Was das Gespräch zwischen Juden und Christen wert ist

Katholische Einsichten [1]

Denn der HERR hat sich Jakob erwählt,
Israel zu seinem Eigentum. (Ps 135,4)

1. Vom Wert

Wenn man einen Blick von Rom auf die ökumenische Landschaft wirft, wird man gewahr, dass sich ein bemerkenswerter Zug unter dem Pontifikat Johannes Paul II. zeigte: Die Beziehungen zu den Kirchen, die an Alter und Tradition der römisch-katholischen nahestehen, etwa die griechisch-orthodoxe, die armenische, die syrische – die russisch-orthodoxe ist freilich ein Sonderfall –, sind ungleich besser als zu den Kirchen der Reformation.

Oft kaum bemerkt hat sich in den letzten Jahrzehnten ein enges Band zu diesen Kirchen entwickelt.

Aber das Prinzip von Würde und Alter hat unter dem Pontifikat Johannes Paul II. auch in anderer Hinsicht besondere Früchte gezeitigt, und zwar in Hinblick auf die „große Ökumene“, die zum Judentum.

Theologisch hat keine andere Glaubensgemeinschaft, auch keine andere Kirche der Christenheit, einen so hohen Stellenwert für die Römisch-Katholische Kirche wie das Judentum.

Es kann keinen Zweifel daran geben, dass die Katholische Kirche unter dem Lehramt der Bischöfe und des Volkes der Kirche es als Glaubensgut erachtet, mithin als Bestandteil des katholischen Glaubens, dass Israel Volk Gottes war, ist und sein wird und in der bleibenden Erwählung Gottes und dessen auf ewig gestifteten Heilsgemeinschaft steht. In Israel werden die Schriften, die die Christen Altes Testament nennen, vollgültig gehört, gelebt und gelehrt. Die nachbiblische Tradition des Judentums hat Anteil an dem Wahrheitsanspruch dieser Schriften und ist darin der christlichen Tradition vergleichbar.

Konsequenterweise erachtet die Katholische Kirche Judenmission als theologisch indiskutabel und in praxi eine Missachtung der Würde Israels und der Treue Gottes. Indem sie das Mysterium Israel ernst nimmt, anerkennt sie zugleich in Demut das Geheimnis der unverfügbaren Gnade und Barmherzigkeit Gottes.

Der Wert des Gesprächs mit dem Judentum liegt für die Katholische Kirche letztendlich darin, dass sie sich selber von diesem Gespräch her reflektiert und des eigenen Geheimnisses, das ohne Israel nicht wahrnehmbar und zugänglich ist, innewird. Der Wert ist also demnach zunächst ein vorrangig ekklesiologischer.

Denn sie haben Jakob aufgefressen
und seine Häuser verwüstet (Ps 79,7)

2. Wiedergewinnung des Angesichts

Die Jahrhunderte andauernde Judenfeindschaft gehört zum bleibenden Makel der Kirche. Es kann keine Entschuldigung geben, da jeder Versuch in ein noch größeres Desaster führt.

Häufig meint man die judenfeindlichen Handlungen von Christen damit zu entschuldigen, dass man auf den historischen Kontext verweist, in denen jedes Unrechtsbewusstsein gefehlt hätte.

Doch ist dabei zunächst einmal festzuhalten, dass die Quellen sehr wohl belegen, dass es auch eine Einsicht in das verbrecherische Tun gegeben hat. Auf der anderen Seite ist damit gleich eine Bankrotterklärung der kirchlichen Wirklichkeit und Wirkung geliefert; denn, wenn es der Kirche etwa im Mittelalter nicht gelang, Menschen zu vermitteln, dass man Menschen nicht einfach umbringen dürfte, dann bleibt tatsächlich die Frage, wozu eine solche Kirche nütze ist.

Geradezu peinlich war es im Falle von Pius IX., als man glaubte, Katholiken, die über die Seligsprechung eines Antisemiten besorgt und empört waren, damit zu beruhigen, dass es ähnliche Antisemiten gegeben habe. Dabei wurde freilich meist unterschlagen, dass man dann schon an russische Zaren denken musste, deren Pogrome gegen Juden die ganze damalige zivilisierte Welt empörte. Den Stellvertreter Christi mit brutalen Autokraten zu vergleichen, erscheint eher als Verspottung des Petrusdienstes, denn einer höchst sublimen Rechtfertigung eines Papstes.
Die ganze Apologetik ist als ein untauglicher Versuch anzusehen, sich aus der Verantwortung zu stehlen.

Daher sind das Schuldbekenntnis und die Vergebungsbitte am Ersten Fastensonntag 2000 in St. Peter in Rom von bleibender und grundlegender Bedeutung:

Lass die Christen der Leiden gedenken, die dem Volk Israel in der Geschichte auferlegt wurden. Lass sie ihre Sünden anerkennen, die nicht wenige von ihnen gegen das Volk des Bundes und der Lobpreisungen begangen haben, und so ihr Herz reinigen.

Nach einem Gebet in Stille sprach der Papst folgendes Gebet:

Gott unserer Väter, du hast Abraham und seine Nachkommen auserwählt, deinen Namen zu den Völkern zu tragen. Wir sind zutiefst betrübt über das Verhalten aller, die im Laufe der Geschichte deine Söhne und Töchter leiden ließen. Wir bitten um Verzeihung und wollen uns dafür einsetzen, dass echte Brüderlichkeit herrsche mit dem Volk des Bundes. Darum bitten wir durch Christus unseren Herrn.

Die Reinigung des Herzens kann nur gelingen, wenn man sich der Geschichte stellt, zu der eben gehört, dass man die Sünden gegen das Volk des Bundes und der Lobpreisungen als Verirrung vom Glauben und seiner Praxis begreift.

Schon vor dem Jahr 2000 hat die Katholische Kirche immer wieder den Versuch unternommen, sich aus der Gefangenschaft dieser verheerenden Geschichte zu befreien und Israel anzusehen als das was es ist, die erste Liebe Gottes.

Mit der Vorbereitung der Konzilserklärung zum Judentum, die dann als Nummer 4 in Nostra Aetate einging, und ihrer Verabschiedung am 28. Oktober 1965 hat sich tatsächlich eine Wende ereignet. Wie groß diese Wende war, kann man auch daran ablesen, dass Nostra Aetate 4 ein Hauptanlass für das letzte Schisma in der Katholischen Kirche war.

Die Notwendigkeit des Gesprächs nicht über Juden, sondern mit Juden war auf dem Konzil bereits deutlich geworden. Wichtig war dabei die Anbindung dieses Gesprächs an das „Sekretariat für Einheit“. Damit wurde ganz unübersehbar deutlich: Die päpstliche Kommission betrachtet das Judentum nicht als eine andere fremde Religion, sondern eine dem Christentum verbundene.

Zweifelsfrei wird man sagen müssen, dass einige der Dokumente der Kommission in Stil und Wortwahl daran erinnern, dass die Katholische Kirche die letzte überlebende Institution des Imperium Romanum ist, aber der Nutzen ist gleichwohl nicht zu übersehen.

Der Kampf gegen Vorurteile bedarf fester Organisationsformen, die die logistischen, organisatorischen und auch finanziellen Möglichkeiten für Gruppen und Einzelne schaffen. Kontinuierliche Arbeit und punktuelle Aktionen sind beide möglich. Da die evangelischen und reformierten Kirchen in Westeuropa ähnliche Strukturen entwickelten, kann man in Westeuropa fast von einem flächendeckenden Angebot sprechen.

Ohne die zahlreichen kirchlichen Möglichkeiten wäre der breite Dialog zwischen Juden und Christen innerhalb der Katholischen Kirche nicht möglich. Hierbei ist die gelegentlich beklagte Begrenzung des Gesprächs auf kleine, engagierte Zirkel keinesfalls so hinderlich, wie behauptet. Lernprozesse, welche die Revozierung alt eingefahrener Vorurteile intendieren, bedürfen einer Vorbereitungsphase, in denen sich das vollziehende Gespräch als Gegenentwurf zu tradierten Modellen durchsetzen kann. Dass diese Gruppen zu weiten Teilen von theologischen Fragen dominiert werden, ist angesichts der langewährenden Theologie der Verneinung der Würde Israels geradezu zwingend, da man die Altlasten dieser Theologie auch nur theologisch entsorgen kann.

Die Bedeutsamkeit dieser Phase ist demnach keineswegs zu gering anzusetzen, wobei man nicht übersehen sollte, dass gerade das jüdisch-christliche Gespräch ein hohes Maß an innerchristlicher Selbstklärung verlangt. Die Fähigkeit, den anderen anders als gewohnt wahrzunehmen, bedarf der Zeit der Einübung, die dann dazu führt, dass möglichst alle sich diese Fähigkeit aneignen.

Die Phase des Gesprächs hat in den letzten Jahrzehnten viel geleistet: Es gibt Juden, die nicht mehr in der Kirche das Elend ihrer Geschichte sehen müssen, und es gibt immer weniger Katholiken, die noch in der Verstockung des Antijudaismus verharren.

Ja, ich rief dich bei deinem Namen und nannte
dich, da du mich noch nicht kanntest. (Jes 45,4)

3. Wider die Entheiligung des Namens

Eine sowohl theologisch wie menschliche große Verfehlung war die Verunglimpfung des Namens Israel durch Christen. Was dort an Blasphemie geschah, muss in einem schweren Prozess aufgearbeitet werden.

Religiöse Intoleranz tritt häufig im Kleid des Bekenntnisses auf. Aus der durchaus ernstzunehmenden Überzeugung, den wahren Glauben zu haben, wird dann die Vorstellung, der Glaube des anderen müsse falsch und der Glaubende irregeleitet sein. Die innenbezogene Aussage wird dann zu einer negativ außenbezogenen.

Die Lösung des Augustinus: Den Irrtum hassen, den Irrenden lieben hat sich als nicht praktikabel erwiesen, wie die Geschichte der christlichen Konflikte erweist. Wie also kann man im kirchlichen Bereich einer Intoleranz begegnen, die sich angeblich aus dem Glauben speist.

Die Katholische Kirche hat den Weg der Sanktion beschritten, indem sie den rassistischen Antisemitismus als Sünde qualifiziert und ablehnt.

Dabei ist zu beachten, dass rassistischer Antisemitismus nach theologischem Verständnis in sich das Signum der Sünde trägt.

Kennzeichen des Antisemitismus ist der Hass auf andere und auch der Hass auf sich selbst. Denn Hass zerstört nicht nur den, den man hasst, sondern auch den, der hasst. Nirgendwo wird das theologisch präziser beschrieben als in der Geschichte von Kain und Abel. Denn wie heißt es am Ende: Und Kain ging fort vom Angesicht des Herrn. (Gen 4,16)

Die Ablehnung des anderen, beim Antisemitismus die des Juden, entspricht nicht der von Gott geforderten Haltung. Daher, so könnte man sagen, stellt die Verurteilung des Antisemitismus theologisch kein größeres Problem dar. Es ist als Hass von anderen Formen der Sünde gegen den Mitmenschen grundsätzlich nicht unterschieden. So hielt das Sanctum Officium im März 1928 fest: „In dieser Liebe hat der Apostolische Stuhl dieses Volk gegen ungerechte Verfolgung beschützt, und wie er allen Hass und alle Feindschaft unter den Völkern verwirft, so verurteilt er ganz besonders den Hass gegen das einst auserwählte Volk Gottes, nämlich jenen Hass, den man ‚Antisemitismus‘ nennt.“ (Acta Ap. Sedis, XX, 1928)

Anders verhält es sich mit der katholischen Wahrnehmung des selbst praktizierten Antijudaismus. Dieser wurde als quasi erlaubt betrachtet, da er sich angeblich nur auf religiöse Irrtümer bezog.

Im 19. Jahrhundert war z.B. der Antiprotestantismus der Katholischen Kirche daher formal nicht vom Antijudaismus unterschieden. Beide waren Ausdruck eines sich absolut setzenden Wahrheitsanspruchs.

Allerdings zeigt sich im zwanzigsten Jahrhundert ein gravierender Unterschied. Die Ökumene war auch innerhalb der Katholischen Kirche eine Frucht der theologischen Diskussion. Die Neue Israeltheologie dagegen wuchs aus dem Schrecken der Shoa. Durch und nach der Shoa war offensichtlich geworden, dass Antisemitismus und Antijudaismus vielleicht theoretisch unterscheidbar waren, beide aber zu Brüdern und Helfern des Todes geworden waren.

Als Nostra Aetate veröffentlicht wurde, gab es in der Katholischen Kirche die Absicht zu einer Neuen Israeltheologie, die aber erst noch gedacht werden musste.

Dabei entwickelte sich eine zweifache Wahrnehmung des Antijudaismus und auch eine zweifache Art der sanktionierenden Qualifizierung.

Dort, wo sich Antijudaismus als Habitus der Ablehnung und Verachtung gibt, wird er wie Antisemitismus als Sünde des Hasses verurteilt.

Dort aber, wo er versucht, theologisch das Vorrecht Israels als bleibendes Gottesvolk zu bestreiten und Juden von der Erwählung Gottes zu trennen, gilt Antijudaismus als Verfehlung gegen den Glauben, kurz als Häresie.

Zweifelsohne ist hier im Kampf gegen die religiöse Intoleranz ein Kriterium eingeführt worden, das selbst an Intoleranz erinnert. Es gibt derzeit innerhalb der Katholischen Kirche theoretisch keine Möglichkeit mehr, Katholik und Antijudaist zu sein. Insbesondere seit dem Pontifikat Johannes Paul II. gilt in diesem Fall der alte Satz: Roma locuta, causa finita.

Nun ist der Antijudaismus dennoch nicht erledigt, was nicht hinzunehmen, aber zu erklären ist.

Zunächst wird man festhalten müssen, dass der Antijudaismus auf ein tradiertes theologisches Denkgebäude zurückging, an dem Jahrhunderte gebaut haben. Die Zählebigkeit des Antijudaismus war kaum in einer Generation zu überwinden, ohne ihn gleichsam mit den eigenen Mitteln zu beseitigen. Da er ein religiös-theologisches Fundament hatte, musste dieses Fundament erschüttert werden. Dafür gibt es nun einmal keinen theologisch besseren Begriff als Sünde. Erst mit dieser Qualifizierung ist innerkirchlich klar, dass es nicht um eine beliebige Meinung geht, sondern um eine ganz entscheidende Frage, näherhin eine des status ecclesiae. Die theologische Redeform der Sünde erscheint für den innerkirchlichen Klärungsprozess durchaus hilfreich. Im Übrigen: Wenn man das Gift erkennt, das der Antijudaismus in die katholische Theologie einbrachte, ist die Bezeichnung „Sünde“ mehr als berechtigt.

Dass auch innerhalb der Katholischen Kirche selbst noch nicht völlig klar ist, welchen Stellenwert die Neue Israeltheologie einnimmt in der Hierarchie der Wahrheiten (!), ist offensichtlich. Da ich aber überzeugt bin, dass der Umkehrprozess unwiderrufbar ist, meine ich auch, dass spätere Generationen ihn von dieser Wahrheit her beurteilen werden.

Esau aber lief ihm entgegen und herzte ihn
und fiel ihm um den Hals und küsste ihn;
und sie weinten. (Gen 33,4)

4. Der Mehrwert des Gesprächs zwischen Juden und Katholiken

4.1 Das Unerwartete

Die Neue Israeltheologie ist theologisch zweifelsohne als inneres Gut der Kirche anerkannt; sie ist traditio sacra, heilige Tradition.

Sie ist es als eine der Kirche in Einsicht und Reflexion zuteil gewordene. Dennoch ist sie auch eine Zugewachsene. Denn die Kirche hat nicht nur ihr eigenes Versagen erkannt, sondern auch die Wahrnehmung der Außenstehende war ihr Anlass zur Umkehr.

Es gehört zu den wenigen theologischen Entwicklungen innerhalb der Katholischen Kirche, bei der das dialogische Prinzip von größter Bedeutung und Einfluss ist. Die Neue Israeltheologie ist ja keineswegs nur eine Negation der Theologie der Verachtung. Vielmehr hat sie nicht nur das katholische Verständnis von Judentum und Israel geändert, sondern auch die Neubesinnung von Christologie und Ekklesiologie maßgeblich gefördert.

Hier lässt sich durchaus die Frage stellen, ob sich nicht ein ökumenisches Modell zeigt, dass auch mit anderen Glaubensgemeinschaften zu erproben wäre. Da die Katholische Kirche anerkennt, dass es eine heilstiftende Wahrheit außerhalb ihrer selbst gibt, ist damit die Frage aufgeworfen, ob die Barmherzigkeit Gottes nicht auch in anderen Glauben die Wahrheit seines Geheimnisses walten lässt. Die Suche, die zur Wiederentdeckung der veritas et dignitas Israelitica geführt hat, kann weitergeführt werden. So, wie diese Entdeckung heilsam war, so kann es auch eine andere sein. Was man von Israel lernen kann, ist eben, der Treue Gottes zu trauen.

Freilich bleibt es dabei, dass die Beziehung zu Israel unvergleichlich ist. Das, was Kirche und Israel verbindet, ist unvergleichlich, auch wenn es letztendlich im Geheimnis Gottes geborgen bleibt, wie weit die Annäherung gehen wird.

Israel bleibt bei aller Vertrautheit das gute Fremde, das Geheimnis Gottes. Die Katholische Kirche ist gewiss noch nicht am Ende des Weges, aber sie läuft auf ihm.

4.2 Weitergehen

4.2.1 Der barmherzige Gott

Wenn die Auflösung des Antijudaismus auch weiter notwendig bleibt, so muss zugleich die kritische Frage auftreten, was eben dieser Antijudaismus zerstört hat.

Der christliche Antijudaismus war eine Bereicherungstheologie: Er behauptet, Gott habe sein Volk Israel verstoßen, um ein neues, das der Kirche, zu berufen. Man muss diesen Gedanken zu Ende denken, um ihn in seiner theologischen Verheerung zu begreifen. Er behauptet Gott, könnte untreu sein und seine Verheißungen hinfällig. Zugleich behauptet er, die Gnade Gottes könnte durch die (unterstellte) Sünde überwunden werden.

Theologisch steht man noch nicht einmal am Anfang, um auszuloten, wie viel an Zerstörerischem damit in die Kirche kam. Denn dieses Gottesbild wirft auch einen Schatten auf die christliche Hoffnung: Wenn Gott seinem Volk nicht treu war, warum sollte er den Nacherwählten treu sein. Die behauptete Willkür dieses Gottes trug viel zur Verdunkelung des Gottesbildes bei.

Ein anderes ist freilich über die Gnade zu sagen. Da das Gnadenhandeln Gottes sich gerade an dem Gottlosen erweist, ist diese Gnade unverrechenbar. Wenn man aber aus Gott einen Buchhalter der Gnade macht, der seine Gnade wie einen unbezahlten Kredit zurückfordert, dann enthüllt das im letzten, dass man eben dieser Gnade nicht glaubt.

Der christliche Antijudaismus ist erst recht verstanden, wenn man ihn als Manifestation des Unglaubens an den rechtfertigenden Gott sieht. Hier, im Antijudaismus konnten all die Zweifel sich austoben, die man an der eigenen Heilserfahrung hatte. Die Juden wurden zu Sündenböcken des eigenen Unglaubens, indem man behauptete, hier an ihnen habe sich Gott nach Menschenart erwiesen. Dass man damit aber die Freiheit Gottes Gott zu sein, in Frage stellte, wurde übersehen.

Antijudaismus richtet sich zwar gegen Juden und Judentum, aber letztendlich gegen Gottes Autorität, dem man vorschreiben will, was er zu tun hat.

Paulus fragt: Denn wer hat des HERRN Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen? (Röm 11,34) Viele, viel zu viele haben gerufen: Wir, wenn es um Israel ging.

Die Neue Israeltheologie wird dagegen dazu anleiten, was es heißt, vertrauensvoll und ohne Furcht an den Gott zu glauben, der die Gottlosen gerecht spricht.

4.2.2 Durch Jesus Christus

Wenn man innewird, dass Israel Gottes bleibende Liebe ist, dann kann auch das eigene Christsein nochmals ganz anders begriffen und gedeutet werden. Denn wenn man im Glauben annimmt, dass denen aus den Völkern der Zugang zum Gott Abrahams, Isaak und Jakobs nur durch Jesus Christus wurde, dann kann man nochmals vertieft auf den blicken, ohne den Christen nichts wüssten von der Gnade Gottes für sie.

Wenn es gelingt, die Selbstverständlichkeit des Christseins zu durchbrechen, indem man das Geheimnis Israels anerkennt, dann kann man noch deutlicher begreifen, was es heißt, dass Christen hoffen dürfen, dass auch ihnen gilt, dass der Herr Israels sie gnädig ansieht und annimmt. Dabei kann es nicht so sehr um einen qualifizierenden Begriff gehen, wie Bund oder Erwählung, sondern die Glaubenswirklichkeit, den Namen des Herrn anrufen zu können. Hinzutreten zu denen, die Gott rief, das ist viel, aber gerade darin wird man ersehen und erfahren können, was denen, die an den Juden Jesus von Nazaret als Christus glauben, an Heil zuteilwurde und wird.

Vielleicht kann man so auch dem Zwang entkommen, Christus bezeugen zu müssen. Zweijahrtausende haben die Christen Juden Christus bezeugt; es ist den Juden schlecht bekommen und dem Namen Jesus keine Ehre angetan worden.

Es wäre an der Zeit sich einfach an der Gnade Christi zu freuen. Diese Freude ist wahre Bezeugung.

[1] Der Beitrag geht auf einen Vortrag zurück. Der Vortragsstil wurde beibehalten und auf eine Bibliographie verzichtet. Eigene Arbeiten des Verfassers finden sich unter: https://www.geschkult.fu-berlin.de/e/kaththeo/allgInfo/magistri/profs/kampling/index.html.

Editorische Anmerkungen

Prof. Dr. Rainer Kampling war seit 1992 bis 2022 Universitätsprofessor für Biblische Theologie / Neues Testament am Seminar für Katholische Theologie der Freien Universität Berlin. Unter seiner Leitung wurde 2008 der Ernst-Ludwig-Ehrlich-Masterstudiengang Geschichte, Theorie und Praxis des jüdisch-christlichen Verhältnisses an der Freien Universität Berlin eingerichtet. Er ist Gründungsmitglied des Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Seit 2021 ist Prof. Dr. Rainer Kampling Verbundleiter des BMBF geförderten Projekts „Christliche Signaturen des zeitgenössischen Antisemitismus“, das an der Freien Universität Berlin, am Leibniz-Institut für Bildungsmedien – Georg-Eckert-Institut und mit den Evangelischen Akademien in Deutschland umgesetzt wird. Neben seinen Forschungen zur Rezeptionsgeschichte der Bibel gehören die Theologie, die Geschichte und Praxis der jüdisch-christlichen Beziehungen und die theologische Antisemitismusforschung zu seinen Forschungsschwerpunkten.
Quelle: Bulletin of the Association of the Friends and Sponsors of the Martin Buber House, 2/2022