In diesem Roman begegnen wir vor allem Bertha in allen ihren Aktivitäten, von der streitbaren Feministin, Gründerin des jüdischen Frauenbundes, Kämpferin gegen Mädchenhandel, der Autorin, Freundin, kurzum einer Frau mit vielen Facetten, deren Krankheitsgeschichte nur eine Episode in einem sonst sehr vielseitigen und öffentlichen Leben ist. Auf dem internationalen politischen Parkett war sie bekannt und engagiert. Maciejewski befreit Bertha aus dem Schatten der Anna O, gibt ihr eine eigene Stimme.
In 22 Kapiteln erzählt Bertha ihr Leben nicht chronologisch, nein, der Erzählfaden wird getragen von den Menschen, denen sie begegnet und was diese für ihr Leben bedeuten und wie sie es verändern.
Wir alle kennen das Portrait von Glückl von Hameln, das sofort im internet erscheint, wenn man ihren Namen eingibt. Mit diesem Portrait beginnt Maciejewski seinen Roman. Zu ihrem 60. Geburtstag wollen die Mitarbeiterinnen des Erziehungsheimes Bertha ein Portrait schenken, gemalt von dem heute fast unbekannte Maler Leopold Pilichowsky. Sie überlegt lange, wie sich portraitieren lassen? Wie soll sie sich darstellen? Wer ist sie überhaupt? Dann fasst sie den Entschluss, sich in den Gewändern des 16. Jahrhunderts als Glückl von Hameln portraitieren zu lassen. Die Sitzungen, lange bevor das Portrait Gestalt anzunehmen beginnt, sind für beide, Bertha und Pilichowsky, erfüllt von intensiven Gesprächen und zumindest für Bertha schwingt ein leiser erotischer Ton mit. Dies ist eine ihrer wenigen glücklichen Begegnungen mit einem Mann. Hier wird das Buch zum Roman, die Fakten werden gefüllt mit Gefühlen, erotischem Verlangen und der Erkenntnis „mir ward die Liebe nicht“, ein Satz, der sich wie ein Leitmotiv durch das Buch zieht. Es ist ein Zitat aus einem Gedicht von Berha Papenheim
Mir ward die Liebe nicht -
Drum leb’ ich wie die Pflanze,
Im Keller ohne Licht.
Mir ward die Liebe nicht -
Drum tön’ ich wie die Geige,
Der man den Bogen bricht.
Mir ward die Liebe nicht -
Drum wühl’ ich mich in Arbeit
Und leb’ mich wund an Pflicht.
Mir ward die Liebe nicht -
Drum denk’ ich gern des Todes,
Als freundliches Gesicht.
Das Portrait stellt Pilichowsky fertig. Wir kennen es alle mit der hebräischen Inschrift Zichronot marat Glikl Hameln – Die Erinnerungen der Glückl von Hameln. Bertha Pappenheim und Pilichowsky sehen sich, trotz bester Absichten, nie wieder.
Es war eine kluge Entscheidung von Maciejewski, das Buch mit dem Portrait beginnen zu lassen. Das hebräische Zitat kann genauso gut über diesem Roman stehen, denn es sind die Erinnerungen der Bertha Pappenheim. Dass diese, geschult durch die „Redekur“ bei Dr. Breuer, durchaus erzählen kann, ist durch Freuds Veröffentlichung der „Anna O.“ bekannt. Maciejewski bürstet jedoch diese „Redekur“ gegen den Strich und lässt Bertha erzählen, nicht um von der Hysterie geheilt zu werden, sondern um sich als selbständige Frau einem Publikum vorzustellen und verleiht somit diesem Buch eine gewisse Authentizität.
Das Buch ist ein Roman und daher gibt es keine Quellenangaben, aber Maciejewski hat solide recherchiert in den Archiven, in Publikationen und Gesprächen, und so sind die Fakten das Knochengerüst. Das Fleisch darum macht den Roman aus. Es sind die vielen Unterhaltungen mit Pilichowsky in Frankfurt, mit dem sie eine erotische Seelenverwandtschaft verband; mit ihrem Vetter Felix Warburg in New York, in dem sie einen Mann trifft, der - tief verwurzelt im Judentum und seinem Glauben - sich sozial engagiert und in die Gesellschaft hinein wirkt; mit den Rabbinern in Galizien über die Stellung der Frau und den moralischen Verfall jüdischer Familien diskutiert; mit der Cousine Luise Goldschmidt, ihrer „Tränenschwester“, mit der sie richtig albern sein konnte, und die sie moralisch und finanziell unterstützte beim Erwerb und Aufbau des Mädchenhauses in Neu-Isenburg; oder der Philosophin Margarete Sussmann, die sie spät in ihrem Leben kennen lernte und mit der sie das „Abendteuer Philsosophie“ wagte. Im Sinne des jüdischen Lehrhauses treffen sich zwei „Zionstöchter“ um gemeinsam zu lernen. Bertha Pappenheim beneidet Margarete Sussmann um ihre geistige Freiheit, „weil ich feststak in meiner Jüdischkeit.“ Und letztlich die Gespräche mit Hanna Karminsky, ihre Mitarbeiterin in Neu-Isenburg, aber über allem Freundin und Ersatztochter, die sie bis zum Tod begleitete und das geistige Erbe Berthas antrat. Diese heiteren und ernsten Unterhaltungen, mögen sie erfunden oder wahr sein, es macht keinen Unterschied, sie hauchen den trockenen Fakten, die wir kennen, Leben ein. Ebenso wie die Gefühle Bertha Pappenheims, die Maciejewski in solch feinsinniger Sprache zu erlauschen scheint. Sätze wie „Wer den Seelenmord aus den Kindertagen überlebt hat, lebt als Erwachsener häufig mit fremden Gesicht“. oder „Mir war als stünde ich an der Grenze zu einem inneren Ausland.“ Dr. Maciejewkski, der Romanautor, scheint hier wie, Dr. Breuer, der Hausarzt, Bertha einfach nur zuzuhören.
Als Leser können wir so partizipieren am inneren und äußeren Leben von Bertha Pappenheim. Sie erzählt uns von dem Prozess der „Israelitschen Volksschule contra Frl. Pappenheim“. Sie hatte gewagt, das erstarrte Gebäude der Orthodoxie aufzubrechen, hatte die pädagogische Arbeit in Frage gestellt und wurde wegen Beleidigung verklagt. Wir begleiten sie auf ihren ausgedehnten Reisen nach Russland, auf den Balkan und Galizien, wo sie den Mädchenhandel vehement bekämpfte. Sie sah, im Gegensatz zu anderen, auch die Kehrseite dieses Handels, nämlich die Männer, die diese Mädchen kauften und benutzten und so den Handel ermöglichten. Nach den Pogromen in Russland reiste sie mehrere monatelang in die Pogromgebiete. Wir sehen sie als engagierte Frauenrechtlerin, Gründerin des nationalen jüdischen Frauenverbandes. Wir sehen ihre Auseinandersetzung mit den jüdischen Autoritäten, ausgelöst durch ihre Kritik am traditionellen Frauenbild in der jüdischen Tradition, ihren Forderungen nach Gleichberechtigung der Frauen innerhalb jüdischer Institutionen, einer umfassenden Bildungsreform und der Gleichstellung jüdischer Frauen im Berufsleben. DieFakten sind bekannt, aber in diesem Roman sehen wir, wie sie unter der Kritik ihrer eigenen Gemeinschaft litt und welche Enttäuschung dieses Unverständnis bei ihr hervorrief. Bertha Pappenheim wird uns gezeigt als selbstbewusste Jüdin und deutsche Patriotin, deren geistige Heimat aber das Judentum blieb, umso größer Ihre Enttäuschung über dessen Zurückweisung.
Wie in dem meisten Romanen üblich, gibt es keine Datumsangaben im Buch. Allerdings hilft dem Leser / der Leserin ein biographischer Überblick am Ende des Buches, sich zu erinnern. Die meisten Leser kennen das Knochengerüst der Fakten gut genug, um die Zeit der Geschehnisse einzuordnen. Anfang der dreißiger Jahre wird bei ihr ein bösartiger Tumor entdeckt, der sie jedoch nicht von weiteren Reisen abhält. Sie fährt nach Amsterdam um Henriette Szold zu treffen. Der Siegeszug der Nazis trifft sie besonders hart. Mit dem martialischen Klang der Stiefel auf deutschen Straßen begann etwas in ihr zu zerbrechen. Maciejewski läßt sie folgendes sagen:
Mit der Abkehr der Deutschen verschwindet unser Gegenüber in der Welt, unser Du. Wir sind auf uns selbst zurückgeworfen. Zurückgeworfen auf die eine Beziehung zu dem eifersüchtigen Gott unserer Väter. Etwas Biblisches ereignet sich vor unseren Augen. (S. 202)
Schwerkrank wird sie noch von der Gestapo in Offenbach verhört. Sie lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, gestärkt durch den Anblick der großen Synagoge und deren Kuppel, verlässt die Bertha des Romans das Verhör als Siegerin.
Sie wird immer schwächer, muss das Bett hüten und begleitet von Hanna Kaminski stirbt sie in Neu-Isenburg. Als letztes lässt Maciejewski die Bertha des Romans uns folgendes berichten:
Ich sah meine Tochter an und spürte, wie unsere Blicke sich trafen. Und sprach mit den Augen zu ihr. Ich werde nicht allein sein wenn ich zu IHM gehe. Und auch du wirst nicht alleine bleiben, liebe Hannah. Das ist das Letzte, was ich zu berichten weiß.
Mit Worten des 121. Psalms endet der Roman.
Ergänzt wird der Roman durch eine Materialsammlung, Fotos, einen tabellarischen Lebenslauf und eine Liste kurzer Erläuterungen zu den historischen Personen in der Reihenfolge, in der sie im Roman auftreten.
Die Stimme, die Maciejewski Bertha Pappenheim verleiht klingt authentisch, vor allem wenn es um ihre Gefühle und Glücksmomente geht. Die Kämpferin für Frauenrechte klingt manchmal zu sehr nach heutigem feministischem Jargon, eine kleine Unstimmigkeit, die dem Roman jedoch nichts anhaben kann.
Wer die Frau hinter der Frauenrechtlerin, der Anna O. kennen lernen will, sollte diesen Roman unbedingt lesen. Das gewagte Abenteuer, eine bekannte Persönlichkeit als Romanfigur zu gestalten, ist Maciejewski durchaus gelungen.
Franz Maciejewski:
Ich, Bertha Pappenheim.
Osburg Verlag
Hamburg 2015
200 S.
Euro 20,-