechte und für Frevler.

Woraufhin Abel antwortete: Es gibt sowohl Recht wie einen Richter und auch eine zukünftige Welt.

Darüber stritten die Brüder auf dem Feld, und Kain nahm einen Stein, schlug ihn in Abels Stirn und tötete ihn.“

Die Versuche, Geschichten im TaNaCh weiterzuerzählen, dienen primär dem pädagogischen Versuch, die Texte so genau wie möglich zu lesen und sie dann zu befragen. Zu schauen, welche Details auf welche Interpretationen hinweisen, und dies nicht, um eine abschließende Antwort zu versuchen, sondern mit dem Ziel, die Lesegenauigkeit einzuüben. So ist es auch sekundär, weshalb die Ausleger etwa das Alter der Brüder Kain und Abel auf vierzig festlegten.

Die zweite Hälfte von Vers 8 berichtet in Kürze: „Und Kain erhob sich wider seinen Bruder Abel und tötete ihn.“ In einem Kommentar (GenR 22,8) wird darüber spekuliert, auf welche Weise Kain seinen Bruder erschlagen hat. Die einen meinen mit einem Stock, andere sprechen vom Stein. Wieder andere erweitern die Fortsetzung der Erzählung und gehen davon aus, dass der Streit der Brüder um die Pessachzeit war, sodass Kain gesehen hatte, wie sein Vater das Opfertier schlachtete und deshalb seinen Bruder mit einem Messer tötete.

Das hier verwendete hebräische Wort ist „wa-jahargehu“ (= und er tötete ihn). Es heißt eben nicht „er ermordete ihn“. Deshalb gehen einige Kommentatoren davon aus, es habe sich um Notwehr, nicht um Absicht gehandelt. Eine Bestätigung für ihre Sicht finden sie in Vers 15, da Kain das ihn schützende Zeichen, das Kainsmal, erhält.

Wie weitschweifend das Weitererzählen in der jüdischen Tradition üblich ist, zeigt folgender Abschnitt aus dem Midrasch Tanchuma:

 

“Da er ihn tötete, sagte er zu sich: Ich muss vor meinem Vater und vor meiner Mutter fliehen, denn es gibt keinen anderen in der Welt, von dem sie ihn einfordern können als von mir. Sofort erschien ihm der Heilige, gepriesen sei er, und sagte: Vor deinen Eltern kannst du fliehen, nicht vor mir ... Und Kain antwortete: Herr der Welt, gibt es Petzer vor dir? Mein Vater und meine Mutter sind auf Erden und wissen nicht, dass ich ihn getötet habe, und du bist im Himmel, woher weißt du es? Deines Bruders Blut schreit auf zu mir vom Ackerboden (Gen 4,10), lautete die Antwort.

... Ich habe noch nie einen Getöteten gesehen und konnte nicht wissen, dass ich ihn töte, wenn ich ihn mit einem Stein schlage ... Und Kain fragte, habe wirklich ich ihn getötet, bist du es doch, der den bösen Trieb in mir erschaffen hast. Du wachst über alles, nur mir hast du es erlaubt, ihn zu töten. Du hast ihn getötet, denn hättest du meine Gabe wie die seine angenommen, hätte ich es ihm nicht geneidet“.

Und wieso schreit das Blut Abels vom Ackerboden? Nur deshalb, weil Kain ein Bauer war? So wird auch hier (GenR 22,8) wie folgt weitererzählt:

“In den Himmel konnte seine Seele noch nicht hinaufsteigen, weil es dort noch niemanden gab. Hinabsteigen konnte sie auch nicht, weil noch kein Mensch zuvor beerdigt worden war. So befand sich sein Blut auf den Steinen und Bäumen.“

Wenn hierüber schon nachgedacht worden ist, liegt es nah, dass sich Kommentatoren auch über die Beisetzung von Abel Gedanken gemacht haben (Jalkut Schimoni, Gen 38).

“Saßen Adam und seine Stütze, weinten und trauerten um ihn und wussten nicht, was zu tun ist. Da kam ein Rabe, dessen Kamerad verstorben war, und sagte: Ich lehre den Adam, was zu tun ist. Er nahm seinen Kameraden, grub vor ihren Augen in der Erde und begrub ihn. Da sagte Adam: Wir werden es dem Raben nachmachen, und nahm Abels Leichnam und begrub ihn in der Erde.“

Liest man vor diesen nüchternen und von jeglichem Moralisieren freien Versuchen der Interpretation der biblischen Geschichte von der Tötung Abels das Gedicht von Hilde Domin „Abel steh auf“, muss zunächst ein großer Sprung gewagt werden.

Kains Frage „Bin ich der Hüter meines Bruders?“ findet in der jüdischen Auslegungstradition kaum Beachtung. Widmet sich die jüdische Auslegung deshalb dieser Frage nicht, weil das „Hüter-Sein für den Bruder“ eigentlich einer Bevormundung gleichkommt? Ist es nicht menschlich und realistisch, dass eine solche Aufgabe den Eltern und auch nur ihrem minderjährigen Kind gegenüber obliegt? Ab dem Zeitpunkt, da die Kinder – durch Hilfe und Anleitung der Eltern – autonome Persönlichkeiten geworden sind, ist jeder von ihnen erwachsen und somit der „Hüter seiner selbst“.

Im Gedicht ist aber gerade diese Frage die zentrale, um die sich die Hoffnungsperspektive der Dichterin windet. Hiermit bestimmt sie die Parameter der Beziehung „zwischen uns allen“. Mehr noch, Hilde Domin setzt die Frage und die von ihr erwartete, ja erhoffte „andere“ Antwort ins Zentrum:

wie soll die Antwort

diese einzig wichtige Antwort

sich je verändern

Die biblische Geschichte geht jedoch genau umgekehrt vor. Sie erkennt die Schwächen des Adam, des Menschen an sich, und stellt uns Nachfahren, uns späteren Lesern, die Aufgabe, die Unumkehrbarkeit der Beziehung zwischen Menschen, ja sogar zwischen Geschwistern, anzunehmen und ihr Verhältnis durch Setzung klarer Grenzen zu regeln. Die biblische Geschichte entlässt uns mit dem Wissen, dass nicht die Frage nach dem Hüter wichtig ist, sondern nach den Absprachen zwischen Menschen, auch zwischen Gruppen, auch zwischen Völkern, Absprachen, die offen, aber auch realistisch ausgesprochen werden müssen.

Hilde Domin will etwas anderes. Sie möchte alles rückgängig machen, so als würde es sich um einen historischen Bericht, nicht um einen Mythos handeln. Weil es für sie die Dimension eines historischen Berichtes zu haben scheint, wünscht sie sich eine Umkehrung, eine Rückgängig machung – die natürlich auch mit realgeschichtlichen Ereignissen nicht möglich ist:

wenn du nur aufstehst

und es rückgängig machst

die erste falsche Antwort

auf die einzige Frage

auf die es ankommt

steh auf

damit Kain sagt

damit er es sagen kann

Ich bin dein Hüter

Bruder

Wieso sollte Abel aber aufstehen? Sind es nicht eher christliche Vorstellungen vom Umgang mit Gewesenem? Sind es nicht eher christliche Wünsche nach Auferstehung, die alles wieder gutmachen könnte? Gewiss, viele assimilierte Juden dachten (und denken) auch so. Viele Juden möchten auch heute noch zur Mehrheitsgesellschaft gehören, viele meinen heute noch, es gäbe keine tiefen Unterschiede zwischen jüdischer und christlicher Lektüre der Texte aus dem TaNaCh. Viele Juden, die so denken und es sich so wünschen, kennen aber leider die plurale, offene und lebensnahe jüdische Auslegungstradition nicht. Deshalb können sie den Wunsch äußern:

Abel steh auf

damit es anders anfängt

zwischen uns allen

Anders als Hilde Domin wünsche ich mir nicht, dass Abel aufstehen würde. Ich wünsche mir, dass wir die unumkehrbar weiterhin bestehenden Unterschiede und Interessenskonflikte zwischen Menschen erkennen und akzeptieren lernen. Ich wünsche mir, dass wir lernen, realistisch nach Regeln des Interessenausgleichs zu suchen, ohne einander umbringen zu müssen. Unrealistisch, romantisch und moralisch überfordernd wäre es, uns alle darauf zu verpflichten, „Hüter des anderen“ zu sein.

Der wahre Mut liegt darin, das, was uns unterscheidet, und mutig genug sind, diese nicht nur – als Realisten – nicht nur zu akzeptieren, sondern das Unterscheidende kreativ fruchtbar für mich und den anderen zu machen, weil die „Grenze der wirklich fruchtbare Ort der Erkenntnis ist“, wie es der evangelische Theologe Paul Tillich treffend formulierte.

Editorische Anmerkungen

Quelle: Deutscher KoordinierungsRat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit.