„Kirche und Judentum: Gemeinsam gegen Antisemitismus“

Statement von Bischof Dr. Ulrich Neymeyr (Erfurt), Vorsitzender der Unterkommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum der Deutschen Bischofskonferenz, im Pressegespräch zum Thema „Kirche und Judentum: Gemeinsam gegen Antisemitismus“ am 22. September 2021 in Fulda zur Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz.

Heute ist der zweite Tag von Sukkot, dem jüdischen Laubhüttenfest, das eine ganze Woche dauert. In Erinnerung an den Auszug aus Ägypten und an die Wanderung Israels durch die Wüste Sinai werden Laubhütten gebaut, in denen man die Mahlzeiten einnimmt, mit Familie und Freunden Zeit verbringt und gemeinsam betet, soweit es das Wetter zulässt. In diesem Jahr werden an vielen Orten in Deutschland größere Laubhütten gebaut als sonst. Sie sollen zu Orten der Begegnung von Juden und Nicht-Juden werden. Viele jüdische Gemeinden laden in diesen Tagen Nicht-Juden ein, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen und mit ihnen Sukkot zu feiern. Ich appelliere deshalb an alle: Nehmen Sie die Einladung an! Besuchen Sie die Laubhütten in Ihrer Stadt oder Region! Suchen Sie das Gespräch mit Jüdinnen und Juden und lernen Sie auf diese Weise jüdisches Leben heute kennen!

Sukkot XXL ist eine der zahlreichen Aktionen im Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“. Das Festjahr erinnert an ein Dekret von Kaiser Konstantin aus dem Jahr 321, das als Beleg dafür gilt, dass Juden bereits zu dieser Zeit in Köln und auf dem Gebiet lebten, das in der weiteren Geschichte zu Deutschland wurde.

Das Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben“, das bis Mitte nächsten Jahres verlängert wird, ist eine große Chance für uns alle. Es ermöglicht uns, den Reichtum der langen jüdischen Tradition in Deutschland und die Lebendigkeit und Vielfalt heutigen Judentums zu entdecken. Jüdinnen und Juden waren und sind seit den Anfängen Teil der deutschen Gesellschaft; sie haben Kultur und Gesellschaft dieses Landes maßgeblich mitgestaltet.

Für mich hat diese Einsicht eine starke biografische Seite. Ich bin in Worms geboren und aufgewachsen, war in Mainz und Worms zunächst Priester und dann Weihbischof. Beide Städte gehören zu den bedeutenden SchUM-Städten, die im Sommer als Weltkulturerbe anerkannt wurden. Sie waren Mittelpunkt des aschkenasischen Judentums, einer der bis heute wichtigsten Traditionslinien im Judentum. Seit 2014 bin ich Bischof von Erfurt, wo wir in diesem Jahr das 900-jährige Jubiläum der Jüdischen Gemeinde in Thüringen begehen. Erfurt hat aufgrund seiner bedeutenden jüdischen Tradition und deren Zeugnisse in der Stadt auch die Aufnahme in das Verzeichnis des Weltkulturerbes der Unesco beantragt.

Auch für uns als Kirche ist das Festjahr eine Einladung. Es fordert uns dazu auf, unser Verhältnis zum Judentum neu in den Blick zu nehmen und bewusst zu machen. Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil und der Erklärung Nostra aetate (1965) hat sich das Verhältnis der Kirche zum Judentum grundlegend verändert. In aller Deutlichkeit haben sich die Konzilsväter von der „Lehre der Verachtung“ (Jules Isaac), die über viele Jahrhunderte das Verhalten der Kirche gegenüber den Juden und dem Judentum prägte, verabschiedet und die theologischen Grundlagen für einen geschwisterlichen Dialog gelegt, der von Wertschätzung und Freundschaft geprägt ist. Heute, mehr als 50 Jahre später, können wir von einer Kultur des Dialogs sprechen, die sich auch in Deutschland zwischen Juden und Christen entwickelt hat. Als Bischofskonferenz führen wir seit vielen Jahren regelmäßige Gespräche mit den beiden Rabbinerkonferenzen und dem Zentralrat der Juden. Besuche von Bischöfen in jüdischen Gemeinden sind ebenso selbstverständlich geworden wie die Zusammenarbeit im Bildungsbereich, in der Priesterausbildung oder in der theologischen Forschung. Die Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit und der Gesprächskreis „Juden und Christen“ beim ZdK, deren Leiterin, Frau Mensink, hier anwesend ist, sind wichtige Foren des Dialogs. In den vergangenen Jahrzehnten ist in der Kirche die Einsicht gereift, dass wir unseren christlichen Glauben nicht ohne das Judentum verstehen können, dass Christen und Juden gemeinsam im Bund mit Gott stehen und deshalb zu Partnerschaft im Glauben und in der gesellschaftlichen Praxis aufgerufen sind. Ich freue mich sehr, dass auch zahlreiche Rabbiner und Rabbinerinnen aus Europa, Israel und Nordamerika diesen Dialog aktiv unterstützen.

Bei meinen vielen Gesprächen, die ich in Gemeinden, mit verschiedenen kirchlichen Gruppen, aber auch mit Menschen außerhalb der Kirche führe, stelle ich aber auch fest, dass für viele die enge Verbundenheit von Judentum und Christentum sehr abstrakt ist, dass sie sich in der Predigt und im Leben der Gemeinde nicht wiederfindet. Deshalb ist es unsere Aufgabe als Kirche, die zentralen Einsichten des christlich-jüdischen Dialogs stärker in der kirchlichen und außerkirchlichen Öffentlichkeit bekannt zu machen. Wir wollen Menschen motivieren, sich mit jüdischem Leben und mit den Beziehungen zwischen Kirche und Judentum zu befassen. Ich verweise Sie auf die ökumenische Plakataktion #beziehungsweise: jüdisch und christlich – näher als du denkst. 14 Plakate setzen jeweils einen christlichen und einen jüdischen Feiertag in Beziehung – zum Beispiel Sabbat und Sonntag, Ostern und Pessach. Wer ein solches Plakat im Schaukasten seiner Gemeinde sieht, stutzt vielleicht, schaut genauer hin, wird neugierig und will mehr erfahren. Genau darum geht es: wir wollen Anstöße geben, die besondere Verbundenheit der Kirche mit dem heutigen Judentum anschaulich und erfahrbar zu machen. Und natürlich sollen alle, die daran interessiert sind, auch an den Überlegungen teilhaben können, wie Juden und Christen im Glauben zueinanderstehen – deshalb haben wir in einer Arbeitshilfe der Bischofskonferenz die wichtigsten kirchlichen und jüdischen Stellungnahmen zusammengestellt.

Das Interesse am Judentum wecken und die Begegnung mit Jüdinnen und Juden fördern, ist nach meiner Überzeugung das beste Mittel, um Antisemitismus vorzubeugen. Antisemitismus ist ein vielgestaltiges Phänomen, auf das Frau Mensink und Herr Professor Heil noch näher eingehen werden. Die Haltung der Kirche ist hier völlig klar. Papst Franziskus hat sie auf die prägnante Formel gebracht: „Ein Christ kann kein Antisemit sein!“ Ich füge hinzu, es ist die Pflicht von Christinnen und Christen, sich aktiv gegen Antisemitismus einzusetzen. Das ist unsere Verpflichtung als Christen, aber auch als Demokraten. Deshalb werbe ich entschieden bei allen wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürgern: Gehen Sie wählen! Und geben Sie ihre Stimme einer Person und einer Partei, die sich glaubhaft für den Schutz jüdischer Gemeinden und die Förderung jüdischen Lebens in Deutschland einsetzen!

Editorische Anmerkungen

Quelle: Deutsche Bischofskonferenz.