7. Oktober 2023 und der Gaza-Krieg. Eine Handreichung zum Verständnis und Empfehlung zum Umgang mit den Auswirkungen in München für Schulen, Verwaltung, Gemeinden

Der 7. Oktober und seine Folgen erschüttern die Welt, verändern die Situation in Nahost und werden gewiss auch uns in München und Deutschland noch lange beschäftigen. Der Komplexität des Nahostkonflikts stehen wir schon als Einzelne, die verstehen wollen, relativ hilflos gegen­über. Denkbar weit auseinanderklaffende Sichtweisen und Interpretationen stellen vor allem diejenigen vor kaum zu bewältigende Herausforderungen, die da Verant­wortung tragen, wo solche Meinungen zusammentreffen. Das ist in Schulhöfen und Klassen­­zimmern der Fall, am Arbeitsplatz, im Sportverein, in Dialogforen, aber auch über­all, wo Menschen sich begegnen und austauschen. Die städtischen Verwaltungs­strukturen sind hier in besonderer Weise gefragt, Wertepositionen klarzustellen, die sich, resultierend aus der deutschen Geschichte, aus dem Grundgesetz und gesellschaftlichem Konsens er­geben, und zugleich ausgleichend und deeskalierend zu wirken.[1]

Die Hilfestellung, die hier erarbeitet wird, beruht auf Jahrzehnte langer, profunder Ver­traut­heit mit der (jüdisch-)israelischen Lebenswirklichkeit ebenso wie der der Palästinenser, auf intensiver fachlicher Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte der NS-Zeit, und auf engen Verflechtungen im Dialog mit Musliminnen/Muslimen und Jüdinnen/Juden in München. (Im Folgenden wird meist das generische Maskulinum verwendet.)


Die A's und O's

So komplex und vielschichtig der Konflikt in seinen langen und facettenreichen Entwick­lungen ist, es lassen sich doch einige grundsätzliche Axiome festhalten, die ihn seinem Wesen nach kennzeichnen. Sie sollten – nein, sie müssen – am Beginn jeder Auseinander­setzung mit der Materie stehen:

1. Dieser Konflikt hat zwei Seiten.
2. Dieser Konflikt ist, seinem Wesen nach, kein Religionskonflikt.
3. Jeder Konflikt ist überwindbar, auch dieser.
4. Wir können den Konflikt von München aus nicht lösen. Aber wir müssen in Münchenein friedliches und wertschätzendes Miteinander verwirklichen.
5. Kritik an Israel ist nicht per se antisemitisch; sie ist aber häufiger antisemitisch, als die Kritiker oft meinen. 

1.  Dieser Konflikt hat zwei Seiten

Entstehung und Wesen des Israel-Palästina-Konflikts (sehr kurz dargestellt)

Der Nahe Osten ist Schauplatz mehrerer Konflikte. Aktuell dauern z.B. die schwelend instabilen Verhältnisse im Libanon und im Irak an, der nicht beigelegte Bürgerkrieg in Syrien, der Kampf der Kurden um ihre Rechte in verschiedenen Ländern, um nur einige zu nennen. In unserer Wahrnehmung steht der Konflikt um das Land, das sowohl Israel wie auch Palästina genannt wird, so zentral, dass „der Nahostkonflikt“ oft darauf reduziert wird. Wir sollten stattdessen hier genauer vom Israel-Palästina-Konflikt sprechen.

Dieser Konflikt ist natürlich nicht am 7. Oktober 2023 ausgelöst worden. Er ist aber kein „uralter“ Konflikt, der in biblische Zeiten zurückreichen würde. Er beginnt auch nicht mit der Gründung des Staates Israel 1948. Er entwickelte sich ab dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert – vor etwas mehr als hundert Jahren also, infolge der zionistischen Be­-stre­bungen um eine jüdische „Heimstätte“ oder einen jüdischen Staat im Land Israel, in Palästina.

Während der britischen Mandatsherrschaft (1920-1948) nahm der Konflikt gewaltsame Formen an mit Kämpfen zwischen Arabern, Juden und Briten, Terroranschlägen von jüdi­schen und arabischen Organisationen, Pogromen an Juden. Die britische Mandats­regierung bedachte mehrere Initiativen zur Beilegung des Konflikts. Ein umfassender Plan für eine friedliche Lösung wurde von den Vereinten Nationen am 29.11.1947 ange­nommen (mit 33 gegen 13 Stimmen, bei 10 Enthaltungen). Er sah bei Ablauf des Mandats am 15.5.1948 die Teilung des Landes in einen jüdischen und einen arabischen Staat sowie eine internatio­nale Verwaltung für Jerusalem mit Betlehem vor. Von jüdischen Seiten waren die Reaktionen geteilt. Rechte Organisationen lehnten die Teilung ab und bean­spruchten zudem auch Transjordanien (das von 1920 bis 1923 zum Mandatsgebiet „Palästina“ gehört hatte; heute Königreich Jordanien) für den jüdischen Staat. Der linke Hauptflügel der zionistischen Bewegung stimmte dem Plan zu und proklamierte auf Grund­lage der UN-Resolution den „Staat Israel“. Auf arabischer Seite wurde der Plan nahezu einhellig abgelehnt. Die umliegenden arabischen Länder überfielen den jüdischen Staat mit der erklärten Absicht, ihn zu vernichten.

Die Resultate waren aus israelischer Perspektive der erfolgreiche „Unabhängigkeitskrieg“ und aus palästinensischer Perspektive die „Nakba“. In den folgenden 75 Jahren ereigneten sich weitere Kriege (1956 Sinaikrieg; 1967 Sechstage- oder Junikrieg; 1973 Jom-Kippur- oder Oktoberkrieg; 1982 Libanonkrieg; 1990/91 Golfkrieg; 2006 2. Libanonkrieg; Gaza­kriege 2008/09, 2012, 2014, 2021, 2023- ), mehrmals wurden Friedensinitiativen versucht (insbesondere 1977-79 durch Ägypten, ab 1993 der sog. Oslo-Prozess; 2019/ 20 durch Donald Trump, ohne Einbeziehung der Palästinenser).

Bis heute haben von den aktuell 193 Mitgliedsstaaten der UNO 167 den „Staat Israel“ anerkannt. 138 (darunter 9 EU-Staaten) haben den „Staat Palästina“ anerkannt, der 1988 formal von der PLO proklamiert wurde und den die Palästinensische Autonomiebehörde zu vertreten bean­sprucht. Eine Mehrheit erkennen heute also beide Staaten an, darunter aber vergleichsweise wenige westliche Länder. Die meisten arabischen und islamischen Länder erkennen den Staat Israel nicht an.

Von Anfang an und bis heute stehen sich auf beiden Seiten Kräfte gegenüber,

- die darauf drängen, den Konflikt durch eine wie auch immer gestaltete Kompromiss­lösung beizulegen, und solche,
- die die Rechte der anderen Seite minimieren, delegitimieren oder negieren und das gesamte Land zwischen Mittelmeer und Jordan für die eigene Seite beanspruchen.


Zwei Seiten

Die Konstellation, dass zwei Völker ein und dasselbe Land für sich beanspruchen, ist unter allen Konflikten der Welt singulär. Sie macht den Israel-Palästina-Konflikt wesenhaft aus. Jede Stellungnahme, jede Positionierung, die diese Grundwahrheit ausklammert, ver­drängt, oder gar leugnet, versagt – gewollt oder unbewusst – jeder möglichen Lösung
des Konflikts a priori die Grundlage.

Nicht „Israel“, „die Israelis“, „die Zionisten“ oder gar „die Juden“ stehen auf der einen Seite des Konflikts, und „Palästina“, „die Palästinenser“, „die Araber“ oder gar „die Muslime“ auf der Gegenseite. Sondern es stehen auf beiden Seiten sowohl solche Menschen, die eine friedliche und gerechte Lösung anstreben gegenüber solchen, die sich dem verweigern. Nennen wir die erste die LÖSUNG(s-orientierte)-Seite, die andere die KONFLIKT(-orientierte)-Seite.

Wir sind alle gefragt und gefordert, uns entlang dieser Konfliktlinie zu positionieren –
also nicht „Pro-Palästina“ oder „Pro-Israel“, sondern Pro-LÖSUNG und gegen KONFLIKT.


Viele Perspektiven

Natürlich ist das Spektrum an Meinungen und Sichtweisen sowohl auf israelischer wie palästinensischer Seite nicht monolithisch.

In ihrer großen Mehrheit sind Palästinenser sunnitische Muslime, ein kleiner Teil sind Christen; fast alle verstehen sich auch als Araber. Viele haben enge Verbindungen zu im Ausland lebenden Familienmit­gliedern oder selbst z.B. in westlichen Ländern studiert. Andere sind Nachkommen der Nakba-Flüchtlinge und leben entweder in Nachbarländern, oft ohne dort je integriert worden zu sein, oder in den 1967 von Israel besetzten Gebieten. Diese Gebiete werden im Gazastreifen, der seit 2005 nicht mehr unter Besatzung, aber unter von Israel (und Ägypten) kontrollierter Blockade leidet, von der „Hamas“ regiert; das Westjordanland (engl. Westbank), das durch zahl­reiche israelische Siedlungen und die teilweise tief in die Gebiete hineinragenden Sperr­anlagen territorial fragmentiert ist, wird von der „Palästi­nen­sischen Autonomie­behörde“ verwaltet.

Unter „Israelis“ wird oft vereinfacht die jüdische Bevölkerung verstanden, doch sind auch ein Teil der Palästinenser – muslimische oder christliche Araber – israelische Staats­bürger. Dasselbe gilt für die arabische Religions­gemein­schaft der Drusen, deren Mitglieder in der israelischen Armee dienen, so wie auch ein Teil der arabischen, bedu­ini­schen Bevölkerung. Auch andere Minderheiten, wie Samaritaner oder Aramäer, können Israelis sein. Die jüdisch-israelische Bevölkerung setzt sich ihrerseits aus einem sehr bunten Spektrum unter­schiedlicher Herkunftskulturen zusammen, und vertritt teilweise heftig kontras­tierende Auffassungen von jüdischer Identität. Hinzu kommt eine innere politische Auseinander­setzung: die Gesellschaft war lange Zeit in ungefähr gleich starke linke und rechte Lager gespalten. In den letzten Jahren hat sich allerdings eine ausgeprägte Ver­schiebung nach Rechts ereignet. Auch im Kontrast zwischen säkularen und praktizierend-religiösen Juden führt die demographische Entwicklung zu einer deutlich stärker werden­den Dominanz der letzteren.

Es kann aber von einer oder der „israelischen Sicht“ pauschal keine Rede sein. Die bei uns oft vorgegebene Position, „an der Seite Israels“ zu stehen, „ohne Wenn und Aber“, fordert de facto häufig eine Unterstützung des rechts und rechtsextrem geprägten, israelischen Regierungsnarrativs ein und geht an der Vielstimmigkeit israelischer Realität vorbei. Diese Vielstimmigkeit ist im Land selbst sehr viel deutlicher ausgeprägt und wahrnehmbar, als das im deutschen Diskurs zur Sprache gebracht wird. Erst recht kann von einer oder der „jüdischen Sicht“ natürlich keine Rede sein. Jüdische Religionsgemeinden (in Deutschland oft als „Israeli­tische [NICHT: israelische!] Kultusgemeinden“ bezeichnet) in der Diaspora neigen traditionell eher dazu, mehr die rechts gerichtete Politik Israels zu unterstützen oder sie zumindest nach außen zu rechtfertigen; dies darf jedoch keineswegs verallgemeinert werden. Jüdische Positionen zu Israel können sehr weit divergieren. Auch eine Ablehnung des Zionismus, somit des jüdischen Staates, wird von bestimmten Gruppen jüdisch-religiös begründet, was aber vom Mainstream als marginal und extremistisch bewertet wird.

Schließlich muss betont werden, dass auf der israelischen wie auf der palästinensischen Seite, und von deren Unterstützern, jeweils die Narrative der Gegen­seite oft verschwiegen, entwertet oder offen angegriffen werden. Das beginnt bereits damit, dass sowohl jüdischen Israelis wie auch Palästinensern die eigene Identität als Volk ab­gesprochen wird, sie somit jeweils auch kein Anrecht auf einen eigenen Staat hätten. Es erstreckt sich über die je­weilige Aufrechnung, welche Seite als „Täter“ (-die andere Seite-) und welche als „Opfer“ (-die eigene Seite-) in diesem Konflikt zu gelten habe. Jede Form von Hinterfragung wird vehement als Angriff von außen oder, von innen kommend, als Verrat behandelt. Solche Positionierungen sind klassische Merkmale der KONFLIKT-Seite, egal von wem und gegen wen sie ausgehen.


Keine Symmetrie

Dennoch liegt im Israel-Palästina-Konflikt keine symmetrische Konstellation vor.

Unabhängig von der jeweils vertretenen religiösen und/oder ethnischen Definition von Judentum hat niemand sonst, historisch betrachtet, eine vergleichbare Grunderfahrung von Anfeindung, Ausgrenzung und Verfolgung erleben müssen, wie jüdische Menschen. Sie gipfeln in einer Zeit, die heute noch lebende Menschen bezeugen. Die von Deutschen (und Verbündeten) begangenen Verbrechen des Holocaust, der Schoah, sind objektiv und unbestreitbar singulär und mit keinem anderen Menschheitsverbrechen vergleichbar. Das Selbstverständnis des Staates Israel wird davon niemals zu lösen sein. Seit Bestehen dieses Staates wird seine Existenz angefeindet, und zum Alltag von Israelis gehört seit 75 Jahren die Bedrohung durch jederzeit und überall drohenden Terror. In Deutschland wird zwar viel Solidarität, aber auch anhaltender und sogar wachsender Antisemitismus als reale Be­drohung wahrgenommen. Wer nicht selbst an diesem Erbe und dieser Lebenswirklichkeit partizipiert, sollte das bedenken, wenn er daraus resultierendes Verhalten verurteilt.

Palästinenser und Palästinenserinnen werden seit 75 Jahren entrechtet. Sie leben teilweise als Flüchtlinge, teilweise unter Besatzung oder Blockade und de facto Diskriminierung, er­leben unberechenbare Gewalt von Soldaten und radikalen Siedlern. Sie werden, beson­ders in Deutschland, mit dem Antisemitismus-Vorwurf konfrontiert, wenn ihre Erfahrungen zur Sprache gebracht werden und empfinden die deutsche Politik, Medien­bericht­erstattung und gesellschaftliche Debatte als sehr stark einseitig pro-israelisch. Auch wer an ihrer Lebenswirklichkeit nicht selbst partizipiert, sollte das bedenken, wenn er daraus resul­tierendes Verhalten verurteilt.

2.  Dieser Konflikt ist, seinem Wesen nach, kein Religionskonflikt.

Häufig wird behauptet, oder unhinterfragt in den Raum gestellt, dass im Nahen Osten „schon immer“ Kriege das Geschehen bestimmt hätten und dass sich dies in Israel/ Palästina speziell aus einem in Bibel und Koran begründeten, archetypischen Urkonflikt zwischen Juden und Arabern bzw. Muslimen speisen würde. Schon seit Abrahams Zeit gäbe es Streit zwischen dessen beiden Söhnen Isaak, dem Stammvater der Juden, und Ismael, dem Stammvater der Araber.

Diese Darstellung ist in allen Komponenten falsch. Wer sie verbreitet, befördert damit die Vorstellung, dass der Konflikt im Grunde nicht lösbar sei – und damit die mutwillig-fatale Position, dass die jeweils eigene Seite die nicht auflösbare Bedrohung durch die andere Seite nur durch fortgesetzte Gewalt bezwingen könne.

Historisch gesehen wurden in (Zentral-)Europa Jahrhunderte lang sehr viel mehr Kriege aus­getragen, als im Nahen Osten. Dennoch ist es gelungen, eine Friedenslösung für Europa zu etablieren, wenn diese auch, wie sich zeigt, nach wie vor verteidigt und immer wieder neu einge­fordert werden muss.

Weder in der Bibel noch im Koran ist von einem Urkonflikt zwischen den Söhnen Abrahams die Rede. Auch sonst lässt sich dort nirgends ein zwingend vorgegebener Kon­flikt ableiten. Dies würde dem Wesen beider heiliger Schriften auch vom Grundsatz her widersprechen. Historisch betrachtet, gestaltet sich das Verhältnis zwischen Muslimen und Juden sehr viel weniger konfliktreich, als das zwischen Christen und Muslimen oder das zwischen Christen und Juden. Auch unter islamischer Herrschaft waren Juden Verfolgungen ausgesetzt, insgesamt jedoch in sehr viel geringerem Ausmaß, als unter christlicher Herr­schaft.

Religionsvergleichend betrachtet stehen sich das Judentum und der Islam besonders nahe. Das Christentum wird zwar mit recht als Tochter- (oder manchmal als Schwester-)Religion des Judentums beschrieben. Doch sind die zentralsten Glaubensinhalte des Christentums von Trinität und der Göttlichkeit Jesu mit dem Judentum (und mit dem Islam ebenso) un­ver­einbar. Zwischen Judentum und Islam bestehen keine vergleichbaren Unvereinbar­keiten. Enge Gemeinsamkeiten lassen sich auch in der Lebenspraxis frommer Gläubiger dieser beiden Religionen konstatieren.

Dennoch ist überdeutlich, dass der Israel-Palästina-Konflikt sehr stark von religiös be­gründeten Positionen befeuert wird. Während bis etwa in die 1980er Jahre auf beiden Seiten religionsferne säkulare, teilweise sogar religionsfeindliche Strömungen die Aus­ein­andersetzungen bestimmten (sozialistisch motivierte Kibbuzbewegung und linke Parteien hier; linksradikal ausgerichtete und von der Sowjetunion unterstützte „Befreiungs­bewe­gungen“ dort), dominieren inzwischen auf beiden Seiten Faktoren, die als (religiös-) „jüdisch“ oder als „islamisch“ ausgegeben und von ihren jeweiligen Anhängern auch so verinnerlicht werden.

Der ursprünglich a-religiöse, politische Konflikt zweier Völker um ein und dasselbe Land (siehe oben) hat die religiösen Fundamentalismen auf beiden Seiten weiter genährt und be­fördert, und diese befeuern ihrerseits, sehr heftig, den politischen Konflikt. Normale, also nicht fundamentalistisch orientierte Gläubige sehen das als Missbrauch von Religion/en.

3.  Jeder Konflikt ist überwindbar, auch dieser.

Da es sich beim Israel-Palästina-Konflikt eben nicht um einen archetypischen oder, seinem Wesen nach, religiös begründeten Konflikt handelt, ist er natürlich lösbar. Er ist, wie alle politischen Konflikte, zu einer bestimmten Zeit entstanden (siehe oben), nimmt wechselnde Dynamiken an und wird eines Tages überwunden sein. Angesichts der aktu­ellen Entwick­lungen mag diese Wahrheit nachgerade surreal erscheinen – sie darf aber nie aus dem Blickfeld geraten!

Richtig ist, dass von arabischen Seiten schon 1948 (mit dramatischen Folgen) und seitdem wieder und wieder mögliche Optionen für eine Lösung des Konflikts verweigert und aktiv verhindert wurden. Bisweilen wurden auch Optionen eingebracht (so z.B. 1977 durch den ägyptischen Präsidenten Sadat und 2002 durch die Arabische Liga). Der Terror palästinen­sischer Organisationen und einzelner hat i.d.R. dazu geführt, dass das Leid der eigenen, palästinensischen Bevölkerung immer weiter zugenommen hat. In der Selbstwahrnehmung wird dabei das völkerrechtlich verbriefte Recht auf Widerstand reklamiert. Thematisiert werden müssen aber die Mittel des Widerstands, und ein „Recht auf Terror“ steht nieman­dem zu, unter keinen Umständen. (Dass auch zivile, gewaltfreie Wege des Widerstands, wie die sog. „BDS“-Kampagne sie beansprucht, delegitimiert werden, hat vor diesem Hintergrund fatale Auswirkungen – wiewohl es berechtigte Gründe gibt, „BDS“ abzu­lehnen.)

Richtig ist auch, dass die israelische Politik seit nunmehr etlichen Jahren aktiv die Lösung des Konflikts behindert, was den eigentlichen Kern des Konflikts betrifft: eine gerechte Lösung für die Palästinenser als Voraussetzung für dauerhaften Frieden für Israel. Statt­dessen hat Premierminister Netanjahu, im Verbund mit US-Präsident Trump, mit mehreren arabischen Staaten Abkommen geschlossen (die sog. „Abraham Accords“) und die von vielen Wählern goutierte Botschaft vermittelt, dass sich Israel auf immer mehr Akzeptanz in der Region zubewege, ohne die Situation der Palästinenser auch nur zu thematisieren.

Seit dem 7. Oktober wird nun von der israelischen Regierung nachdrücklich eingefordert, dass dieser Kontext, der – von beiden Richtungen aus! – in die beispiellosen Terrorver­brechen der Hamas gemündet hat, ausgeblendet werden solle. Dass auch bei uns in Deutschland diese Position weitergereicht und teilweise sogar vorgegeben wird – wonach Fragen nach dem Kontext nicht angerührt werden dürften, andernfalls damit Ver­ständnis für den Terror signalisiert werden würde – ist Unterstützung für die KONFLIKT-Seite. Jede LÖSUNGs-Orientierung setzt immer, unter allen Umständen, bei einer ehrlichen und glaubwürdigen Auseinandersetzung mit dem Kontext des Konfliktes an.

Umgekehrt darf ja auch der israelische Krieg gegen Gaza, der in unvorstellbarem Ausmaß neues, anhaltendes Leid für Palästinenser verursacht, auf keinen Fall aus seinem Kontext losgelöst beurteilt werden. Unabhängig von der kontrovers diskutierten Frage, ob hier ein neuer Genozid verübt wird oder nicht, muss ausgesprochen werden, dass „Hamas“ diese Reaktion Israels vorhergesehen hat und alles, was jetzt geschieht, genau so gewollt hat und weiterhin will.

Wann und auf welche Weise der Konflikt also eines Tages gelöst werden wird, kann aktuell niemand vorhersagen. Immerhin darf daran erinnert werden, dass besondere Krisen­situ­a­ti­onen bisweilen dazu beitragen, festgefahrene Konstellationen aufzubrechen und, im gün­sti­gen Fall, konstruktiven Entwicklungen den Weg zu bahnen.

Die von vielen Faktoren, vor allem auf internationaler Bühne, favorisierte Zwei-Staaten-Lösung müsste nach wie vor als dringend umzusetzender, nächster Schritt unterstützt und auch gegen Widerstände eingefordert werden. Der häufig vorgebrachte Einwand, dass wegen der gezielten Zersiedelung der Westbank diese Option nicht mehr realisierbar sei, trifft nicht zu. Es sollte grundsätzlich denkbar sein, dass in einem Staat Palästina auch jüdische Menschen leben, ebenso wie im Staat Israel ja auch Nichtjuden leben. Es gibt aus jüdischer und aus islamischer Sicht keine religiös bedingten Vorbehalte dagegen, als Minderheit in einem säkular oder anders geprägten System zu leben, solange keine Entrechtung stattfindet und die Religionsausübung uneingeschränkt gewährleistet wird.

Dennoch ist zu bezweifeln, dass zwei Staaten bereits die Lösung des Konflikts bedeuten werden. Sie wären aber die Voraussetzung, um eine tragfähige, dauerhafte Lösung ernst­haft anzugehen: durch zwei Konfliktparteien auf Augenhöhe. Neue, kreative Modelle, die die im Grunde bereits überkommene, historische Epoche der Nationalstaaten womöglich transzendieren, mögen dann – vielleicht – in der Wirklichkeit an Boden ge­winnen.

Ob Ein-, Zwei-, oder Mehrstaatenlösung, Kantone oder Föderation – an denkbaren Optionen mangelt es nicht. Es mangelt, offenbar, an der nötigen Bereitschaft. Sicher ist indes, dass drei Szenarien nicht als mögliche Lösungen in Betracht kommen können:

1. Die Hoffnung vieler Palästinenser und weltweiter Unterstützer auf eine Beseitigung des jüdischen Staates hat sich in 75 Jahren als tragische Selbsttäuschung erwiesen. Sie wird sich weder in naher noch in ferner Zukunft erfüllen. Denn anders, als in der Zeit der Kreuzzüge oder des Kolonialismus, ist der jüdische Staat im Land Israel nicht fremd, sondern zuhause.

2. Die Hoffnung vieler (jüdischer) Israelis und weltweiter Unterstützer auf einen jüdischen Staat, der geschlossen vom Mittelmeer bis zum Jordan (oder gar darüber hinaus) reicht, ist eine gefährliche Illusion, die Menschenleben kostet und fortgesetzt Leid verursacht. Anders als KONFLIKT-orientierte Interpretationen der Geschichte suggerieren wollen, sind die Palästinenser in Palästina nicht fremd, sondern zuhause.

3. Die Fortsetzung des derzeitigen Status quo kann keine legitime Perspektive sein. Er hat in die unfassbare Katastrophe des 7. Oktober und in den andauernden Gazakrieg von beispiellosem Ausmaß geführt und muss, ohne weitere Verzögerungen, durch belastbare Perspektiven abgelöst werden.

4.  Wir können den Konflikt von München aus nicht lösen. Aber wir müssen in München ein friedliches und wertschätzendes Miteinander verwirklichen.

Zum Glück ist es niemandes Aufgabe in München oder Deutschland, das richtige Modell zur Lösung des Israel-Palästina-Konfliktes vorzugeben. Dieser Konflikt wirkt sich aber – nicht erst seit dem 7. Oktober 2023 – weltweit aus und beeinflusst auch ganz konkret unser Zusammenleben. Aktuell ist dies besonders deutlich spürbar. Juden nehmen zu­nehmenden Antisemitismus in bedrohlichem Ausmaß war. Muslime leiden unter dem Generalverdacht, Terror zu unterstützen oder zu billigen, solange sie sich nicht ausdrück­lich davon distanzieren.

In München wurde die Problematik durch eine Reihe von Vorkommnissen zusätzlich be­lastet. So kündigte OB Reiter bei einer Solidaritätskund­gebung für Israel am St.-Jakobs-Platz am 12.10. an, „pro-palästinensische Demonstrationen“ zu verbieten. Auch wenn die Absicht dahinter sicherlich darin bestanden haben dürfte, extremistische Meinungs­äuße­rungen in der Öffentlichkeit zu unterbinden, implizierte die Äußerung, dass die Entrechtung der Palästinenser und ihre Opfer im Gazakrieg öffentlich totgeschwiegen werden müssten. Dies scheinen die wiederholten Aufrufe zur Solidarität mit Israel „ohne Wenn und Aber“, und unter vorgegebener Verleugnung des Kontextes, zu bestätigen. – Während prominente Münchner Imame sehr rasch und entschieden den Terror von „Hamas“ verurteilten, intern in den Moscheen genauso wie nach außen, wurde und wird weiterhin in den Raum ge­stellt, „die Muslime“ würden sich nicht oder nicht ausreichend distanzieren. – Muslime in München regten von sich aus ein gemeinsames, öffentliches Gebet auf dem Marienplatz zusammen mit jüdischen und christlichen Religionsgemeinschaften an, wurden aber selbst damit extremistischer Gesinnung bezichtigt, sodass das Gebet, das unter Schirmherrschaft des OB gestanden hätte, abgesagt wurde. Die Erschütterung und damit der Schaden für den gesamtgesellschaftlichen Frieden ist enorm. – Kardinal Marx hat in einem Interview für das Magazin „Focus“ in der Weihnachtszeit seine Kritik an der Gewaltbefürwortung islami­scher Autoritäten mit der Forderung „Stoppt diese Religion!“ verbunden, was die Grenze zwischen Kritik am Missbrauch von Religion und islamfeindlicher Hetze klar überschreiten würde. Er hat intern auf Anfrage klargestellt, dass er das so nicht verstanden haben möchte, aber (noch) nicht öffentlich oder gegenüber Muslimen. – Solche Beispiele ließen sich fortsetzen, und zweifellos ließen sich aktuell auch zahlreiche bedrückende Erfahrungen für Juden anführen.

Die gebotene Konsequenz kann nur sein, dass Gespräche zwischen den Religionsgemein­schaften nicht abgebrochen werden, sondern intensiviert werden. Zuhören ohne Vorbedingung wäre erforderlich, und das Aushalten von Positionen, die nicht den eigenen entsprechen. Gemeinsame Veranstaltungen, durchaus nicht nur im interreligiösen Dialog, sondern besonders auch im Kulturbereich, dürfen nicht verweigert werden, sondern müssen gefördert werden.

Institutionen, die dabei eine unterstützende und vermittelnde Rolle spielen können, wie z.B. seitens der Stadtverwaltung, der Kirchen, auch der Medien, sind gefordert, auch selbst fundierte Positionen zu vertreten – nämlich im Sinne der oben beschriebenen LÖSUNGs-Seite und gegen die KONFLIKT-Seite. Beratung sollten sie dort suchen, wo diese auf glaubwürdiger Kompetenz für beide Seiten des Israel-Palästina-Konflikts beruht. Das ist nicht einfach zu finden. Wenn stattdessen Informationen von Gruppierungen oder von Einzelnen angenommen werden, die entweder der israelischen oder der palästinensischen Seite näher stehen, dann sind komplementär Informationen von der jeweiligen „Gegen­seite“ einzuholen, da sonst zwangsläufig eine Schieflage entsteht. Leider ist genau dies in München besonders deutlich zu beobachten. Die bloße Zugehörigkeit zu einer Religions­gemeinschaft generiert jedenfalls nicht per se Kompetenz für den Israel-Palästina-Konflikt.

Für alle, unabhängig von der religiösen oder politischen Orientierung, muss als Grund­forderung gelten, dass Menschlichkeit nicht teilbar ist, somit nicht nach Zugehörigkeit bemessen, eingefordert oder versagt werden darf. Wir alle dürfen nicht zulassen, dass menschliches Leid der einen Seite weniger wahrgenommen oder geringer gewertet wird, als das der anderen Seite. Und wir dürfen niemals mehr zulassen, dass sich jüdische Menschen in München, in Deutschland, von Antisemitismus bedroht fühlen müssen.

5.  Kritik an Israel ist nicht per se antisemitisch; sie ist aber häufiger anti­semitisch, als die Kritiker oft meinen. 

Zur oben schon festgestellten Asymmetrie der Konstellation, um die es hier geht, gehört, sehr dezidiert, auch, dass Deutschland keine neutrale Position in der Mitte des Israel-Palästina-Konflikts einnehmen kann. Die historische Ursache hierfür ist bekannt, und hier ist nicht der Platz sie aufzurollen. Es muss vorausgesetzt werden: Für alle, die Deutschland als Land ihrer Zukunft und der Zukunft ihrer Kinder sehen, muss die aufrichtige Ausein­ander­setzung mit der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert und die Verantwortung, die sich daraus ergibt, zur kulturellen DNA gehören. Das gilt unabhängig davon, wo man selbst oder frühere Generationen geboren wurden. Wer sich dem ver­weigert oder es nicht versteht, kann in Deutschland nicht „angekommen“ sein; er/sie hat nicht einmal verstan­den, was Deutschland ist. 

Der Begriff „Antisemitismus“ wird konventionell für gegen jüdische Menschen gerichtete Menschenfeindlichkeit gebraucht. (Die Beobachtung, dass der ohnehin überkommene und fragwürdige Begriff „Semiten“ ja z.B. auch Araber umfasst, ist natürlich richtig, ändert aber nichts an der etablierten Verwendung des Begriffs.) Im weitest möglichen Sinn kann unter Antisemitismus verstanden werden, wenn jüdische Menschen danach bewertet werden, dass sie jüdisch sind.

Vor dem Hintergrund des Israel-Palästina-Konflikts hat der Antisemitismus weltweit und in Deutschland eine neue Komponente angenommen. Dass die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina bei der angestammten Bevölkerung Widerstände und damit Feind­seligkeit gegen Juden generiert hat, ist zunächst nachvollziehbar. Die seitdem andauernde Entrechtung der Palästinenser und ihr fortgesetztes Leid befeuern diese Haltungen; auch das ist leider begreiflich. Dabei wird schon im Sprachgebrauch, und somit im Denken, häufig nicht unterschieden zwischen Zionismus, dem Staat Israel oder „den Juden“, die, arabisch al-Yahûd, als „Gegner“ ausgemacht werden. Jene, die dem „Staat Israel“ das Existenzrecht absprechen, sprechen stattdessen vom sog. „zionistischen Gebilde“.

Die Grenze zwischen Kritik am Staat Israel und Antisemitismus zu definieren, ist eine Herausforderung, an der besonders in Deutschland, und München, viele scheitern.
Auf der einen Seite ist oft zu hören, man habe „nichts gegen Juden“, sondern sei „nur“ gegen den Zionismus, gegen Israel. Auf der anderen Seite wird angegeben, Kritik an der israelischen Politik sei „selbstverständlich legitim“, de facto werden aber in München seit Jahren Versuche, die Perspektive der Palästinenser sichtbar zu machen, a priori unter Antisemitis­musverdacht gestellt (sogar auch dann, wenn es jüdische Israelis sind, die sich darum bemühen!).

Obwohl die entsprechende Praxis der Landeshauptstadt München durch alle gerichtlichen Instanzen als unzulässige Einschränkung der Meinungsfreiheit verurteilt wurde, hält der Stadtrat an einer Entscheidung von 2017, die diesen Missstand begründet, fest. Im Mittel­punkt steht dabei die Arbeitsdefinition von Antisemitismus der „IHRA“ (International Holocaust Remembrance Alliance), die Spielraum für Interpretationen offenlässt. Demnach kann eine grundsätzliche Ablehnung des jüdischen Staates als antisemitisch bezeichnet werden. Gängige Praxis in München (und Deutschland) ist dagegen, jede Position, die bei entsprechender Interpretation direkt oder indirekt die Existenz des Staates Israel infrage stellen könnte, als „antisemitisch“ einzustufen und solche Meinungsäußerungen präventiv zu unterbinden.

Die Existenz des Staates Israel infrage zu stellen, widerspricht tatsächlich der deutschen Staatsräson (wobei der Begriff juristisch nicht definiert ist) und ist vor der Verantwortung aus der deutschen Geschichte menschlich abstoßend und sollte gesamtgesellschaftlich geächtet sein. Es kann jedoch sehr unterschiedliche Gründe haben, weshalb jemand den jüdischen Staat ablehnt, und diese sind nicht zwingend antisemitisch. Antisemitisch ist natürlich, wenn man Juden keinen eigenen Staat zugestehen wollte, weil man Juden nicht mag. Antisemitisch ist, wenn man einen solchen Staat deshalb ablehnt, weil er sich als jüdisch versteht. Es gibt aber (extreme) jüdische Strömungen, die aus jüdisch-religiöser Interpretation den Staat Israel ablehnen – sie können nicht antisemitisch sein. Die vorge­gebene Gleichung Antizionismus sei zwingend antisemitisch, ist logisch falsch. Es gibt zunehmend viele Denkrichtungen, die einen ethnisch einseitig definierten Staat ablehnen, weil sie in einem multiethnischen, demokratischen Staat eine Perspektive zur Lösung des Konflikts sehen wollen. Ihre Motivation ist von daher nicht antisemitisch. Und schließlich ist verständlich, dass die angestammte Bevölkerung eines Landes nicht einverstanden ist, wenn in dem Land, das sie als das ihre betrachten, ein anderer Staat gegründet wird und sich mit militärischer Gewalt behauptet. Wäre der Staat, der in Palästina gegründet wurde, kein jüdischer, dann würde sich der Zorn der Palästinenser offenkundig nicht gegen Juden richten. Er ist somit nicht per se antisemitisch motiviert.

Antisemitismus ist – nicht per se, aber de facto – in grauenhaftem Ausmaß Zündstoff für Hass, Gewalt und Terror von Palästinensern gegen Israel, und von da aus auch von Muslimen und anderen gegen Juden in Deutschland und weltweit. Deren Ursache aber ist ihre anhaltende Entrechtung, die Demütigung und Gewalt, die sie seit Generationen erleben. Wer aber die Ursache nicht benennt, befeuert den Konflikt – und damit den Antisemitismus. Das ist vielen Menschen offenbar bewusster, als denen, die fortgesetzt beklagen, dass Aufrufe zu Solidaritätskundgebungen mit Israel nicht den erwarteten Zuspruch erhalten, und dass Jüdinnen und Juden in ihrer Trauer und ihrer Sorge vor bedrohlich gewachsenem Anti­semitismus von der Breite der Gesellschaft allein gelassen werden würden.

Global gesehen gelten teilweise ganz andere Sichtweisen, als in Deutschland, als „richtig“, als „ethisch“ und als Konsens. Der Staat Israel wird in weiten Teilen der Welt abgelehnt, weil er als Ursache für das anhaltende Leid der Palästinenser ausgemacht wird. In der arabischen und islamischen Welt – aber durchaus nicht nur dort – gilt es als unakzeptabel und skandalös, wenn deren Leid gegen die Verbrechen der deutschen Geschichte auf­gerechnet wird. Diese Positionen sind menschlich-solidarisch motiviert und nicht per se antisemitisch. Wir können (und sollten!) sie für falsch halten, aber wir müssen akzeptieren, dass sie existieren und sehr weit verbreitet sind.

In der Konsequenz gehen nun tatsächlich antisemitische Einstellungen mit der Ablehnung Israels einher, und das in teilweise so extremem Ausmaß, dass sie von den legitimen und berechtigten Anliegen kaum noch abgesondert werden können. Schon ab dem 19. Jahr­hundert wurden massiv antisemitische Stereotypen von Europa aus in die Länder des Osmanischen Reiches, in arabische und islamische Gesellschaften „exportiert“. Mit Beginn des Israel-Palästina-Konflikts (also schon vor der Staatsgründung Israels) wurden sie dort propagiert. Bis heute sind Positionen, die in Deutschland berechtigtes Entsetzen und Ab­scheu hervorrufen, in arabischen Ländern (aber z.T. auch in der Türkei) gesellschaftlich akzeptabel und sogar teilweise Konsens (z.B. Bewunderung für Hitler). Antisemitische Stereotypen sind in der Kindererziehung, in der Schule, in den Medien und natürlich in der Politik präsent und werden selten hinterfragt (z.B. grundsätzlich negativer Einfluss von Juden). Solche Positionen sind im Zuge der modernen Migrationsbewegung hierher „zurück­migriert“ und gehen (wie schon in den 1930er Jahren) eine sehr unheilvolle Verbindung mit dem rechten, und mehr noch mit dem latenten Antisemitismus in der gesellschaftlichen Breite ein. 

Um dies zu bekämpfen, muss als Grundvoraussetzung differenziert werden, wo Anti­semitismus wirklich vorliegt und wo nicht. Die aktuelle Praxis in München erweist sich hier in verheerender Weise als kontraproduktiv! Der Antisemitismus-Vorwurf wiegt in Deutsch­land enorm schwer – zumindest war das und sollte es der Fall sein. Er wird aber in der Debatte der letzten Jahre, und ganz aktuell, in fahrlässiger und zum Teil mutwilliger Weise entwertet, zum Schaden von uns allen.

Die 2021 vorgestellte „Jerusalem Declaration on Antisemitism“ bietet für die nötige Differenzierung eine geeignete Hilfestellung. Sie versteht sich als wichtige Korrektur, als Verbesserung der IHRA-Arbeitsdefinition. Von Vertretern israelischer Politik wird sie irreführend als gegen die IHRA gerichtet dargestellt, weil sie den politischen Missbrauch des Antisemitismus benennt ihm einen wirksamen Riegel vorschieben könnte, wenn sie allgemein anerkannt würde.

Wird die palästinensische Perspektive des Konflikts pauschal mit dem Antisemitismus-vorwurf unterdrückt, dann jubeln echte Antisemiten, egal welcher Herkunft. Genau das ist derzeit der Fall; das darf so nicht weiter geduldet werden.

Wenn aktuell Schlagworte wie „Apartheid“ und sogar „Genozid“ eingesetzt werden, dann mag das juristisch und objektiv fragwürdig oder falsch sein. Wahr ist aber, dass das Ge­schehen von Betroffenen eben so empfunden wird. Solche Wahrnehmungen lassen sich nicht verbieten, und was zum Schweigen gebracht und verdrängt wird, wird nicht behan­delt und nicht geheilt. Wer als Palästinenser den jüdischen Staat ablehnt, weil der im Land seiner Heimat und auf Kosten seines Volkes gegründet wurde, dann ist er damit, per se, (noch) kein Antisemit. Wir in Deutschland müssten alles versuchen, um seine Wahr­neh­mung auch auf die Perspektiven der „anderen“ Seite auszuweiten. So wie die Wahrneh­mung der „anderen“ Seite auf die Perspektiven der Palästinenser ausgeweitet werden muss – anstatt diese als „antisemitisch“ abzustempeln und davon fernzuhalten.

Was also tun ?

Differenzieren!

Schubladendenken kann der Komplexität der Gemengelage, bestehend aus dem Ge­schehen in Nahost und gesellschaftlichen Prozessen in Deutschland, nicht gerecht werden. Wertungen anhand festgelegter „Labels“ laufen Gefahr zu stigmatisieren und sind dann nahezu immer kontraproduktiv. Beispiele für solche, aus Schubladen gezogene „Labels“, die in München vergeben werden und dann zum Ausschluss der Betroffenen nicht nur von Förderung, sondern aus dem gesellschaftlichen Diskurs und somit zum gezielten „Silencing“ der damit verbundenen Stimmen führen, sind: - eine wie auch immer kon­sta­tier­te „Nähe“ zur sog. „BDS“-Bewegung; - wie auch immer geartete „Kontakte“ zu als extremistisch eingestuften Strömungen (z.B. „Muslimbrüder“); - Motive, die pauschal als „antisemitisch“ klassifiziert werden, wie z.B. der Slogan „From the River to the Sea“, ohne zu beachten, was mit dem Slogan in einer konkreten Situation ausgesagt werden soll und was nicht; - das Nicht-Einbringen bestimmter verbaler Standardformulierungen, die selektiv von Muslimen eingefordert werden, während sie von anderen als selbstverständlich voraus­gesetzt werden, wie z.B. eine Distanzierung von „Hamas“ und ein Bekenntnis zum Existenzrecht des Staates Israel.

Die Methode, als problematisch verdächtigte Strömungen auch dann, wenn im konkreten Fall keinerlei problematisches Verhalten erkennbar ist, präventiv auszuschließen, und ihr konstruktives und konformes Verhalten als Versuch zu brandmarken, sich in den legitimen Diskurs gesellschaftlich „einzuschleichen“, steht, wo sie nicht juristisch begründet ist, in Widerspruch zu den Prinzipien des Rechtsstaates und der freien Meinungsäußerung.

Solches Vorgehen erweist sich seit Jahren in München als kontraproduktiv. Es hat den Antisemitismus nicht eingedämmt, sondern verbreitet. Dem kann nur effektiv entgegen­gewirkt werden, wenn grundsätzlich und in jedem Zusammenhang differenziert wird, wer sich tatsächlich einbringt und welche Positionen konkret vertreten werden und welche Zusammenhänge für den jeweiligen Fall keine Rolle spielen. Kontextualisierung ist Grund­voraussetzung für jede ehrliche und konstruktive Auseinandersetzung mit jeder, und ganz besonders mit dieser Thematik.


Zuhören!

Wie in jeder, und ganz besonders in dieser Konfliktsituation gilt, dass alle, die darin direkt oder indirekt involviert sind oder sich angesprochen fühlen, das Recht haben, in ihrer je eigenen Sichtweise angehört zu werden und ernstgenommen zu werden – solange nicht gegen Rechtsgrundsätze verstoßen wird (wie das z.B. bei Leugnung der Schoah der Fall wäre).

Jüdinnen und Juden nehmen seit dem 7. Oktober eine Bedrohung durch zunehmenden Antisemitismus wahr. Diese Wahrnehmung muss ungehindert geäußert und von der ge­samten Gesellschaft ernst genommen werden. Jüdische Menschen haben in Deutschland einen Anspruch auf vorbehaltlose Solidarisierung und darauf, dass die gesamte Gesell­schaft hier dem, was sie als Bedrohung wahrnehmen, wirksam entgegenwirkt. (Diese Hand­reichung versteht sich als Beitrag dazu.) Mit verbalen Bekundungen ist es nicht getan.

Ebenso haben Menschen – seien sie Palästinenser oder nicht – einen legitimen Anspruch darauf, dass das Leid der Palästinenser in Gaza (und darüber hinaus) benannt und von der gesamten Gesellschaft hier wahrgenommen und ernstgenommen wird. Seit dem 7. Oktober ist in Deutschland massiv der Eindruck entstanden, dass menschliches Leid hier sehr stark selektiv bewertet wird. Unabhängig davon, wie real oder nicht dieser Eindruck die Wirklichkeit beschreibt, wirkt sich der Eindruck als solcher in fataler Weise aus, denn ein gesamtgesellschaftlicher Zusammenhalt ist unter diesen Umständen nicht zu erhalten oder zu erreichen. Dem muss entschlossen und wirksam entgegengesteuert werden!


Konfrontieren!

Zuhören ist im gegebenen Kontext gerade dann nötig und wertvoll, wenn das Gehörte nicht der eigenen Sichtweise entspricht. Alle Beteiligten müssen aushalten, dass andere Sichtweisen zur Sprache gebracht werden.

Wer mit Palästinensern sympathisiert, muss aushalten, dass andere Menschen einseitig Israel verteidigen, auch dann, wenn dabei das Leid von Palästinensern entschuldigt („Die Palästinenser sind doch selbst schuld!“) oder verharmlost oder sogar geleugnet wird.
Das ist schwer auszuhalten – es muss aber im Rechtsstaat hingenommen und sogar grund­sätzlich verteidigt werden. Andere müssen aushalten, wenn einseitig pro-palästinensische Perspektiven geäußert werden. Auch wenn dabei umstrittene Motive („In Gaza geschehen Kriegsverbrechen bis hin zum Genozid“!, „In Israel herrscht Apartheid!“) zur Sprache kommen – wer dies so wahrnimmt, muss in seiner Sorge und Verzweiflung ernst ge­nommen werden. Auch das muss im Rechtsstaat hingenommen und grundsätzlich ver­teidigt werden. Stattdessen werden aber entsprechende Äußerungen im Diskurs geächtet und teilweise sogar verboten! Dadurch wird das entsprechende Denken nicht konfrontiert, sondern aus der gesellschaftlichen Wahrnehmung verdrängt. Das Problem wird dadurch genährt, Antisemitismus wird so nicht bekämpft, sondern produziert.

Wer bedenkliche Positionen verdrängt, anstatt sich damit auseinanderzusetzen, macht sich zum Teil des Problems. Was uns nicht akzeptabel erscheint, auch das, was wir als objektiv falsch beurteilen, selbst Dinge, die uns unerträglich sind, müssen aufgedeckt, ange­sprochen und sorgsam debattiert werden. Nur so kann verhindert werden, dass sich Meinungen, die wir in Deutschland nicht dulden wollen, immer weiter ausbreiten. Nur wenn wir sie offen konfrontieren und Irrtümer, Fake News oder Hetze widerlegen, können wir solche sozialen Krankheitsbilder behandeln. Es lässt sich beispielsweise unschwer darstellen, worin sich die aus Südafrika hergeleitete „Apartheid“ von dem unterscheidet, was Palästinenser in Israel erleiden. Wer aber die Verwendung des Begriffs schlicht aus der Debatte verbannt, trägt de facto zu seiner unhinterfragten Verbreitung bei. Es ließe sich offen und aufrichtig diskutieren, welche Verhältnisse denn „zwischen dem Fluss Jordan und dem Mittelmeer“ wünschenswert sein könnten – anstatt präventiv eine Formulierung zu verbieten, weil eine von mehreren möglichen Interpretationen damit intendiert sein kann. Dadurch wurde dem Slogan in den Sozialen Medien aktuell zu Hochkonjunktur verholfen.


Grenzen setzen!

Was im Diskurs angesprochen werden kann um ggf. aufgearbeitet zu werden, stößt selbstverständlich an Grenzen. Durch einen unbedacht definierten Antisemitismusbegriff werden diese Grenzen bisher so eng gezogen, dass Antisemitismus de facto geschürt, anstatt bekämpft wird. Wenn darauf geachtet wird, dass nicht der Eindruck entstehen kann, der Antisemitismusvorwurf könne missbraucht werden, um die Politik Israels vor berech­tigter Kritik zu schützen, oder berechtigte palästinensische Stimmen zu verschweigen, dann stellt Antisemitismus eine Grenze dar, die in Deutschland für alle zu gelten hat und von allen geschützt werden muss. Wer in Deutschland lebt, muss akzeptieren, dass Hass gegen jüdische Menschen keinen Anspruch darauf hat, Gehör zu finden oder debattiert zu werden. Echter Antisemitismus kommt in der Mehrheits­gesellschaft und in migrantischen Gemeinschaften vor und sollte gleichermaßen aufgedeckt, geächtet und bekämpft werden.

Auch Islamfeindlichkeit und andere Formen von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit überschreiten die Grenzen des Legitimen. Islamfeindliches Denken liegt vor, wenn zwischen Kritik am Missbrauch der Religion, etwa durch Terror und sog. Fundamentalisten, aber auch durch führende Politiker bestimmter Länder, und der Religion selbst nicht unterschie­den wird. Islamfeindlichkeit ist in der Mehrheitsgesellschaft erheblich weiter verbreitet als Antisemi­tismus, und kommt freilich auch in jüdischen Gemeinschaften vor. Sie sollte über­all gleichermaßen aufgedeckt, geächtet und bekämpft werden – so wie andere Formen von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit auch.

In Deutschland sind wir in besonderer Weise auf die Lehren aus der Geschichte verpflich­tet. Dazu gehört der besonders hohe Wert der freien Meinungsäußerung und eine offene, plurale Debatte. Aktuell wird ausgerechnet Deutschland in der Welt mit zunehmendem Unverständnis als Land wahrge­nommen, in dem diese Freiheiten in einer für ein westliches System ungewöhnlich engen Weise mehr und mehr eingeschnürt werden. Aus Verant­wortung vor der deutschen Geschichte sollte stets darauf geachtet werden, dass die Grenzen der Freiheit so weit wie nur möglich definiert werden, und unter keinen Um­ständen enger, als zu deren eigenem Schutz erforderlich ist. Deutschland ist hier in eine „Verantwortungsfalle“ geraten, ohne sich dessen bewusst zu werden.

Aus der deutschen Geschichte resultiert, tatsächlich ohne Wenn und Aber, eine besondere Solidarität mit Israel. Diese besondere Solidarität muss bedeuten, stets unbeirrt eine ge­rechte und friedliche Lösung des Israel-Palästina-Konflikts einzufordern und mit allen Mög­lichkeiten deutscher Politik, Wirtschaft, Kultur usw. zu unterstützen.

Zu den Lehren aus der deutschen Geschichte, namentlich aus der Schoah, gehört, nie wieder Menschen nach ihrer Zugehörigkeit zu bewerten. Es wäre also gerade verfehlt, es wäre geradezu ein Grundmerkmal von Antisemitismus, wenn diese Lehre selektiv und exklusiv auf jüdische Menschen zugeschnitten würde und nicht allgemeingültig für alle Menschen gleichermaßen umgesetzt würde.

Seid Menschen!

Es gibt kein christliches, muslimisches, jüdisches Blut,
nur menschliches. Seid Menschen!
Das ist es, was ich zu sagen habe.

Margot Friedländer (102), Schoah-Überlebende

[1] 2. Version, 04/2024.
Der Text dieser Handreichung wurde vorläufig abgeschlossen am Tag 120, also vier Monate nach dem 7. Oktober 2023, im Februar 2024. Die vorliegende Fassung versteht sich als erste Version; sie soll debattiert und kritisiert werden, sodass weitere Versionen entsprechend angepasst werden können. Konstruktive Kritik von LÖSUNG-orientierten Seiten ist ausdrücklich erwünscht. Sollte der Text inhaltliche Fehler aufweisen, bin ich für Berichtigungen dankbar! Stimmen von KONFLIKT-orientierten Seiten werden gerne gesammelt und als Beispiele für Hindernisse zur Lösung ange­führt.
Die Handreichung wurde bewusst in eigener Verantwortung unabhängig verfasst. Aktuell ist leider schwer vorstellbar, dass unterschiedliche Gruppierungen und Institutionen mit verschiedenen Aus­richtungen ge­meinsam einen tragfähigen Text zum Israel-Palästina-Konflikt erstellen könnten oder wollten.

Editorische Anmerkungen

Prof. Dr. Stefan Jakob Wimmer (Jhgr. 1963) ist Ägyptologe, Orientalist, Hochschullehrer und Publizist. Seit 2016 ist er außerplanmäßiger Professor am Institut für Ägyptologie und Koptologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit engagiert er sich im interreligiösen Dialog. 2001 war er Mitbegründer der "Freunde Abrahams e.V. Gesellschaft für religionsgeschichtliche Forschung und interreligiösen Dialog", deren 1. Vorsitzender er seit 2013 ist.

Abdruck obiger "Handreichung" mit freundlicher Genehmigung des Autors.