The Jewish Annotated New Testament

Was könnte das sein, ein „Jüdisch kommentiertes Neues Testament"? In welchem Sinn „jüdisch“?

Wie die Mitherausgeber – Amy-Jill Levine, Professor für Neues Testament und Judaistik an der Vanderbilt Universität und Marc Zvi Brettler, Professor für Biblische Studien an der Brandeis Universität – in ihrem Vorwort zu diesem Band ausführen, ist dies in mehr als einer Hinsicht bedeutsam.

Zuerst wird durch die Kommentare zum Text und sonstige erläuternde Materialien der jüdische Charakter des Neuen Testaments hervorgehoben. Dies umfasst sowohl a) die vielfältigen Aspekte, durch die der Text des Neuen Testaments sowohl in Kontinuität als auch in Gegensatz zum Tanach (der hebräischen Bibel) steht, und b) hermeneutische Einsichten, die aus anderer ungefähr zeitgenössischer jüdischer Literatur, wie den Schriftrollen vom Toten Meer, Philo, Josephus, u. a. gewonnen werden können. Diese Betonung der Jüdischkeit des Neuen Testaments hat es schon früher gegeben, aber kaum in einer so attraktiven und brauchbaren Form beziehungsweise durch eine derart beeindruckende Reihe von Gelehrten: Etwa 50 von ihnen, aus Nordamerika, Europa, Israel und Australien – die allesamt Juden sind!

Dies ist somit der zweite Aspekt, der dieses Werk als ein "jüdisches" erweist: Es wurde ausschließlich von Juden geschrieben. Allein dies ist ein erstaunliches Zeichen dafür, wie weit die jüdisch-christliche Verbindung in unserer Zeit bereits gediehen ist. Schon seit etwa Mitte des vergangenen Jahrhunderts gab es bemerkenswerte jüdische Forscher, die sich mit der Entstehung des Christentums beschäftigten, darunter Koryphäen wie David Flusser und Geza Vermes. Aber wer konnte vor Erscheinen dieses Buches schon ahnen, wie viele solcher jüdischer Neutestamentler es innerhalb der gegenwärtigen Generation gibt und wie weit verbreitet sie sind! Die neuen Kräfte und Perspektiven, die sie einbringen, werden das ganze Unternehmen der neutestamentlichen Wissenschaft ohne Frage wesentlich bereichern, wie es bereits in den Seiten dieses Bandes erkennbar wird.

The Jewish Annotated New Testament ist noch in anderer Weise jüdisch: Es richtet sich, zumindest teilweise, an jüdische Leser. Der durchschnittliche jüdische Mensch, so betonen die Herausgeber, ist mit dem Neuen Testament nicht vertraut und zögert möglicherweise, ein Exemplar in die Hand zu nehmen, das christlichen Quellen entstammt, um nicht zum Objekt christlicher Bekehrungsversuche zu werden. Dieser Band kommt dem jüdischen Menschen gewissermaßen mit der Imprimatur der jüdischen wissenschaftlichen Gemeinschaft und mit der Versicherung entgegen, dass die Anliegen jüdischer Leser berücksichtigt werden. Derart zögerliche Bedenken seitens jüdischer Leser beziehen sich vor allem auf das, was sie über die antisemitische oder anti-jüdische Natur des Materials gehört haben. Die Autoren sind sehr offen im Umgang sowohl mit den unzweideutigen Passagen dieser Art (z.B. 1. Thessalonicher 2,14-16) wie auch mit dem allgemeinen antijüdischen Geist großer Teile des Textes. Auch christliche Leser werden aus diesem Aspekt der Kommentare großen Nutzen ziehen, die zwar, wie es recht ist, nie entlasten, aber oft hilfreich erklären.

Das Format des Werkes ist das einer regelrechten "Studienbibel", mit dem neutestamentlichen Text selbst am oberen Rand jeder Seite und den Anmerkungen darunter. Der englische Text ist der vollständige und unbearbeitete Text der New Revised Standard Version, der in nordamerikanischen Kirchen meist verwendeten Übersetzung des Neuen Testaments, die vom  Nationalen Rat der Kirchen legitimiert ist. Die Anmerkungen, die dem Text Vers für Vers folgen, nehmen in der Regel ein Drittel bis zur Hälfte einer Seite ein. Ergänzend hierzu sind gelegentliche, mehr ins Detail gehende Kommentare zu bestimmten Themen eingerahmt. Die Anmerkungen zu jedem der 27 Bücher des Neuen Testaments wurden jeweils von einem einzelnen jüdischen Gelehrten erarbeitet und zur Verfügung gestellt. Zusätzlich zu all dem bietet der Anhang des Bandes weitere 87 Seiten wissenschaftlicher Aufsätze zu Themen wie: Häufige Fehler, die in der Beurteilung des Frühjudentums begangen werden; die Bedeutung zentraler Begriffe wie „Gesetz“ oder „die Juden“; jüdische Bewegungen in der Zeit der Entstehung des Neuen Testaments; Midraschim und Gleichnisse im Neuen Testament; Jesus in der rabbinischen Tradition und zwei Dutzend weitere relevante Themen. Ausserdem gibt es Zeittafeln, mehrere Listen und Tabellen, sowie ein umfangreiches Glossar und ein  Stichwortverzeichnis. Das Buch ist auf Papier von ausgezeichneter Qualität gedruckt und erlaubt die Annahme, dass es als langfristiges Nachschlagewerk gedacht ist und als solches auch gebraucht werden wird.

Der Zweck dieser kurzen Rezension, die von jemandem verfasst wurde, der selbst kein Neutestamentler ist, besteht schlicht darin, bei möglichen Interessenten Aufmerksamkeit für dieses Buch zu wecken. Gründlichere wissenschaftliche Einschätzungen werden zweifellos folgen. Bis dahin wird der Band sich sicher selbst weithin als wesentlicher und faszinierender Beitrag zum interreligiösen Diskurs empfehlen.

The Jewish Annotated New Testament

Edited by Amy-Jill Levine and Marc Zvi Brettler. New Revised Standard Version. xxviii + 637 S. New York: Oxford University Press, 2011. (Gebundene Ausgabe EUR 27,40)

Editorische Anmerkungen

* Gründungsdirektor des Instituts für jüdisch-christliche Verständigung, Mühlenberg College, Allentown, Pennsylvania (U.S.A.). Ehemaliger Chefredakteur von www.jcrelations.net.

Aus dem Englischen übersetzt von Fritz Voll.