1947 – 2017: Die Seelisberger Thesen als Magna Charta der jüdisch-christlichen Verständigung

Vor 70 Jahren wurden die Seelisberger Thesen erklärt, und so wurde in der Schweiz der Grundstein für den internationalen Dialog zwischen Judentum und Christentum wie für die Konzilserklärung Nostra Aetate (1965) gelegt.

Vom 30. Juli bis zum 5. August 1947 fand in der Gemeinde Seelisberg, Kanton Uri, die Internationale Konferenz von Christen und Juden statt, auch Dringlichkeitskonferenz gegen Antisemitismus genannt. 65 prominente Vertreter jüdischer und christlicher Organisationen, katholische, protestantische, jüdische Männer und Frauen aus 19 Ländern, nahmen an der International Conference of Christians and Jews in der Schweiz teil und formulierten Zehn Thesen zu einer neuen Verhältnisbestimmung von Christentum und Judentum. Zweck und Ziel der Seelisberg-Konferenz war die Bekämpfung des Antisemitismus, die Überarbeitung der christlichen Lehre und Theologie und die Aufnahme des jüdisch-christlichen Gesprächs.

Die Tagungsteilnehmer prüften, in welchem Grade das Christentum durch die Tradierung antijüdischer Vorurteile eine Verantwortung am Holocaust trage, und sie arbeiteten zehn Punkte aus, die auf den 18 Lehrsätzen zur Vermeidung des Antisemitismus beruhten, die von  dem jüdisch-französischen Historiker Jules Isaac (1877-1963) ausgearbeitet worden waren.

Die Zehn Thesen von Seelisberg behandeln die Frage, wie das Thema Judentum in der christlichen Theologie und Exegese, Predigt und Katechese vorurteilslos zu behandeln sei. Sie umfassen Grundaussagen zur Gottesvorstellung im Alten und Neuen Testament, zum Jüdischsein Jesu und Marias sowie der ersten Jünger, Apostel und Märtyrer und zur Nächsten- und Gottesliebe in beiden Testamenten und Religionen, und sie kritisieren jede Art von judenfeindlicher Darstellung der Passionsgeschichte.

Die Seelisberger Thesen wurden zum Grundstein der Konzilserklärung Nostra Aetate.

Am 13. Juni 1960 wurde der 83-jährige Isaac von Johannes XXIII. in einer Privataudienz empfangen. Er unterbreitete dem Papst das Anliegen einer neuen christlichen Verhältnisbestimmung zum Judentum und bat ihn um eine offizielle Erklärung, worauf dieser Augustin Kardinal Bea mit der Ausarbeitung eines entsprechenden Konzilsdokuments beauftragte. Am 28. Oktober 1965 wurde die Endvorlage von Nostra Aetate von der Konzilssession mit grosser Mehrheit angenommen und trat damit kirchenrechtlich in Kraft.

Artikel 4 der Konzilserklärung bringt das Thema, um dessentwillen das Dokument entstand: das Verhältnis von Judentum und Christentum. Der Glaube, die Erwählung und die Berufung der Kirche haben in Israel ihren Ursprung und Anfang. Israel ist die bleibende Wurzel der Kirche aus Juden und Heiden. Alle Christgläubigen sind dem Glauben nach als Kinder Abrahams in die Berufung des Patriarchen eingeschlossen. Die Kirche ist nicht nur durch den Alten Bund und das Alte Testament, sondern auch durch die jüdische Abstammung Jesu, Marias, der Apostel und der meisten der ersten Jünger mit dem jüdischen Volk verbunden. Auf Grund des gemeinsamen geistlichen Erbes ruft das Konzil auf, das brüderliche Gespräch und die gegenseitige Kenntnis und Achtung zu fördern. Entschieden verurteilt die Kirche alle Formen von Rassismus und Antisemitismus.

So wurde mit der Seelisberger Konferenz 1947 ein Grundstein für ein erneuertes Verhältnis der Römisch-Katholischen Kirche zum Judentum gelegt, und ihre Bedeutung ist auch siebzig Jahre später noch von bleibender Aktualität.

Literatur


Vgl. Verena Lenzen: Von Seelisberg nach Rom. Der jüdisch-christliche Dialog in der Schweiz im internationalen Kontext. In: Juden und Christen im Dialog, hrsg. von Birgit Jeggle-Merz und Michael Durst. Theologische Berichte 36. Freiburg Schweiz 2016, 36-53.


Vgl. Christian M. Rutishauser: The 1947 Seelisberg Conference. The Foundation of the Jewish-Christian Dialogue. In: Studies in Christian-Jewish Relations 2,2 (2007), 34–53. Online verfügbar: escholarship.bc.edu/scjr/vol2/iss2 [04.12.16].

Editorische Anmerkungen

Verena Lenzen, Universität Luzern, ist Co-Präsidentin der Jüdisch/Römisch-katholischen Gesprächskommission.