Martin Buber und das Christentum

Er gilt als der Dialogiker schlechthin, praktisch und theoretisch. Das dialogische Prinzip, so einer seiner Buch-Titel – es ist „sein“ Prinzip, mit seinem Namen unverwechselbar verbunden. Mehr als andere Denker des 20. Jahrhunderts hat er „Dialog“ geübt und theoretisch durchdacht, er, der jüdische Gelehrte, der – bei allen Anregungen von außen – aus nichts anderem denn aus den Quellen des Judentums heraus denken und glauben wollte. Was verstand er unter „Dialog“? Wie praktizierte er ihn in einer Welt, die für ihn, in Wien geboren, nun einmal vom Christentum geprägt ist?

Viele haben ein harmonisierendes Bild von Bubers Beziehung zum Christentum im Kopf. Man erinnert sich gerne an ein Buber-Wort über Jesus, den er, Buber, stets als seinen „großen Bruder“ empfunden habe, ein Wort, das umso schwerer zu wiegen scheint, als es 1950, nach der Shoa, geschrieben steht und zwar in seinem zusammenfassenden Werk Zwei Glaubensweisen. Aber Harmonie ist damit nicht gemeint. Überblickt man Bubers ganze Geschichte, erlebt man einen Mann, der sich auch entschieden abzugrenzen versteht von christlichen Bekenntnissen und deutsch-christlichen Zumutungen. Die Bekenntnisse betreffen Glaubensdifferenzen zwischen Juden und Christen, die Zumutungen Zugriffe auf die gesellschaftliche Stellung von Juden in der deutsch-christlichen Mehrheitsgesellschaft. Von beidem muss die Rede sein. Das eine ist vom anderen nicht zu trennen. Und wir müssen zuerst den Kämpfer Buber kennen lernen, der für eine eigenständige und authentische jüdische Identität streitet, bevor wir den Dialogiker wahrnehmen können.[1]

„Fremdandacht“:
Prägende frühe Erfahrungen mit Christen

Wie hat alles angefangen? Buber wird 1878 in Wien geboren, wächst aber ab dem Alter von 4 Jahren – die Eltern hatten sich getrennt – bei seinen Großeltern im galizischen Lemberg auf. Heute heißt der Ort Lwiw und ist in der Ukraine gelegen. Ein providentielles Ereignis nicht nur in biographischer, sondern auch in geistiger Hinsicht. Großvater Salomon Buber ist nicht nur ein erfolgreicher Kaufmann, sondern als Privatgelehrter einer der wichtigsten Forscher und Sammler auf dem Gebiet der chassidischen Tradition des osteuropäischen Judentums. Sein Enkel Martin wird dieser Tradition wie kein anderer Anerkennung im Westen verschaffen.

Über Bubers Schulzeit in Lemberg wissen wir wenig. Umso kostbarer ein Dokument, das Buber 1960, fünf Jahre vor seinem Tod, selber preisgibt. Der damals 82- Jährige legt „autobiographische Fragmente“ vor, darunter einen Text unter dem Titel „Die Schule“. Ein bemerkenswertes Signal nach einem ereignisreichen Leben und jahrzehntelangen Bemühungen um einen Dialog mit Christen. Der Altgewordene will offenbar der Öffentlichkeit noch einmal signalisieren, wo er herkommt und welche Erstbegegnung mit der christlichen Welt sein Leben geprägt hat.

Die Szene spielt im Kaiser-Franz-Joseph-Gymnasium zu Lemberg, das Buber in den Jahren 1888 bis 1896 besucht. Die Unterrichtssprache ist Polnisch, sind doch die Mitschüler zum größten Teil Polen katholischer Konfession. Juden sind nur als kleine Minderheit präsent. Persönlich kommen die Schüler gut miteinander aus, aber beide Gemeinschaften wissen – so Buber – „fast nichts voneinander.“

Vor 8 Uhr morgens mussten alle Schüler versammelt sein. Um 8 Uhr ertönte das Klingelzeichen;
einer der Lehrer trat ein und bestieg das Katheder, über dem an der Wand sich ein
großes Kruzifix erhob. Im selben Augenblick standen alle Schüler in ihren Bänken auf. Der
Lehrer und die polnischen Schüler bekreuzigten sich, er sprach die Dreifaltigkeitsformel und
sie sprachen sie ihm nach, dann beteten sie laut mitsammen. Bis man sich wieder setzen
durfte, standen wir Juden unbeweglich da, die Augen gesenkt.
Ich habe schon angedeutet, dass es in unserer Schule keinen spürbaren Judenhass gab;
ich kann mich kaum an einen Lehrer erinnern, der nicht tolerant war oder doch als tolerant
gelten wollte. Aber auf mich wirkte das pflichtmäßige tägliche Stehen im tönenden Raum der
Fremdandacht schlimmer, als ein Akt der Unduldsamkeit hätte wirken können. Gezwungene
Gäste; als Ding teilnehmen müssen an einem sakralen Vorgang, an dem kein Quentchen
meiner Person teilnehmen konnte und wollte; und dies acht Jahre lang Morgen um Morgen:
das hat sich der Lebenssubstanz des Knaben eingeprägt.
Es ist nie ein Versuch unternommen worden, einen von uns jüdischen Schülern zu bekehren;
und doch wurzelt in den Erfahrungen jener Zeit mein Widerwille gegen alle Mission.
Nicht bloß etwa gegen die christliche Judenmission, sondern gegen alles Missionieren unter
Menschen, die einen eigenständigen Glauben haben. Vergebens hat noch Franz Rosenzweig mich für den Gedanken einer jüdischen Mission unter Nichtjuden zu gewinnen gesucht.[2]

Eine kleine Szene zwar, aber sie ist von geradezu obsessiver Mächtigkeit. Hier sich bekreuzigende katholisch-polnische Schüler; hier christliche Gebete mit der Dreifaltigkeitsformel, laut gesprochen, und ein übermächtig-großes Kruzifix, welches das Katheder des Lehrers ins geradezu Metaphysische steigert – und dort die jüdischen Schüler: stumm, unbeweglich, die Augen gesenkt. Szenisch-symbolisch- körperlich kann Ausgrenzung kaum intensiver, kaum bitterer erfahren werden. Es braucht in der Tat die direkte Diskriminierung nicht, keinen „spürbaren Judenhass,“ keine „Akte der Unduldsamkeit“, um Erfahrungen mit der Welt des Christlichen traumatisch werden zu lassen. Juden sind unter Christen „gezwungene Gäste.“ Die jüdischen Schüler müssen einemreligiösen Akt beiwohnen, ohne mit einem „Quentchen“ ihrer Person teilnehmen zu können. Denn ihre Anwesenheit wird kalt ignoriert, als gäbe es sie nicht.

Acht Jahre lang erlebt Buber diese Szene, Morgen für Morgen, für die er das Wort „Fremdandacht“ prägt. Eine bemerkenswerte Wortschöpfung. Sie bringt die Entfremdungsgeschichte zwischen Juden und Christen „vor Gott“ plastisch ins Bild. Bubers Verhältnis zum Komplex „Christentum“ als soziokultureller Größe ist mit dieser Erfahrung ein für allemal vorgeprägt. Sie hat sich in die „Lebenssubstanz“ des Knaben ebenso eingeprägt wie der Widerwille „gegen die christliche Judenmission,“ ja „gegen alles Missionieren unter Menschen“ überhaupt, „die einen eigenständigen Glauben haben.“ Kein Zufall somit, dass der alt gewordene Martin Buber diese Szene ganz bewusst noch einmal der bleibenden Erinnerung überliefert. Und man versteht von daher auch das Zeugnis eines polnischen Mitschülers von Buber aus den Lemberger Jahren besser, von Witold O., der 1962 auf die Zusendung der „Autobiographischen Fragmente“ Bubers in einem Brief festhält: „Das Christentum, in dem ich so tief verwurzelt war, Dir war es verhasst. Wie gut erinnere ich mich noch an Deinen Ausspruch: Schade um die schönen Glockenklänge für diese christliche Religion!“[3]

„Jüdische Renaissance“:
Konsequenzen für das Bild vom Christentum

Für die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg zeichnen sich zwei gegenläufige Bewegungen in Bubers Entwicklung ab. Zum einen eignet er sich vor allem durch Universitätsstudien in europäischen Zentren wie Wien, Leipzig, Zürich und Berlin ein breites Wissen der europäisch-christlich geprägten Geistes- und Kulturgeschichte an, namentlich in Philosophie, Geschichte, Psychologie und Kunstgeschichte. Den „autobiographischen Fragmenten“ zufolge haben auf Buber vor allem Immanuel Kants „Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik“ sowie Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ nachhaltigen Eindruck gemacht. Insbesondere die Nietzsche-Lektüre „bemächtigt“ sich seiner derart, dass Buber sich entschließt, den „Zarathustra“ ins Polnische zu übersetzen, ein Plan, der über Anfänge nicht hinauskommt und schließlich fallen gelassen wird. Bezeichnend auch: Unter dem Stichwort „Wien“ gibt es in den „Autobiographischen Fragmenten“ Fingerzeige vor allem auf das „Burgtheater“: auf die Welt der hier zu findenden Dramen, des „‚richtig‘ gesprochenen Menschenworts“, „der Fiktion aus Fiktion.“ All dies schlägt den jungen Buber in seinen Bann.

Sichtbarer Ausdruck dieser frühen Auseinandersetzung mit der europäisch christlich geprägten Kultur ist Bubers 1904 an der Universität Wien in den Fächern Philosophie und Kunstgeschichte abgelegte Promotion. Die eingereichte Dissertation über zwei christliche Denker (Nikolaus von Kues und Jakob Böhme) trägt den Titel: „Beiträge zur Geschichte des Individuationsproblems.“ Vor allem aber seine seit 1904 erfolgenden Studien zur Geschichte der Mystik zeigen, wie breit Buber in dieser Zeit kultur- und religionsgeschichtlich orientiert ist. Das findet seinen besonderen Ausdruck in zwei Publikationen. 1909 erscheint eine Sammlung mystischer Texte unter dem Titel Ekstatische Konfessionen. Überraschend hat Buber hier nicht nur Zeugnisse klassischer europäisch-christlicher Mystik vom 12. bis zum 19. Jahrhundert aufgenommen, sondern auch Texte aus der Welt Indiens, Chinas und des Orients. Mehr noch: 1910 erscheint eine Sammlung von Reden und Gleichnissen des taoistischen Klassikers Tschuang-Tse (ca. 370–ca. 300 v.Chr.). Buber präsentiert sie nicht aus dem chinesischen Original, entnimmt sie vielmehr einer englischen Ausgabe. Seine als Nachwort dem Buch mitgegebene Abhandlung „Die Lehre vom Tao“ allerdings ist ein Meilenstein deutschsprachiger Taoismus-Rezeption.[4]

Zum anderen setzt bei Buber gleichzeitig vor dem ersten Weltkrieg eine neue Hinwendung zum Judentum ein. In der Zwischenzeit hatte der Wiener Publizist Theodor Herzl (1860 –1904) seine programmatische Schrift Der Judenstaat (1896) erscheinen lassen und damit der Bewegung des Zionismus gewaltigen Auftrieb gegeben. Buber schließt sich bereits als Student in Leipzig 1898/99 der Bewegung des Zionismus an, ohne sich aber völlig mit dessen politischen Zielen zu identifizieren. Angesichts vielfacher geistiger Auszehrung jüdischer Identität liegt sein Schwerpunkt auf einer kulturellen Erneuerung. Die geistigen und ethischen Werte des jüdischen Volkes gilt es zu revitalisieren. Zionismus als Bewegung zur Gewinnung einer jüdischen Identität ja, aber Kulturzionismus, das ist Bubers Schwerpunkt von Anfang an. Dabei ist Buber nicht gegen die Schaffung einer Heimstadt des jüdischen Volkes in Palästina, worauf dem politischen Zionismus alles ankommt. Aber wenn schon soll dessen Ausstrahlung eine Renaissance des jüdischen Geistes in der Diaspora befördern. Kulturzionismus geht es um „Gegenwartsarbeit“: um die Stärkung des jüdischen Gemeinschaftsbewusstseins und die Förderung einer eigenständigen kulturellen Identität in Deutschland.

Der Anschluss an die zionistische Bewegung kommt für Buber einer „Befreiung“ gleich, der Befreiung aus einem wurzellosen europäischen Intellektualismus, der über alles reden kann und sich an nichts bindet. Buber selber spricht in der Rückschau[5] von einer „Wiederherstellung des Zusammenhangs,“ von einer „erneuten Einwurzelung in die Gemeinschaft,“ von einer „rettenden Verbindung mit einem Volkstum.“ Keiner bedürfe all dessen so sehr, „wie der vom geistigen Suchen ergriffene, vom Intellekt in die Lüfte entführte Jüngling; unter den Jünglingen dieser Art und dieses Schicksals aber keiner so sehr wie der jüdische.“[6] In der Tat ist insbesondere der Chassidismus eine der großen Entdeckungen Bubers im Prozess kulturzionistischer Erneuerung: eine mystisch-charismatische Frömmigkeitsbewegung im osteuropäischen Judentum seit dem 18. Jahrhundert. Hier glaubt er, die noch unverbrauchte geistige Kraft des Judentums gefunden zu haben. „Urjüdisches,“ wie er meinte, sei ihm in den Texten der chassidischen Meister aufgegangen, Urjüdisches, das „im Dunkel des Exils zu neubewusster Äußerung aufgeblüht“ sei: die „Gottesebenbildlichkeit des Menschen als Tat, als Werden, als Aufgabe gefasst.“ „Urjüdisches,“ das für Buber zugleich „Urmenschliches“ ist, „der Gehalt menschlichster Religiosität“ schlechthin.[7] 1906 beginnt Buber mit einer ersten Publikation chassidischer Texte: Die Geschichten des Rabbi Nachman, gefolgt 1908 von Die Legende des Baalschem. Und mit diesen Texten „im Rücken“ geht Buber nun auch in die Auseinandersetzung mit dem Komplex „Christentum.“ Sie haben sein Selbstbewusstsein als genuin jüdischer Denker in besonderer Weise gestärkt.

Erster Höhepunkt einer durch Buber nun programmatisch vollzogenen Jüdischen Renaissance sind die drei in Prag 1909 und 1910 gehaltenen „Reden über das Judentum.[8] Und wir registrieren: Die geistige Neubestimmung des Judentums ist bei Buber zugleich eine Auseinandersetzung mit den Ursprüngen des Christentums. Erstmals greifen wir in diesen Reden programmatische Äußerungen zum Urchristentum und zur Gestalt Jesu und zwar in scharfer Abgrenzung zu dem, was Buber schon hier und künftig pauschal „das Christentum“ nennt. Er versteht darunter einen von jüdischen Wurzelboden abgelösten, unter den Bedingungen der hellenistisch-römischen Kultur gewachsenen geschichtlichen Komplex. „Ur- Christentum“ und die Gestalt Jesu aber werden von Buber jetzt und künftig ausschließlich von ihren jüdischen Voraussetzungen her verstanden. Ur-Christentum müsse eigentlich „Ur-Judentum“ heißen, erklärt Buber in seiner dritten Prager Rede, denn es habe „mit dem Judentum weit mehr als mit dem zu schaffen, was man heute als Christentum“ bezeichne.[9] Buber spitzt seine mittlerweile gewonnenen Einsichten in dieser Rede so zu:

Was an den Anfängen des Christentums nicht eklektisch, was daran schöpferisch war, das war ganz und gar nichts anderes als Judentum. Es war jüdisches Land, in dem diese Geistesrevolution entbrannte; es waren uralte jüdische Lebensgemeinschaften, aus deren Schoße sie erwacht war; es waren jüdische Männer, die sie ins Land trugen; die, zu denen sie sprachen, waren – wie immer wieder verkündet wird – das jüdische Volk und kein anderes; und was sie verkündeten, war nichts anderes als die Erneuerung der Religiosität der Tat im Judentum. Erst im synkretistischen Christentum des Abendlandes ist der dem Okzidentalen vertraute Glaube zur Hauptsache geworden; im Mittelpunkt des Urchristentums steht die Tat […] Und können wir nicht denen, die uns neuerdings eine ‚Fühlungnahme’ mit dem Christentum anempfehlen, antworten: Was am Christentum schöpferisch ist, ist nicht Christentum, sondern Judentum, und damit brauchen wir nicht Fühlung zu nehmen, brauchen es nur in uns zu erkennen und in Besitz zu nehmen, denn wir tragen es unverlierbar in uns; was aber am Christentum nicht Judentum ist, das ist unschöpferisch, aus tausend Riten und Dogmen gemischt, – und damit – das sagen wir als Juden und als Menschen – wollen wir nicht Fühlung nehmen. Freilich dürfen wir dies nur antworten, wenn wir den abergläubischen Schrecken, den wir vor der nazarenischen Bewegung hegen, überwinden und sie dahin einstellen, wohin sie gehört: in die Geistesgeschichte des Judentums.[10]

„Abergläubischer Schrecken vor der nazarenischen Bewegung“! „Nicht Fühlung nehmen“! Die Sprache ist kämpferisch. Der frühe Buber setzt sie gezielt ein, und ihre psychologische Funktion ist offensichtlich. Vergessen wir nicht: Adressat der Reden ist ein jüdisches Publikum im Prozess des Ringens um eine eigene Identität. Wer wie Buber „Schrecken“ beschwört, weiß um die Angst von Minderheitskulturen in Mehrheitsgesellschaften. Wer „das Christentum“ zur „nazarenischen Bewegung“ verkleinert, auf einen unschöpferischen, weil angeblich synkretistischen Mix aus „tausend Riten und Dogmen“ reduziert und in seinen Ursprüngen „in die Geistesgeschichte des Judentums“ verweist, der tut das, weil das Gegenüber von geschichtlicher Übermächtigkeit ist.

Bubers Bild von Jesus

Bubers Jesus-Bild muss vor dem Hintergrund dieser kulturgeschichtlich folgenreichen Entwicklung gesehen werden. Schon 1914 formuliert er Einsichten und Überzeugungen[11], an denen er – bei allen Wandlungen in Ton und Stil – der Sache nach auch künftig festhalten wird:

(1) Das Urchristentum ist eine radikaljüdische Bewegung. Sie ist Buber wichtig, nicht weil, sondern obwohl sie im Christentum mündete, in einem Christentum, in dem „alle jüdischen Elemente nicht entfaltet, sondern entstellt“ worden seien.

(2) Zu unterscheiden ist zwischen Jesus als glaubendem Menschen, als Subjekt seiner eigenen Religiosität, und Jesus als Objekt von Religiosität, als „Gegenstand“ des Glaubens. Jesu Religiosität ist für Buber tief geprägt vom Judentum seiner Zeit, so wie die des Sokrates vom Griechentum und die des Buddha vom Indertum. Insofern ist sie Juden tief vertraut. Die „Objektivierung“ Jesu als Glaubensinhalt und -gegenstand dagegen bezeichnet Buber schon 1914 als für Juden als „auf immer unüberwindlich fern und fremd“. Das lässt sich auf die Formel bringen: Ernstnehmen der Botschaft Jesus ja, ein Bekenntnis zu ihm als jüdischem Messias (griechisch: der Christus) oder Sohn Gottes – nein. Eine Christologie, sei sie paulinischer oder johanneischer Provenienz, bleibt Buber ein für allemal „fern und fremd.“

(3) Die unüberwindliche Ferne und Fremdheit wird von Buber in dieser Zeit unmittelbar vor dem ersten Weltkrieg mit geradezu militärischen Bildern zum Ausdruck gebracht: kein „Frieden“, kein „Waffenstillstand“. Ein scharfer Antagonismus kommt herein zwischen „reinen und ganzen Juden“ sowie der „weltbeherrschenden christlichen Kirche.“ Ein Antagonismus, der dadurch entsteht, dass Buber der Kirche die „Usurpation jüdischen Urbesitzes“ vorwirft. Mit dem neu gewonnenen Selbstbewusstsein jüdischer Gläubigkeit hält er dem den „ewigen Anspruch“ des Judentums entgegen, „die wahre Ekklesia, die Gemeinde Gottes zu sein.“

Deutschtum und Judentum – vereinbar?
Der „Fall Kittel“

Dieses demonstrative Selbstbewusstsein hat mit dem ständig neu geforderten Legitimationsnachweis jüdischer Denker angesichts einer christlichen Mehrheitskultur zu tun. Es ist ein „Schrei“ nach Anerkennung, der freilich vielfach „ins Leere“ geht, weil er von der Gegenseite überhört oder nicht ernst genommen wird. Jüdische Denker sind immer wieder neu gezwungen – so Christian Wiese in einer bedeutenden Untersuchung aus dem Jahre 1999 zu Recht – „gegen Vereinnahmung, missionarische Intentionen und exklusive Wahrheitsansprüche“ ihr eigenes zu setzen.“[12]

Mehr noch: Juden in Deutschland sind immer wieder neu lauernden Fragen ausgesetzt, ob sie sich als Juden wirklich dem deutschen Staat vollgültig zugehörig fühlen. Müssen Juden ihr Judentum nicht ablegen und sich zum Christentum bekehren, um gleichberechtigte deutsche Bürger zu sein? Buber muss noch gegen Ende des ersten Weltkriegs zu solchen Fragen Stellung nehmen – 100 Jahre Judenemanzipation in Deutschland zum Trotz.[13] Solch ständig lauerndes Misstrauen, solche Bekehrungserwartung und solcher Loyalitätsdruck machen die Stellung von Juden in Deutschland nach wie vor prekär.

Wie prekär, zeigt spätestens das Jahr 1933. In diesem Schicksalsjahr Deutschlands wird Buber durch einen protestantischen Theologen der Universität Tübingen in eine offene Auseinandersetzung gezogen.[14] Der Hintergrund: Der Tübinger evangelische Neutestamentler Gerhard Kittel (1888–1948), als Mitbegründer und Herausgeber eines großen wissenschaftlichen Grundlagenwerks (Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. I 1933) eine anerkannte Autorität in seinem Fach, tritt im Juni 1933 mit einer Broschüre unter dem Titel „Die Judenfrage“ an die Öffentlichkeit. Gerade als christlicher Theologe fühlt er sich berufen, in einer Frage der aktuellen deutschen Politik, in der „eine besonders große Unsicherheit und Hilflosigkeit“ herrsche, Klarheit zu schaffen und Vorschläge zu unterbreiten, was mit „dem Judentum“ zu geschehen habe. Ein maßloses Ansinnen im Ungeist politischer Verblendung. Immerhin hatten die Nazis und ihre Helfershelfer in Deutschland nach der „Machtergreifung“ Adolf Hitlers Ende Januar 1933 bereits gegen jüdische Mitbürger zu wüten begonnen. Am1. April 1933 war es erstmals zum Boykott jüdischer Geschäfte gekommen: ein erster, gezielter Akt öffentlichen Terrors gegen Mitbürger jüdischer Herkunft. Am 7. April war das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ erlassen worden, und mit diesem Paragraphenwerk, das den berühmt-berüchtigten „Arierparagraphen“ enthält (Juden sind vom aktiven Staatsdienst ausgeschlossen) hatte die systematische rechtliche Diskriminierung für Juden in Deutschland begonnen. Welche Art von „Klarheit“ will Gerhard Kittel schaffen, um klarzustellen, was mit „dem“ Judentum zu geschehen habe?

Gleich zu Beginn seiner Einleitung zählt dieser „christliche“ Theologe in kältester Bürokratenprosa vier Optionen auf, wie man mit „dem Judentum“ verfahren könne:

1) Man kann die Juden auszurotten versuchen (Pogrome);
2) man kann den jüdischen Staat in Palästina oder anderswo wiederherstellen
und dort die Juden der Welt zu sammeln versuchen (Zionismus);
3) man kann das Judentum in den anderen Völkern aufgehen lassen (Assimilation);
4) man kann entschlossen und bewusst die geschichtliche Gegebenheit einer
‚Fremdlingschaft‘ unter den Völkern wahren[15],

Kittel argumentiert nun messerscharf und eiskalt für die vierte Option. Die ersten beiden hält er für politisch aussichtslos, die dritte für selbstwidersprüchlich; sie liefe auf eine Selbstaufgabe des Judentums hinaus. Die vierte Option dagegen hält Kittel für sachgemäß, weil sie dem Status entspreche, den Gott dem jüdischen Volk von jeher auferlegt habe. Das Judentum brauche als Religion (auf der Basis seines Religionsgesetzes) einen Sonderstatus innerhalb der Völkerwelt, meint Kittel. Es müsse sich abgrenzen und habe von daher notwendigerweise einen Fremdlingsstatus. Rechtliche Gleichstellung im bürgerlichen Sinn könne von daher nicht in Frage kommen. Judentum in der Völkerwelt könne es nur als „Gastjudentum“ geben, und dies angeblich nach dem Selbstverständnis des Judentums selber:

Dagegen hat das echte, fromme Judentum selbst zu allen Zeiten die klare Erkenntnis festgehalten, welcher Fluch die Assimilation ist. Eines der Grundgesetze, dass die alttestamentlichen Propheten nicht müde werden zu verkündigen, ist dieses: dass Vermischung mit den anderen Völkern die schwerste Sünde für Israel sei. Das Alte Testament bestraft diese Sünde mit Ausrottung. Dieser Kampf um die Reinheit Israels durchzieht das gesamte Alte Testament von der Zeit des Mose bis zur Zeit nach dem Exil. Der Bestand des Ghetto durch die Jahrhunderte hin war ja nicht nur durch den Zwang von außen gewährleistet, sondern auch durch den Willen von innen. Der fromme alte Ostjude verflucht noch heute seinen Sohn, wenn dieser in die Assimilation und in das Konnubium mit der Nichtjüdin geht. Das echte Judentum wusste zu allen Zeiten und weiß es auch heute noch: Volksvermischung und Rassenvermischung heißt: sich selbst verlieren, heißt: Dekadenz. Assimilisation ist Sünde und Übertretung eines von Gott in Volk und Völker gesetzten Willens.[16]

Und weil dies für Kittel das Verständnis des Judentums selber ist, kann es deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens nicht geben. Der Jude, eben weil er Gast sei, müsse auf „jeden maßgebenden Einfluss verzichten,“ und zwar „in den Dingen, die deutsches Staats- und Volksleben, deutsche Kultur und deutsche Geistesbildung“ beträfen.[17] Das gelte auch für die deutsche Literatur. Kittel wörtlich: „Ebenso muss gelten, dass der Angehörige des fremden Volkes in der deutschen Literatur nichts zu suchen hat.“[18]

Vorgetragen war dies alles mit der Autorität eines christlichen Exegeten, der das Judentum noch besser zu kennen meint als Juden selber. Das ist provozierend genug. Für Buber aber musste es besonders provozierend erscheinen, dass Kittel ausgerechnet ihn, Buber, mit anderen Vertretern des zeitgenössischen Judentums als Bundesgenossen für sein Ansinnen glaubte beanspruchen zu können. Innerhalb der Judenschaft selber seien ja Bemühungen im Gange, meint Kittel, „in dem die Fremdlingschaft bejahenden Judentum eine lebendige Religion zu erwecken.“[19] Bemühungen also, eine „Verflachung des Liberalismus“ wie eine „Vertrocknung der Orthodoxie“ zu überwinden“. Und Kittel fügt hinzu: „Vielleicht ist in Martin Buber den Juden noch einmal ein Führer auf solchem Wege geschenkt, wenn er auch bisher stark mit dem zionistischen Ideal verbunden war. Seine Lebensarbeit um eine Erweckung der Religion der Väter und sein Ringen um die Seele seines Volkes kann und soll auch der Deutsche, und vollends der deutsche Christ, in Ehrfurcht und Achtung grüßen.“[20]

Kittel schickt Buber seine Schrift am 13. Juni 1933 zu.[21] Buber antwortet mit einem „Offenen Brief an Gerhard Kittel[22] und weist – im Ton auffallend sachlich und unpolemisch – Kittels Argumentation souverän zurück. Er muss denn auch angesichts der politischen Lage in Deutschland vorsichtiger sein als etwa Gershom Scholem (1897–1982), einem der großen Gelehrten des deutschsprachigen Judentums im 20. Jahrhundert, der schon 1923 nach Palästina eingewandert war und Bahnbrechendes zur wissenschaftlichen Erforschung der jüdischen Mystik leisten wird. In einem persönlichen Brief an Buber aus Jerusalem (24. August 1933) kann Scholem seinen Gefühlen von „Ekel“ und „Empörung“ freien Lauf lassen kann. Kittels „Broschüre“ sei unter allen „schmachvollen Dokumenten eines beflissenen Professorentums“ gewiss „eines des schmachvollsten“, schreibt Scholem: „Welche Verlogenheit, welch zynisches Spiel mit Gott und Religion.“[23]

„Die Welt ist unerlöst“:
Ablehnung der Messianität Jesu

Wir müssen stets die prekäre Situation von Juden in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Blick behalten, wenn wir Bubers Auseinandersetzung mit „dem Christentum“ verstehen wollen. Biographisch ist dabei wichtig: Solange es die politischen Verhältnisse zulassen, versucht Buber auch nach 1933 noch, seine Stellung als Lehrer und Forscher in Nazi – Deutschland zu behaupten. 1938 muss auch er gehen. Er verlässt sein Haus in Heppenheim an der Bergstraße, in dem er 22 Jahre gelebt hatte und siedelt mit der Familie nach Jerusalem über. Umgekehrt aber gilt mit Buber jetzt auch: Jüdische Gelehrte stellen ganz neu mit eigenem argumentativen Gewicht „dem Christentum“ ihrerseits die Legitimationsfrage – 2000 Jahre christlicher Dominanz hin oder her. Man mache sich klar: Indem Buber Jesusganz für das Judentum reklamiert, entzieht er faktisch dem christlichen Glauben die Legitimationsbasis, sich auf Jesus als den Christus zu berufen. Kann man, wird später der evangelische Theologe Gerhard Ebeling in selbstkritischer Auseinandersetzung mit Buber fragen, „den christlichen Glauben radikaler in Frage stellen, als wenn man ihn im Namen Gottes um des Glaubens willen unter Berufung auf Jesus in Frage stellt?“[24]

Warum aber ist Buber in der Frage der Christologie, sprich: der Messianität Jesu so entschieden negativ? Weil aus seiner jüdischen Sicht das Erscheinen des Messias mit der Erlösung der Schöpfung zusammenfällt. Dies geht bereits aus einer Stellungnahme Bubers vom November 1917 hervor. Ein christlicher Gesprächspartner hatte behauptet, „nichts“ stünde doch im Weg, Jesus als den Messias der Welt anzusehen, der „das geläuterte Judentum der aus ihrem Götzendienst zu befreienden Welt gebracht“ habe. Buber hält dagegen:

Wer ‚die Welt‘, richtiger einen Teil der Menschheit vom Götzendienst befreit, heiße er nun Jesus oder Buddha, Zarathustra oder Laotse, hat keinen Anspruch auf den Namen des ‚Messias der Welt‘; der käme nur dem zu, der die Welt erlöste. Läuterung der Religiosität, Monotheisierung, Christianisierung, all das bedeutet nicht Erlösung der Menschheit. Erlösung – das ist eine Verwandlung des ganzen Lebens von Grund aus, des Lebens aller Einzelnen und aller Gemeinschaften. Die Welt ist unerlöst – fühlen Sie das nicht wie ich in jedem Blutstropfen?[25]

„Die Welt ist unerlöst, fühlen Sie das nicht in jedem Blutstropfen?“ Das Pathos ist gewollt. Für einen Juden steht hier Entscheidendes auf dem Spiel. Und wie sehr sich dieses Pathos durchhalten kann, zeigt ein Buber-Text, der knapp 30 Jahre später entstand – nach der Schoah.[26] Ist sie nicht das grauenhafteste Zeichen für die Unerlöstheit der Welt? Nichts widerlegt doch christlich-messianische Ansprüche stärker als das,was Juden hier angetan wurde. In diesem kurzen Text aus dem Jahr 1945 zum Gedenken an den Schweizer evangelischen Theologen Leonhard Ragaz (1868–1945) hat Buber in einer wahrlich klassischen Weise noch einmal seinen Vorbehalt gegen jegliche Christologie angemeldet:

Aber ich glaube ebenso fest daran, dass wir Jesus nie als gekommenen Messias anerkennen werden, weil dies dem innersten Sinn unserer messianischen Leidenschaft (…) widersprechen würde. In das mächtige Seil unseres Messiasglaubens, das, an einen Fels im Sinai geknüpft, sich bis zu einem noch unsichtbaren, aber in den Grund der Welt gerammten Pflocke spannt, ist kein Knoten geschlagen. Für unseren Blick geschieht Erlösung allezeit, für ihn ist keine geschehen. Am Schandpfahl der Menschheit stehend, gegeißelt und gefoltert, demonstrieren wir mit unserem blutigen Volksleib die Unerlöstheit der Welt.[27]

Von Zwiesprache und Begegnungen:
„Ich und Du“ (1923)

Mit dem Jahr 1923 wird vieles bei Buber anders. In diesem Jahr publiziert er ein Buch, das eine Schlüsselbedeutung in seinem Werk einnehmen wird: die Abhandlung zur Philosophie des Dialogs: „Ich und Du“ (1923).Werk und Wirkung dieser Schrift sind zu komplex, um hier in Einzelheiten gehen zu können. Nur der Grundgedanke sei heraus gestellt. Programmatisch beginnt das Buch mit den Sätzen:

Die Welt ist dem Menschen zwiefältig nach seiner zwiefältigen Haltung.
Die Haltung des Menschen ist zwiefältig nach der Zwiefalt der Grundworte, die er sprechen
kann.
Die Grundworte sind nicht Einzelworte, sondern Wortpaare.
Das eine Grundwort ist das Wortpaar Ich-Du.
Das andere Grundwort ist das Wortpaar Ich-Es; wobei, ohne Änderung des Grundwortes, für Es auch eins der Worte Er und Sie eintreten kann.
Somit ist auch das Ich des Menschen zwiefältig.
Denn das Ich des Grundwortes Ich-Du ist ein andres als das des Grundwortes Ich-Es.[28]

Buber hat wie kaum ein anderer zuvor erkannt und in verdichteter Form zum Ausdruck gebracht, dass Menschsein sich in den beiden Wortpaaren Ich-Du und Ich-Es beschreiben lässt. Diese Struktur ist gewissermaßen „immer schon“ gegeben. Sie ist nicht etwas, was Menschen nachträglich machen oder setzen. Sie ist in dem Moment gegeben, wo Menschen „Ich“ sagen, sich als „Ich“ erkennen. Denn ein Ich setzt immer ein Du voraus, ein Du immer ein Ich. Zugleich ist das Ich immer schon auf ein Es bezogen, „Es“ im Sinne von Sachen, Gegenständen, Objekten wobei „Es“ auch ein Er oder ein Sie meinen kann. „Er“ und „Sie“ im Sinne eines verobjektivierten personalen Gegenübers, das gerade kein Du ist.

Woraus folgt: Nicht das „Ich“ für sich genommen interessiert Buber. Ihn interessiert das Mit-Sein, die Tatsache, dass das Ich stets nur Ich ist im Verhältnis zu einem Gegenüber. Nicht das An-sich-Sein, die Beziehung interessiert ihn, die Dynamik der Beziehung, die Wechselseitigkeit der Beziehung. Buber selber hat hier stets das Kernanliegen seines gesamten Lebenswerkes gesehen. In einer seiner „autobiographischen Fragmente“ heißt es:

Soll ich einem Fragenden Auskunft geben, welches denn das in gedanklicher Sprache aussagbare Hauptergebnis meiner Erfahrungen und Betrachtungen sei, dann ist mir keine andere Erwiderung gegeben, als mich zu dem Fragenden und mich umfassenden Wissen zu bekennen: Mensch sein heißt, das gegenüber seiende Wesen sein. Die Einsicht in diesen schlichten Sachverhalt ist im Gang meines Lebens gewachsen. Wohl sind allerhand andere Sätze gleichen Subjekts und ähnlicher Konstruktion geäußert worden, und ich halte manche davon durchaus nicht für unrichtig; mein Wissen geht nur eben dahin, dass es dies ist, worauf es ankommt. In dem Satze ist der bestimmte Artikel voll betont. Alle Wesen in der Natur sind ja in ein Mit-Anderen-Sein gestellt, und in jedem Lebendigem tritt dies als Wahrnahme des Andern und Handlung am Andern ins Werk. Menscheneigentümlichkeit aber ist, dass einer je und je des Andern als dieses ihm gegenüber Bestehende inne werden kann, dem gegenüber er besteht.[29]

„Wahrnahme“ des je Anderen aber geschieht durch Begegnungen. Und es gibt sie in Bubers Werk, solche Momente der Begegnung, solche Augenblicke der Zwiesprache mit dem „Du“, die alles plötzlich verändern. In persönlichen Begegnungen mit einem „Du“ ereignet sich für Buber Offenbarung. Nicht bloß am „Sinai“, stets und immer sind in und durch Begegnungen „Offenbarungen“ möglich. Einer dieser Momente in Bubers Leben ist unauslöschlich mit dem Namen eines Freundes verbunden. Er heißt Florens Christian Rang (1864–1924),war einstmals evangelischer Pfarrer gewesen und arbeitet später als Jurist. Es ist Pfingsten 1914. Eine international zusammengesetzte Gruppe engagierter Zeitkritiker und Reformer trifft sich in Potsdam („Forte-Kreis“), um, wie Buber sich erinnert, im „unbestimmten Vorgefühl der Katastrophe einen Versuch zur Aufrichtung einer übernationalen Autorität vorzubereiten.“[30] Im Verlauf der Aussprache trägt Rang Bedenken vor. Bei der Zusammensetzung der Gruppe seien „zu viele Juden genannt worden, so dass etliche Länder in ungehöriger Proportion durch die Juden vertreten“ seien. Buber ist dieser Einwand nicht fremd, glaubt aber doch, als „hartnäckiger Jude“ gegen diesen „Protest“ protestieren zu müssen:

Ich weiß nicht mehr, auf welchem Weg ich dabei auf Jesus zu sprechen kam und darauf, dass wir Juden ihn von innen her auf eine Weise kennten, eben in den Antrieben und Regungen seines Judenwesens, die den ihm untergebenen Völkern unzugänglich bleibe. ‚Auf eine Weise, die Ihnen unzugänglich bleibt‘ – so sprach ich den früheren Pfarrer [Rang] unmittelbar an. Er stand auf, auch ich stand, wir sahen einander ins Herz der Augen. ‚Es ist versunken‘, sagte er, und wir gaben einander vor allen den Bruderkuss. Die Erörterung der Lage zwischen Juden und Christenhatte sich in einen Bund zwischen dem Christen und dem Juden verwandelt; in dieser Wandlung erfüllte sich die Dialogik. Die Meinungen waren versunken, leibhaft geschah das Faktische.[31]

Eine autobiographische Schlüsselszene, die in ihrer Bedeutung derjenigen gleichkommt, von der wir ausgegangen sind: der „Fremdandacht“ im Kaiser- Franz-Josephs-Gymnasium zu Lemberg. Machen wir uns die „Wandlung“ bei Buber klar. Damals waren Juden „gezwungene Gäste“ in einer christlich dominierten Anstalt, jetzt sind Juden Partner in einer internationalen Koalition von politisch-religiös Gleichgesinnten. Damals ein Dabeisein an einem „sakralen Vorgang“ ohne ein „Quentchen“ der eigenen Person, jetzt der Blick in das „Herz der Augen“, der „Bruderkuss“ mit einem Christen. Damals das Gefühl des Ausgeschlossenseins und der Teilnahmslosigkeit auf Seiten der Juden, jetzt ein „Bund zwischen dem Christen und dem Juden“. Damals das Absolvieren eines pflichtmäßigen Rituals, jetzt die Wandlung zur „Dialogik“. Damals die „Vergegnung“, jetzt die „Begegnung“.

Eine zweite Szene dieser Art ist in den „Autobiographischen Fragmenten“ überliefert. Buber ist Anfang er 1920er Jahre eingeladen, in einer deutschen Universitätsstadt einen theologischen Vortrag zu halten. Während seines Aufenthaltes ist er zu Gast bei einem „edlen alten Denker“ dieser Universität, einem Philosophen. Man kommt ins Gespräch. Wie er, Buber, es fertig brächte, will sein Gastgeber wissen, so Mal um Mal „Gott“ zu sagen. Dieses Wort sei doch „so missbraucht, so befleckt, so geschändet worden“ wie kein anderes. Wie viel schuldloses Blut sei um dieses Wortes willen vergossen worden. Wie viel an Ungerechtigkeit begangen! Wenn er, der alte Mann, „Gott“ höre, komme ihm das zuweilen wie eine Lästerung vor. Und Buber antwortet:

‚Ja‘, sagte ich etwa, ‚es ist das beladenste aller Menschenworte. Keines ist so besudelt, so zerfetzt worden. Gerade deshalb darf ich darauf nicht verzichten. Die Geschlechter der Menschen haben die Last ihres geängstigten Lebens auf dieses Wort gewälzt und es zu Boden gedrückt; es liegt im Staub und trägt ihrer aller Last. Die Geschlechter der Menschen mit ihren Religionsparteiungen haben das Wort zerrissen; sie haben dafür getötet und sind dafür gestorben; es trägt ihrer aller Fingerspur und ihrer aller Blut. Wo fände ich ein Wort, das ihm gliche, um das Höchste zu bezeichnen! Nähme ich den reinsten, funkelndsten Begriff aus der innersten Schatzkammer der Philosophen, ich könnte darin doch nur ein unverbindliches Gedankenbild einfangen, nicht aber die Gegenwart dessen, den ich meine, dessen, den die Geschlechter der Menschen mit ihrem ungeheuren Leben und Sterben verehrt und erniedrigt haben. Ihn meine ich ja, ihn, den die höllengepeinigten, himmelstürmenden Geschlechter der Menschen meinen. Gewiss, sie zeichnen Fratzen und schreiben ‚Gott‘ darunter; sie morden einander und sagen, ‚im Namen Gottes‘. Aber wenn aller Wahn und Trug zerfällt, wenn sie ihm gegenüberstehn im einsamsten Dunkel und nicht mehr ‚Er, er‘ sagen, sondern ‚Du, Du‘ seufzen, ‚Du‘ schreien, sie alle das Eine, und wenn sie dann hinzufügen ‚Gott‘, ist es nicht der wirkliche Gott, den sie alle anrufen, der Eine Lebendige, der Gott der Menschenkinder? Ist nicht er es, der sie hört? Der sie – erhört? Und ist nicht eben dadurch das Wort ‚Gott,‘ das Wort des Anrufs, das zum Namen gewordene Wort, in allen Menschensprachen geweiht für alle Zeiten? Wir müssen die achten, die es verpönen, weil sie sich gegen das Unrecht und den Unfug auflehnen, die sich so gern auf die Ermächtigung durch ‚Gott‘ berufen; aber wir dürfen es nicht preisgeben. Wie gut lässt es sich verstehen, dass manche vorschlagen, eine Zeit über von den ‚letzten Dingen‘ zu schweigen, damit die missbrauchten Worte erlöst werden! Aber so sind sie nicht zu erlösen. Wir können das Wort ‚Gott‘ nicht reinwaschen,und wir können es nicht ganzmachen; aber wir können es, befleckt und zerfetzt wie es ist, vom Boden erheben und aufrichten über einer Stunde großer Sorge.‘ Es war sehr hell geworden in der Stube. Das Licht floss nicht mehr, es war da. Der alte Mann stand auf, kam auf mich zu, legte mir die Hand auf die Schulter und sprach: ‚Wir wollen uns du sagen.‘ Das Gespräch war vollendet. Denn wo zwei wahrhaft beisammen sind, sind sie es im Namen Gottes.[32]

Dass Buber auch ein glänzender Erzähler ist, zeigt allein dieser Text. Souverän beherrscht er die narrative Dramaturgie, weiß Spannungsbögen zu setzen, Pointen einzubauen. Man beachte die inszenierten Momente von Körperlichkeit und Räumlichkeit, die dem Text einen wirksamen Abschluss geben. Am Ende der Zwiesprache ist das Zimmer „sehr hell geworden.“ Licht ist auf einmal „da,“ das uralte Symbol für Klarheit und Vernunft. Der Partner erhebt sich, tritt auf Buber zu, berührt ihn durch Auflegen seiner Hand auf die Schulter. Durch dialogischen Austausch ist jetzt eine tiefe, persönliche Beziehung von Mensch zu Mensch entstanden. „Begegnung“ im besten Sinn des Wortes hat stattgefunden, der „Kairos“ einer Zwiesprache. Kein Zufall somit, dass Buber dieses Ereignis mit einem „Bibelwort“ überhöhen und so ins Grundsätzliche und Prinzipielle heben kann: „Denn wo zwei oder drei wahrhaft beisammen sind, sind sie es im Namen Gottes.“ Buber hat damit ein Jesus-Wort (Mt 18,20) gezielt „theozentrisch“ und damit „gut jüdisch“ für seine Zwecke umgeschrieben und damit am Ende des Textes dem so „beladenen“ Wort Gott doch eine unverzichtbare Bedeutung wieder gegeben.

Was sind „echte Religionsgespräche“?

Wir halten fest: Mit diesen beiden autobiographischen Schlüsselszene hat Buber eine der Geburtsstunden dessen beschrieben, was man in seinem Sinne Begegnungen (statt Vergegnungen) nennen kann, besser: Zwiesprache von Person zu Person. Das ist wohl zu unterscheiden vom Streit um Glaubensinhalte. Beides wird künftig sein Verhältnis zu Christen als glaubenden Menschen bestimmen. Jetzt kann Buber wie nie zuvor sagen:

Eine Zeit echter Religionsgespräche beginnt – nicht jener so benannten Scheingespräche, wo keiner seinen Partner in Wirklichkeit schaute und anrief, sondern echter Zwiesprache, von Gewissheit zu Gewissheit, aber auch von aufgeschlossner Person zu aufgeschlossner Person. Dann erst wird sich die echte Gemeinschaft weisen, nicht die eines angeblich in allen Religionen aufgefundenen gleichen Glaubensinhalts, sondern die der Situation, der Bangnis und der Erwartung.[33]

Was also sind „echte Religionsgespräche“? Buber unterscheidet im selben Zusammenhang „dreierlei Dialog“:[34] „den echten – gleichviel, geredeten oder geschwiegenen -,wo jeder der Teilnehmer den oder die anderen in ihrem Dasein und Sosein wirklich meint und sich ihnen in der Intention zuwendet, dass lebendige Gegenseitigkeit sich zwischen ihm und ihnen stifte“; das ist das, was Buber die „echte Zwiesprache“ von „aufgeschlossener Person zu aufgeschlossener Person“ nennt. Stichwort: „lebendige Gegenseitigkeit“. Dann den technischen Dialog, „der lediglich von der Notdurft der sachlichen Verständigung eingegeben ist;“ und schließlich den „dialogisch verkleideten Monolog“, das also, was Buber mit „so benannten Scheingesprächen“ bezeichnet.

Alle diese Dialogformen hat Buber erlebt. Einer dieser Dialoge ist von besonderem Rang, nicht weil es hier um ein „echtes Religionsgespräch“ gegangen wäre, sondern weil Buber selber nun einen Weg gefunden hat, als Jude das Glaubensgeheimnis von Christen anzuerkennen. Wir steuern auf den entscheidenden Punkt zu: Bubers Konzept einer Verhältnisbestimmung von Israel und Kirche, Judentum und Christentum.

Wechselseitige Anerkennung der „grundverschiedenen Gottesgeheimnisse“

Stuttgart: 14. Januar 1933. Nur wenige Tage vor der „Machtergreifung“ Adolf Hitlers kommt Buber im Lehrhaus der Stadt noch einmal mit einem christlichen Theologen zu einem öffentlichen Gespräch zusammen. Es dürfte sich für lange Jahre „um das letzte Religionsgespräch zwischen einem jüdischen und einem christlichen Gelehrten in Deutschland“ (P. von der Osten-Sacken) gehandelt haben. Der christliche Partner heißt Karl Ludwig Schmidt (1891–1956) und ist seit 1929 Professor für Neues Testament an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn. Vorbereitet und thematisch abgesprochen wird das Stuttgarter Gespräch durch brieflichen Austausch,[35] sowie einen Besuch Schmidts in Bubers Haus in Heppenheim auf der Reise von Bonn nach Stuttgart.[36] Die „lange Unterhaltung“ in Bubers „Heim zu Heppenheim“ sei für ihn ein „ordentliches Studium“ gewesen, schreibt Schmidt am 28.1. 1933 an Buber, bei dem er „viel gelernt“ zu haben glaube. Und „im D-Zug, dann im Stuttgarter Hotel und schließlich bei der öffentlichen Auseinandersetzung“ sei alles noch „viel intensiver“ geworden.

Das 1926 gegründete Stuttgarter Jüdische Lehrhaus ist Buber wohl vertraut. Er hatte dessen Gründung unterstützt. Es ist das zweite „Lehrhaus“ dieser Art in Deutschland nach dem 1920 von Franz Rosenzweig (1886–1929) gegründeten in Frankfurt. Buber hatte darüber hinaus in den folgenden Jahren das Stuttgarter Lehrhaus „zum Mittelpunkt des christlich-jüdischen Dialogs“ gemacht, nachdem Versuche erfolglos geblieben waren, „eine Reihe interkonfessioneller Debatten im Lehrhaus in Frankfurt zu veranstalten.“[37] Vier solcher jüdisch-christlichen Gespräche vor 1933 sind dokumentiert.[38] Nicht unerwähnt lassen will ich in diesem Zusammenhang, dass es seit Februar 2010 ein neues „Stuttgarter Lehrhaus“ gibt und zwar in Form einer „Stiftung für interreligiösen Dialog“. Entsprechend der veränderten Lage in Deutschland sind bei diesem Projekt nun auch Muslime beteiligt.

Am 14. Januar 1933 findet Bubers letztes Stuttgarter Lehrhaus-Gespräch statt, das mit Karl Ludwig Schmidt.[39] Ort: der Saal der Hochschule für Musik. Zeitgenössischen Berichten zufolge vor einem „großen Zuhörerkreis.“ Vom Veranstalter, dem Vorstand des Jüdischen Lehrhauses, war Schmidt um einen „streng sachlichen,“ d. h. nicht polemischen oder apologetischen Beitrag gebeten worden, und an diese Vorgabe hält er sich wörtlich: Sachlichkeit, verbunden mit Strenge. Denn Schmidt bewegt sich mit seinen Ausführungen ganz im Rahmen traditioneller christlicher Israel-Theologie: Enterbung und Ersetzung Israels durch die Kirche. Bei allem Respekt vor der Person Bubers als Denker, Mensch und Jude,[40] bei aller Bedeutung, die er Israel als „auserwähltem Volk Gottes“ für die Kirche zuspricht und aller politischen Gegnerschaft zum Nationalsozialismus (Schmidt wird als Nazi-Gegner noch 1933 von seinem Bonner Lehrstuhl vertrieben und geht in die Schweiz), fühlt Schmidt sich als Christ von seinem Verständnis des Neuen Testamentes her gedrängt und verpflichtet, den „Anspruch“ der christlichen Kirche, das neue, das „wahre“ Israel zu sein, unzweideutig zu vertreten. Schon in seinem ersten Brief an Buber hatte Schmidt davon gesprochen, dass sein Beruf (als Theologe) getragen sei „von dem Amt der Kirche Jesu Christi.“ Und dieses „Amt“ heißt für Schmidt: Auslegung der Schrift. Die ist nicht bloß für den professionellen Exegeten, verpflichtend, sondern für den Christen und Theologen schlechthin, „weil alle Theologie Exegese der Heiligen Schrift ist,“ meint Schmidt, „wobei sich Exegese und Dogmatik nur technisch unterscheiden“. Der christliche Theologe tritt also Buber von Anfang als „Amtsperson“ gegenüber, die – unbeschadet aller persönlichen Gefühle – in aller Sachlichkeit den „exklusiv kirchlichen Standpunkt“ vertreten zu müssen glaubt.

Und das sieht so aus: Zwar gäbe es „Gemeinsamkeit zwischen Juden und Christen“ in der „gemeinsamen Bemühung um Israel.“ Eine Kirche, die nichts wisse oder wissen wolle von Israel, sei eine „leere Hülse.“ Aber diese Gemeinsamkeit ist für Schmidt „nur eine vorläufige.“ Warum? „Die Kirche Jesu Christi eifert fort und fort um dieses Judentum; ihre Duldsamkeit ist ein hoffendes Warten, dass schließlich auch die Juden, ja gerade die Juden erkennen möchten, dass nur die Kirche des Messias Jesus von Nazareth das von Gott berufene Gottesvolk darstellt, dem die Juden einverleibt werden, wenn sie sich wirklich als Israel verstehen.“ „Nur die Kirche“! Denn: „Kirche,“ davon ist Schmidt überzeugt, „gibt es nur in exklusivem Sinn. Der Satz aus dem christlich – kirchlichen Altertum: ‚Extra ecclesiam nulla salus‘ ist nicht nur römisch-katholisch, sondern überhaupt katholisch und auch evangelisch.“

Buber dagegen spricht zwar ebenfalls in aller Sachlichkeit von seinem Glauben als Jude, aber gerade nicht als Träger eines Amtes. Er fühlt sich „nicht berufen,“ „für eine ‚Synagoge‘ zu sprechen.“ Er war und ist kein Rabbiner, wird es nie werden, was ihm stets die Ablehnung durch Vertreter der jüdischen Orthodoxie eintrug. Und selbst mit dem Wort „Judentum“ kann sich Buber nicht völlig identifizieren, denn er will als glaubender Mensch über nichts anderes nachdenken und sprechen als über das Geheimnis Gottes mit „Israel.“ Buber vertritt geradekeinen „Anspruch“ des Juden oder „der Synagoge“ an Christen oder die Kirche. Dabei kennt er die über Jahrhunderte tradierte Position des christlichen Exklusivismus und Antijudaismus zur Genüge. Die Kirche sehe Israel „als ein von Gott verworfenes Wesen“, und diese Verworfenheit ergebe sich notwendigerweise aus dem „Anspruch der Kirche, das wahre Israel zu sein“. Die „von Israel haben danach ihren Anspruch eingebüßt, weil sie Jesus nicht als den Messias erkannten.“

Zugleich aber denkt Buber jetzt nicht mehr daran, auf den christlichen Exklusivismus mit einem jüdischen zu antworten. Wir erinnern uns an seine Äußerungen aus den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Im Gegenteil: Bubers Antwort ist jetzt ein neues, zukunftsweisendes Gesprächsangebot. Zunächst räumt er ein, dass er als Jude „keine Möglichkeit“ habe, „gegen dieses Wissen der Kirche um Israel etwas zu setzen“. Gemeint ist: den Anspruch der Kirche, das „wahre Israel“ zu sein, schlicht zu falsifizieren. Aber man kann als gläubiger Jude seinen eigenen Anspruch dagegen setzen, daneben stellen. Denn „Israel“ ist für ihn „ein Einmaliges, Einziges, in keine Gattung Einzureihendes, nicht begrifflich Unterzubringendes.“ Und von diesem „Israel“ wissen Juden und Christen „in grundverschiedener Weise,“ wie Buber meint. Von daher grenzt sich Buber einerseits von einem exklusiven christlichen Standpunkt ab, andererseits aber ersetzt er gerade nicht einen christlichen durch einen jüdischen Exklusivismus. Vielmehr vertritt Buber erstmals in dieser Form eine Theologie der wechselseitigen Anerkennung der grundverschiedenen Gottesgeheimnisse von Israel und Kirche:

Aber wir Israel wissen um Israel von innen her, im Dunkel des von innen her Wissens, im Lichte des von innen her Wissens. Wir wissen um Israel anders. Wir wissen (hier kann ich nicht einmal mehr ‚sehen‘ sagen, denn wir wissen es ja von innen her, und auch nicht mit dem ,Auge des Geistes‘, sondern lebensmäßig), dass wir, die wir gegen Gott tausendfach gesündigt haben, die wir tausendfach von Gott abgefallen sind, die wir diese Jahrtausende hindurch diese Schickung Gottes über uns erfahren haben – die Strafe zu nennen zu leicht ist, es ist etwas Größeres als Strafe –, wir wissen, dass wir doch nicht verworfen sind.[41]

Der ungekündigte Bund Gottes mit Israel

„Nicht verworfen“ heißt positiv: Der Bund Gottes mit Israel bleibt gegeben. Das ist das Entscheidende. Mag die Kirche Israel auch noch so sehr verworfen haben, mag Israel selber sich gegen Gott „tausendfach“ versündigt haben, Gottes Berufung Israels als sein Volk ist unwiderrufen. Was umgekehrt heißt: Es gibt in der Geschichte ein bleibendes Nebeneinander von Kirche und Israel im Gegenüber zu Gott. Buber bringt jetzt die theologische Schlüsselkategorie ins Spiel, mit der dieses bleibende Gegenüber von Kirche und Israel beschrieben werden kann: wechselseitige  Anerkennung des jeweils eigenen „Gottesgeheimnisses.“ Das theologische Zentrum Bubers zum Verhältnis Kirche – Israel ist jetzt und damit endgültig benannt:

Ich sagte schon: Das Juden und Christen Verbindende bei alledem ist ihr gemeinsames Wissen um eine Einzigkeit, und von da aus können wir auch diesem in Tiefstem Trennenden gegenübertreten; jedes echte Heiligtum kann das Geheimnis eines anderen echten Heiligtums anerkennen. Das Geheimnis des anderen ist innen in ihm und kann nicht von außen her wahrgenommen werden. Kein Mensch außerhalb von Israel weiß um das Geheimnis Israels. Und kein Mensch außerhalb der Christenheit weiß um das Geheimnis der Christenheit. Aber nichtwissend können sie einander im Geheimnis anerkennen. Wie es möglich ist, dass es die Geheimnisse nebeneinander gibt, das ist Gottes Geheimnis. Wie es möglich ist, dass es eine Welt gibt als Haus, in dem diese Geheimnisse wohnen, ist Gottes Sache, denn die Welt ist ein Haus Gottes. Nicht indem wir uns jeder um seine Glaubenswirklichkeit drücken, nicht indem wir trotz der Verschiedenheit ein Miteinander erschleichen wollen, wohl aber indem wir unter Anerkennung der Grundverschiedenheit in rücksichtslosem Vertrauen einander mitteilen, was wir wissen von der Einheit dieses Hauses, von dem wir hoffen, dass wir uns einst ohne Scheidewände umgeben fühlen werden von seiner Einheit, dienen wir getrennt und doch miteinander, bis wir einst vereint werden in dem einen gemeinsamen Dienst, bis wir alle werden, wie es in dem jüdischen Gebet am Fest des Neuen Jahres heißt: ‚ein einziger Bund, um Seinen Willen zu tun.‘[42]

Die hier gewonnene Grundfigur der wechselseitigen Anerkennung des je verschiedenen Gottesgeheimnisses wird somit für Buber gesteuert von einer theologischen Axiomatik: Gottes Berufung Israels als sein Volk ist unwiderrufen; der Bund Gottes mit Israel ist ungekündigt. Das hebt ein Schlüsseldokument noch einmal heraus, das schon sprachlich-stilistisch zu den eindrücklichsten Zeugnissen Buberscher Prosa gehört: „Dom und Friedhof“ (1934), ein Text, den Buber schon 1933 in das Gespräch mit Karl Ludwig Schmidt eingebracht hatte.

Ich lebe nicht fern von der Stadt Worms, an die mich auch eine Tradition meiner Ahnen bindet; und ich fahre von Zeit zu Zeit hinüber. Wenn ich hinüber fahre, gehe ich immer zuerst zum Dom. Das ist eine sichtbar gewordene Harmonie der Glieder, eine Ganzheit, in der kein Teil aus der Vollkommenheit wankt. Ich umwandle schauend den Dom mit einer vollkommenen Freude.
Dann geh ich zum jüdischen Friedhof hinüber. Der besteht aus schiefen, zerspellten, formlosen, richtungslosen Steinen. Ich stelle mich darein, blicke von diesem Friedhofsgewirr zu der herrlichen Harmonie empor, und mir ist, als sähe ich von Israel zur Kirche auf. Da unten hat man nicht ein Quentchen Gestalt; man hat nur die Steine und die Asche unter den Steinen. Man hat die Asche, wenn sie sich auch noch so verflüchtigt hat. Man hat die Leiblichkeit der Menschen, die dazu geworden sind. Man hat sie. Ich habe sie. Ich habe sie nicht als Leiblichkeit im Raum dieses Planeten, aber als Leiblichkeit meiner eigenen Erinnerung bis in die Tiefe der Geschichte, bis an den Sinai hinein.
Ich habe da gestanden, war verbunden mit der Asche und quer durch sie mit den Urvätern. Das ist Erinnerung an das Geschehen mit Gott, die allen Juden gegeben ist. Davon kann mich die Vollkommenheit des christlichen Gottesraums nicht abbringen, nichts kann mich abbringen von der Gotteszeit Israels.
Ich habe da gestanden und habe alles selber erfahren, mir ist all der Todwiderfahren: all die Asche, die Zerspelltheit, all der lautlose Jammer ist mein; aber der Bund ist mir nicht aufgekündigt worden.
Ich liege am Boden, hingestürzt wie diese Steine. Aber gekündigt ist mir nicht. Der Dom ist, wie er ist. Und der Friedhof ist, wie er ist. Aber gekündigt ist uns nicht worden.[43]

Der Text ist sowohl in seiner narrativen Dramaturgie wie in seiner inhaltlichen Substanz nicht nur ein Schlüsseltext Buberscher Schreib- und Wortkunst, sondern auch ein Schlüsseltext Buberscher Theologie und Spiritualität. Er ist kurz, aber höchst kunstvoll gestaltet. Dabei darf die kontrastive Gegenüberstellung von „Dom“ und „Friedhof“ nicht als „Kleinmachen“ oder als falsche Schwäche des Judentums missverstanden werden. Im Gegenteil. Gerade weil Buber die jüdische Seite mit dem Bild vom „Friedhofsgewirr“ so „bescheiden“ hält, kann er seine dialektische Pointe umso wirkungsvoller ins Spiel bringen: Das, was menschlich geschichtlich gesehen klein, gering, ja „aschig“ aussieht, ist von Gott her groß. Und das, was äußerlich so „vollkommen“ dasteht, muss sich vor Gott bescheiden. Das am Ende des Textes dreimal wiederholte „mir nicht gekündigt“ bringt in Selbstbescheidung und Selbstbewusstsein Israels bleibende Erwählung durch Gott zum Ausdruck, aber auch die eigene Bindung an Israel.

„Mir“ nicht gekündigt: diese Personalisierung ist entscheidend. Der Bund Gottes mit Israel ist auch für jeden Einzelnen verpflichtend. Er kann durch keine menschlichen Machenschaften gegen Israel einerseits und keine Versündigung Israels gegen Gott andererseits aufgehoben werden. Keine Macht der Welt und kein Missbrauch durch die Religionen vermögen Gottes Bindung an Israel zu annullieren: das ist Bubers bleibende sachliche und persönliche Überzeugung, die auch durch die Erfahrung der Schoah nicht erschüttert wird. Gekündigt werden könnte der Gottes-Bund nur von Gott selbst.

Umgekehrt aber lebt für Buber auch die christliche Kirche Seite an Seite mit Israel als eine in ihrer Andersheit gottgewollte Größe. Die Kirche hat ihr eigenes unverwechselbares Gottesgeheimnis. Buber bringt dies auf die prägnante Formel, mit der er nicht zufällig seinen Beitrag im Gespräch mit Karl Ludwig Schmidt enden lässt: „Der Christ braucht nicht durchs Judentum, der Jude nicht durchs Christentum zu gehen, um zu Gott zu kommen.“[44] Beide, Juden wie Christen, wissen somit um ihr jeweiliges Gottesgeheimnis, ohne es miteinander teilen zu können. Warum aber das so ist, warum es dieses Nebeneinander der „Geheimnisse“ gibt in der einen Welt als dem „Haus Gottes“: das zu wissen, bleibt Menschen entzogen. Den Grund kennt Gott allein. Eine Einsicht, die Juden und Christen wechselseitig bescheiden machen könnte. Buber argumentiert auch hier wieder theozentrisch und zieht daraus Konsequenzen für die Verpflichtung von Juden und Christen auf Frieden und praktische Zusammenarbeit. Beide wissen sich hineingehalten in das Geheimnis Gottes, jetzt noch mit einer „Scheidewand“ versehen, aber doch ausgestattet mit dem Wissen um die Einheit des Hauses Gottes und mit der Hoffnung, dass sie einst vereint sein werden in dem einen „gemeinsamen Dienst.“

Das alles hat mit einem schiedlich-friedlichen Nebeneinander von Juden und Christen nichts zu tun. So wäre Buber gründlich missverstanden. Denn sein Text lässt nicht Unverbindlichkeit, sondern Verpflichtung für Juden und Christen erkennen, um die jeweils erkannte Wahrheit Gottes noch zu ringen. Ausdrücklich betont Buber, dass man sich als Jude oder Christ um seine je eigene „Glaubenswirklichkeit,“ d. h. um sein im Gewissen verpflichtendes Glaubenszeugnis, nicht „drücken“ könne. Das je eigene Glaubenszeugnis wäre in „rückhaltlosem Vertrauen“ einander „mitzuteilen.“ Das ist das Gegenteil von schulterklopfendem Einverstandensein mit der Andersheit des je Anderen, was nur ein Alibi lieferte für Passivität und Gleichgültigkeit. Verpflichtung auf Dialogizität verbindet sich bei Buber vielmehr mit dem Festhalten an einer theologischen Axiomatik.

Was folgt daraus? Religionsgespräche haben für Buber nicht das Ziel, „gleiche Glaubensinhalte“ zu identifizieren mit dem Ziel, die Differenzen zwischen den Religionen zu überspielen oder zu bagatellisieren. Stattdessen stellt Buber seine Arbeit in den Dienst einer Wiederbelebung der „gemeinsamen Urwahrheit“, auf die Juden und Christen gleichermaßen verwiesen sind: das Geheimnis Israels als erwähltem Bundesvolk. Dieses Geheimnis aber hat man nicht ohne tiefe Vertrautheit mit der Ur-Kunde: der Hebräischen Bibel.

Bibelverdeutschung: Bubers Vermächtnis an Juden und Christen

Gemeint ist das Projekt einer „Verdeutschung der Schrift“, an dem Buber 1925 zusammen mit Franz Rosenzweig zu arbeiten beginnt. Erst 1961 – vier Jahre vor seinem Tod – kann er das Werk vollenden, nicht zuletzt deshalb, weil sein Partner Rosenzweig 1929 im Alter von nur 42 Jahren gestorben war. Die gemeinsame Arbeit war bis zum 53. Kapitel des Buches Jesaja vorgedrungen. Was war und ist der Sinn dieses gewaltigen Unternehmens, das man ohne Übertreibung Bubers Vermächtnis an Juden und Christen bezeichnen kann?

Bei einer Hausfeier 1961 in Jerusalem „zum Abschluss“ der Übertragungsarbeit gibt Buber noch einmal einen Hinweis.[45] Die Verdeutschung der Hebräischen Bibel hatte und hat einen doppelten Sinn. Zum einen sollte ein weitgehend assimiliertes deutschsprachigen Judentum, das keine Kenntnisse der Ursprache mehr besitzt, über das Deutsche an die ureigenen Quellen herangeführt werden. Buber-Rosenzweig wählen bewusst eine Sprachform, die das hebräische Original im Deutschen durchklingen lässt und so sprachlich-akustisch nochhörbar macht. Zum zweiten sollte der deutschen Christenheit ihr manchmal latenter, manchmal offener „Marcionitismus“ ausgetrieben werden, um sie resistenter zu machen gegen die stets aufs Neue virulente Versuchung, das „Neue“ Testament unter Abwertung oder gar Absehung vom „Alten“ Testamentes stark zu machen. In seiner Ansprache bei der genannten Hausfeier zitiert Buber nicht zufällig einen Brief Franz Rosenzweigs an ihn vom 29. Juli 1925, dem Jahr ihres Arbeitsbeginns:

Ist Ihnen eigentlich klar, dass heut der von den neuen Marcioniten theoretisch erstrebte Zustand praktisch schon da ist? Unter Bibel versteht heut der Christ nur das Neue Testament, etwa mit den Psalmen, von denen er dann noch meist meint sie gehörten nicht zum Alten Testament. Also werden wir missionieren.[46]

Die Anspielung auf „neue Marcioniten“ bezieht sich auf eine Gestalt in der Geschichte der frühen Kirche, auf den aus Kleinasien stammenden Schiffsreeder Marcion (ca. 85–160 n.Chr.). Dieser hatte die normativen Schriften des Judentums (weil angeblich nur von einen zwar gerechten, aber auch unbarmherzig strafenden Schöpfer- und Richtergott zeugend) verworfen und nur Teile des Neuen Testamentes gelten lassen. Warum? Weil nur sie angeblich von einem lichten, guten, liebenden Erlösergott zeugen. Damit hatte Marcion einen verhängnisvollen Dualismus von Gesetz und Evangelium etabliert, schwerwiegender noch, damit hatte er Schöpfung und Erlösung auseinander gerissen.

Gegen Marcion, der nach einem Bruch mit der römischen Gemeinde 144n.Chr. eine eigene, Jahrhunderte lang dann erfolg- und einflussreiche Kirche zu gründen versteht, trifft die frühe Kirche eine Entscheidung von epochaler Wirkung: Ein für allemal bleibt die Hebräische Bibel das Fundament zur Auslegung der Gottesbotschaft Jesu und zum Verständnis des Bekenntnisses zu Jesus als dem Christus. „Marcioniten“ aber gibt es immer wieder in der Geschichte der Kirche, alte und neue. Gerade auch gegen sie ist das Projekt „Verdeutschung der Schrift“ gerichtet. In einem weiteren von Buber zitierten Schreiben Rosenzweigs an einen Freund vom Dezember 1925 steht es noch deutlicher:

Ich fürchte manchmal, die Deutschen werden diese allzu unchristliche Bibel nicht vertragen, und es wird die Übersetzung der heut ja von den neuen Marcioniden angestrebten Austreibung der Bibel aus der deutschen Kultur werden, wie Luthers die der Eroberung Deutschlands durch die Bibel war. Aber auch auf ein solches Golus Bowel [babylonisches Exil] könnte ja dann nach siebzig Jahren ein neuer Einzug folgen, und jedenfalls – das Ende ist nicht unsere Sache, aber der Anfang und das Anfangen.[47]

Buber kommentiert diese Briefstellen Rosenzweigs zum Abschluss seiner Ansprache 1961 mit der überraschenden Präzisierung seine Ablehnung von „Mission,“ von der wir zu Beginn so Entschiedenes im Zusammenhang mit der „Fremdandacht“ im Gymnasium zu Lemberg gehört haben:

Es sieht mir nicht danach aus, als ob Die Schrift siebzig Jahre zu warten hätte. Aber ‚missionieren‘ – ja, auf jeden Fall! Ich bin sonst ein radikaler Gegner alles Missionierens und habe auch Rosenzweig gründlich widersprochen, wenn er sich für eine jüdische Mission einsetzte. Aber diese Mission da lasse ich mir gefallen, der es nicht um Judentum und Christentum geht, sondern um die gemeinsame Urwahrheit, von deren Wiederbelebung beider Zukunft abhängt. Die Schrift ist am Missionieren. Und es gibt schon Zeichen dafür, dass ihr ein Gelingen beschieden ist.[48]

Die „gemeinsame Urwahrheit“ freilegen, darum geht es Buber. Sie ist eine Herausforderung an beide: an Juden wie Christen.

Nur wenige sind ihm darin gefolgt, darunter ein christlicher Theologe, dessen ich hier besonders gedenken will: der schwäbische Pfarrer und Schriftsteller Albrecht Goes (1908–2000). Schon 1934 hatte er sich als 26jähriger Pfarrer einmal brieflich um Rat an Buber gewandt, nicht ahnend, dass ihm gut 20 Jahre später die Aufgabe zufallen würde, in geschichtlich außerordentlicher Stunde eine große Rede auf Buber zu halten: die Laudatio bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Buber 1953. Theologisch als Christ durch das Grauen der Schoah sensibel geworden, hatte sich Goes dafür vor allem durch sein literarisches Werk nach 1945 „empfohlen.“ Insbesondere seine Erzählung „Begegnung in Ungarn“ (1946) sowie „Unruhige Nacht“ (1950) sind hier zu nennen. Nach der Paulskirchen-Rede werden noch wichtige Texte wie „Das Brandopfer“ (1954) und „Das Löffelchen“ (1965) folgen. Das Verhältnis Buber – Goes ist mit erhellenden Analysen und zahlreichen Dokumenten 2008 gründlich aufgearbeitet und dargestellt worden durch den Tübinger evangelischen Theologen Helmut Zwanger: „Albrecht Goes. Freund Martin Bubers und des Judentums. Eine Hommage“. Für Goes war Bubers „theologisches Axiom“ vom „ungekündigten Bund“ Gottes mit Israel lebensentscheidend geworden. Entsprechend hatte ihn der tief verwurzelte Antijudaismus christlicher Theologie sowie das Versagen seiner Kirche gegenüber dem Judentum im Dritten Reich mit Scham und Trauer erfüllt. Daran hatte auch das nachmals viel zitierte „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ vom Oktober 1945 wenig geändert, da auch hier eine Benennung der Mitschuld von Kirche an den Verbrechen gegen das jüdische Volk völlig fehlte.

Am 27. September 1953 wird Buber in der Frankfurter Paulskirche der Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen. Eine geschichtlich bedeutsame Stunde schon deshalb, weil Buber erst zum zweiten Mal nach seiner Vertreibung aus Deutschland und seiner erzwungenen Übersiedlung von Heppenheim nach Jerusalem (1938) wieder öffentlich in Deutschland redet. Seiner Dankesrede gibt Buber den Titel gibt: Das echte Gespräch und die Möglichkeit des Friedens.“ Sein Laudator Goes spricht über „Martin Buber, der Beistand“ und grenzt „Beistand“ ab vom „Diktator“ einerseits und vom „Präzeptor“ andererseits. „Beistand“ sei einer, der uns begleite, meint Goes, „durch die unendliche Dauer des Augenblicks“, der uns die Augen öffne für die „unermessliche Gnade des Augenblicks.“[49] 1980 hält Goes eine Rede zur Eröffnung einer Buber-Ausstellung in Heilbronn und bestimmt mit Blick auf Buber noch einmal grundsätzlich das Verhältnis von Juden und Christen nach der Schoah: „Ich will nur sagen: man soll ihn (Buber), der sich zuweilen einen ‚Erzjuden‘ genannt hat, nicht in einem christlichen Vorhof ansiedeln wollen; dort wollte er nie sein. Ich denke einen ungelehrten, ernsthaften Menschen, der Gesprächen in diesem Spannungsfeld zuhört, und dann einen Satz wie diesen versucht: es scheine ihm wichtig, dass der Christ, indem er hier zuhört, aufmerksamer auf sein Christsein achten lernt, und dass der Jude, indes er zuhört, aufmerksam sich neu auf sein Jude-sein besinnt. Ihm, der so spricht, würde ich sagen: ‚Sie haben Martin Buber an Ihrer Seite.‘“[50]

„Zu Gott demütig werden“:
Bubers Grundhaltung zu den Religionen

„Nicht in einem christlichen Vorhof“. Buber entzieht sich solchen Vereinnahmungen, weil sein Denken Schablonen sprengt. Wir haben uns seinen Weg von der Konfrontation zum Dialog klar gemacht. Sein Werk dient nicht der Selbstbestätigung „des Judentums“ oder der Widerlegung „des Christentums,“ sondern einem Dritten: dem Nachdenken über das Geheimnis Gottes mit seinem Volk und den Völkern, gegründet im Geheimnis Israels als dem Bundesvolk Abrahams. Für Buber ist das eine Herausforderung an beide Seiten: an Juden wie Christen.

Und zur Illustration dieser Herausforderung gibt es keine eindrücklichere Geschichte als die, die man in Bubers Buch Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre aus dem Jahr 1948 findet.[51] Diese Geschichte spielt in einem Gefängnis in St. Petersburg noch zur Zeit der Zarenherrschaft. Eingekerkert ist Rabbi Schnëur Salman, der Rabbiner von Reussen. Er war bei der Regierung verleumdet worden und sieht einem Verhör entgegen. Da kommt der Oberste der Gendarmerie in seine Zelle, und es entspannt sich ein „christlich-jüdischer Dialog“ der besonderen Art, denn der Wächter erweist sich als ein „nachdenklicher Mann.“ Er verwickelt den Gefangenen in ein Gespräch, denn beim Lesen der Bibel ist ihm ein Widerspruch aufgefallen. Jetzt möchte er den Rabbi „testen“: „Wie ist es zu verstehen,“ fragt er den Gefangenen, „dass Gott der Allwissende zu Adam spricht: ‚Wo bist du‘?“ Kann Gott etwas erfragen wollen, was er als „Allwissender“ eigentlich längst wissen müsste? Der Rabbi antwortet: „Glaubt Ihr daran, […] dass die Schrift ewig ist und jede Zeit, jedes Geschlecht und jeder Mensch in ihr beschlossen sind?“ Als der Wächter die Frage bejaht, sagt der Rabbi: „Nun wohl, […] in jeder Zeit ruft Gott jeden Menschen an: ‚Wo bist du in deiner Welt? So viele Jahre und Tage von den dir zugemessenen sind vergangen, wie weit bist du derweilen in deiner Welt gekommen?‘ So etwa spricht Gott: ‚Sechsundvierzig Jahre hast du gelebt, wo hältst du?‘“ Als der Oberste überraschend die Zahl seiner Lebensjahre nennen hört, legt er dem Rabbi die Hand auf die Schulter und ruft: „Bravo!.“ Und sein Herz „flattert.“[52]

Warum erzählt Buber diese Geschichte? Und warum erzählt er sie so? Ihm kommt es auf eine entscheidende Einsicht an. Die Frage des Obersten ist ja eine Art Fangfrage, gestellt in der Position des angeblich Überlegenen. Sie ist im Grunde, so Buber, „keine echte Frage, sondern nur eine Form der Kontroverse.“ Deshalb zielt die Antwort des Rabbi auf etwas ganz Anderes. Sie zielt darauf, den Fragenden aus der Rolle des Überlegenen zu holen und ihn zum Betroffenen zu machen. Zielt darauf, dass der Fragende sich selber als „Adam“ begreift, an den Gott die entscheidende Frage richtet: „Wo bist du?“ Nicht der angebliche Widerspruch Gottes steht zur Debatte, sondern der Standort des Fragenden. „Wo bist du in deiner Welt?“ Und wenn Gott so fragt, will er, meint Buber, „vom Menschen nicht etwas erfahren, was er noch nicht weiß; erwill im Menschen etwas bewirken, was eben nur durch eine solche Frage bewirkt wird, vorausgesetzt, dass sie den Menschen ins Herz trifft, dass der Mensch sich von ihr ins Herz treffen lässt.“[53]

Die Pointe dieses Dialogs zwischen einem Juden und einem Christen läuft also auf die exemplarische Erkenntnis heraus: Alles kommt darauf an, ob Menschen sich in der Begegnung in Frage stellen, ob sie sich von Gott nach ihrem Ort befragen lassen. Die Begegnung zwischen Juden und Christen hört dann auf, zur Wahrheitsrechthaberei zu werden. Beide stellen sich unter die „Frage Gottes,“, eine Frage, die, so Buber, die Menschen „aufrühren“ will. Eine Frage, die ihnen ihren „Verstecksapparat zerschlagen“ und so zeigen will, wo der Mensch „hingeraten“ ist.[54] Das Zusammenkommen von Jude und Christ wäre dann ,wenn beide sich von Gott befragen ließen: „Wo bist du?“, keine „Vergegnung“, sondern eine echte „Begegnung“.

Dass „Religionen“ in ihrer institutionalisierten Form Menschen den Weg zu Gott verstellen können, davon war Buber in seinem Alter mehr denn je überzeugt. Sein geistiges Vermächtnis im Blick auf die Religionen der Welt (auf alle Religionen) hat er in einem kurzen Text niedergelegt, den er bescheiden „Fragmente über Offenbarung“ nennt. Er erscheint in dem Sammelband „Nachlese“[55], dessen Veröffentlichung Buber nicht mehr erlebt, da er am 13. Juni 1965 in Jerusalem verstirbt. Fahnenkorrekturen kann er noch vornehmen. Der kurze, aber dicht geschriebene Text ist sein Vermächtnis am Ende eines langen Lebens. Und dieses sein Vermächtnis ist auch heute noch herausfordernd genug:

Die geschichtlichen Religionen haben die Tendenz, Selbstzweck zu werden und sich gleichsam an Gottes Stelle zu setzen, und in der Tat ist nichts so geeignet, dem Menschen das Angesicht Gottes zu verdecken, wie eine Religion. Die Religionen müssen zu Gott und zu seinem Willen demütig werden; jede muss erkennen, dass sie nur eine der Gestalten ist, in denen sich die menschliche Verarbeitung der göttlichen Botschaft darstellt, – dass sie kein Monopol auf Gott hat; jede muss darauf verzichten, das Haus Gottes auf Erden zu sein, und sich damit begnügen, ein Haus der Menschen zu sein, die in der gleichen Absicht Gott zugewandt sind, ein Haus mit Fenstern; jede muss ihre falsche exklusive Haltung aufgeben und die rechte annehmen. Und noch etwas ist not: die Religionen müssen mit aller Kraft darauf horchen, was Gottes Wille für diese Stunde ist, sie müssen von der Offenbarung aus die aktuellen Probleme zu bewältigen suchen, die der Widerspruch zwischen dem Willen Gottes und der gegenwärtigen Wirklichkeit der Welt ihnen stellt. Dann werden sie, wie in der gemeinsamen Erwartung der Erlösung, so in der Sorge um die noch unerlöste Welt von heute verbunden sein.[56]

[1] Das hier in aller Knappheit behandelte Thema findet seine ausführliche Entfaltung bei: Karl- Josef Kuschel, Martin Buber - seine Herausforderung an das Christentum, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2015.
[2] Martin Buber, Begegnung. Autobiographische Fragmente (Heidelberg:Verlag Lambert Schneider, 1978), 20f.
[3] Martin Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, hrsg. v. G. Schaeder (Heidelberg: Verlag Lambert Schneider, 1975), III: 551.
[4] Martin Buber, Werke (Heidelberg/München: Verlag Lambert Schneider und Kösel-Verlag, 1962), Bd. 1 (Schriften zur Philosophie), 1021–1051.
[5] Martin Buber, „Mein Weg zum Chassidismus“ (1917), in: Buber, Werke (Heidelberg /München: Verlag Lambert Schneider und Kösel-Verlag, 1963), Bd. III (Schriften zum Chassidismus), 959–973.
[6] Matin Buber, Werke III: 966.
[7] Buber, „Mein Weg zum Chassidismus“, 967 f.
[8] Martin Buber, „Drei Reden über das Judentum“, in: Martin Buber, Frühe jüdische Schriften 1900–1922, hrsg., eingeleitet und kommentiert von Barbara Schäfer. Martin Buber Werkausgabe 3 (Gütersloh: Gütersloher Verlaghaus, 2007), 219–256.
[9] Ebd., 247.
[10] Ebd., 247, 248f.
[11] Martin Buber, „Eine Feststellung“ (1914), in: Buber, Schriften zum Christentum, hrsg., eingeleitet und kommentiert von Karl-Josef Kuschel. Martin Buber Werkausgabe 9 (Gütersloh: Güterslohrer Verlaghaus, 2011), 76.
[12] Christian Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie in wilhelminischen Deutschland. Ein Schrei ins Leere? (Tübingen: Mohr Siebeck, 1999), 363.
[13] Martin Buber, „Der Preis“ (1917), in: Buber, Schriften zum Christentum, 77–83.
[14] Martin Buber, „Offener Brief an GerhardKittel“, in: Buber, Schriften zum Christentum,169–174.
[15] Gerhard Kittel, Die Judenfrage (Stuttgart,W. Kohlhammer, 1933), 15.
[16] Ebd., 36f.
[17] Ebd., 42.
[18] Ebd,, 44.
[19] Ebd., 66f.
[20] Ebd., 67.
[21] Buber, Briefwechsel. II: 486f.
[22] Buber, „Offener Brief an Gerhard Kittel“.
[23] Buber, Briefwechsel. II: 502.
[24] Gerhard Ebeling, Wort und Glaube (Tübingen: Mohr Siebeck, 1967), III: 239.
[25] Buber, Briefwechsel. I: 513.
[26] Martin Buber, „Ragaz und ‚Israel’“, in: Buber, Schriften zum Christentum, 187–191.
[27] Ebd., 190.
[28] Martin Buber, „Ich und Du,“ in: Buber, Das dialogische Prinzip (Heidelberg: Verlag Lambert
Schneider, 1962), 4. Aufl. 1979: 7.
[29] Buber, Begegnung, 83.
[30] Martin Buber, „Zweisprache,“ in: Das dialogische Prinzip, 145.
[31] Ebd., 146.
[32] Buber, Begegnung, 68–70.
[33] Buber, „Zweisprache“, 149.
[34] Ebd., 166.
[35] Buber, Briefwechsel, II: 460f.
[36] Ebd., 461 f.
[37] Michael Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik (München: C. H. Beck, 2000), 108.
[38] Buber, Schriften zum Christentum, 369–371.
[39] Karl Ludwig Schmidt und Martin Buber, „Kirche, Staat, Volk, Judentum. Zwiegespräch im Jüdischen Lehrhaus in Stuttgart am 14. Januar 1933,“ in: Buber, Schriften zum Christentum, 145– 168.
[40] Vgl. Schmidts ersten Briefe vom 11./12. 1.1933 in Buber, Briefwechsel II: 460f
[41] Buber, „Kirche, Staat,Volk, Judentum,“ 159.
[42] Ebd.
[43] Buber, „Dom und Friedhof“, in: Buber, Schriften zum Christentum, 175.
[44] Buber, „Kirche, Staat,Volk, Judentum,“ 168.
[45] Martin Buber, „Zum Abschluss,“ in: Buber, Werke (Heidelberg/München: Verlag Lambert Schneider und Kösel-Verlag, 1964), Bd. 2 (Schriften zur Bibel), 1175–82.
[46] Buber, Briefwechsel, II: 232.
[47] Buber, „Zum Abschluss,“ 1182.
[48] Ebd.
[49] Zit. nach Helmut Zwanger, Albrecht Goes. Freund Martin Bubers und des Judentums. Eine Hommage (Tübingen: Klöper & Meyer, 2008), 63.
[50] Zit. nach ebd., 92.
[51] Martin Buber, Werke III: 713–738.
[52] Martin Buber, „Der Weg des Menschen nach der chassidschen Lehre,“ in Ebd., 715.
[53] Ebd., 716.
[54] Ebd., 717.
[55] Martin Buber, „Fragmente über Offenbarung,“ in: Buber, Nachlese (Heidelberg: Verlag Lambert Schneider, 1966), 107–112.
[56] Ebd., 111 f.

Editorische Anmerkungen

Dr. KARL-JOSEF KUSCHEL, Professor i. R. der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Tübingen, ist Kuratoriumsmitglied der »Stiftung Weltethos«. 2015 wurde er in den Stiftungsrat des Börsenvereins zur Vergabe des jährlichen Friedenspreises des Deutschen Buchhandels berufen. Er ist Präsident der Internationalen Hermann-Hesse-Gesellschaft. Zahlreiche Veröffentlichungen zum interreligiösen Dialog und zum Verhältnis von Religion und Gesellschaft. Homepage: https://karl-josef-kuschel.de/.

Quelle: Dialogue as a Trans-disciplinary Concept. Martin Buber’s Philosophy of Dialogue and its Contemporary Reception, edited by Paul Mendes-Flohr, 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Munich/Boston. Der Beitrag ist lizensiert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 License.