„Kirche und Judentum: Gemeinsam gegen Antisemitismus“

Statement von Prof. Dr. Johannes Heil (Heidelberg), Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg, im Pressegespräch zum Thema „Kirche und Judentum: Gemeinsam gegen Antisemitismus“ am 22. September 2021 in Fulda zur Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz.

Über Antisemitismus sprechen zu müssen ist bedrückend, denn nach menschlichem Ermessen und im Vertrauen auf den Prozess der Zivilisation müsste das endlich doch ein Gegenstand der Geschichte sein. Und dennoch:man muss sich hineinversetzen und sich vorstellen, was es für die Jüdinnen und Juden dieser Tage bedeutete, am zweiten Jahrestag nach dem Anschlag auf die Synagoge von Halle zu den Gottesdiensten zu Jom Kippur zusammenzukommen, und tatsächlich bestand in Hagen zu diesem Tag eine akute Gefahrenlage. Die bloße Existenz von Antisemitismus ein Skandal. Er ist auch nur die Spitze des Eisbergs und ein Symptom für umfassendere Missstände in dieser Gesellschaft. Die Mordserie des NSU und der Anschlag von Hanau im vergangenen Jahr sprechen eine deutliche Sprache.

Nach vorliegenden älteren empirischen Erhebungen vertreten 5 bis 7 Prozent der Gesellschaft geschlossene antisemitische Weltbilder, 20 Prozent stimmen einzelnen antisemitischen Aussagen zu. Für andere gruppenbezogene Vorurteils- Ausgrenzungs- und Gewaltstrukturen gilt das ähnlich. Solche Zahlen sind, gerade vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Erinnerungs- und Aufklärungsarbeit, erschreckend hoch, und sie sind zuletzt womöglich noch angestiegen.

Die Pandemiesituation der vergangenen Monate hat gezeigt, wie volatil grundlegende Einstellungen in vielen Teilen der Gesellschaft sind. Dasselbe gilt von Formen des israelbezogenen Antisemitismus, wie sich in Reaktionen auf die Kämpfe in und um Gaza im Mai dieses Jahres zeigte, wo es vielfach nicht um sachliche Bewertungen der Situation in Israel und in den palästinensischen Gebieten, sondern um kollektivierende Gleichsetzungen von Maßnahmen militärischer und politischer Akteure mit allen Israelis, und im nächsten Schritt allen Juden und Jüdinnen mit Israelis geht. Die „Israelkritik“ ist dann nicht einmal Anlass, sondern Vorwand für abwertende Äußerungen. Es wird nicht wenig gegen Antisemitismus unternommen. Die Frage ist, was und ob es genug und das Richtige ist. Die Arbeitsdefinition, die etwa die IHRA zum Antisemitismus vorgelegt hat, ist wichtig und hilfreich. Klar ist, dass eine Definition allein noch keinen Antisemitismus verhindert.

Die Praxis, eben auch im kirchlichen Handeln, muss darüber hinausgehen. Ganz erheblichen Fortschritt hat in den vergangenen Jahren das Gespräch zwischen den Religionen gemacht, die dabei formulierten Erklärungen sind Marksteine, aber keine abschließenden Ergebnisse. Sie sind Richtschnur auf die Zukunft hin. Die erreichten Fortschritte und die gewonnene Vertrautheit bilden auch nicht ansatzweise die weitere gesellschaftliche Realität ab.

Einzeltäter, die Anschläge auf Synagogen und Menschen unternehmen oder planen, in Pittsburgh, Halle, Hagen und anderswo, sind vom Glauben getrieben, im Sinne einer Mehrheit zu handeln und werden von Populisten und Extremisten in unserer Gesellschaft darin bestätigt. Gegen diese Dynamik kann nur das ständig wahrnehmbare Bekenntnis der tatsächlichen Mehrheit wirken: dass die Täter und ihre Unterstützer in ihren Bestrebungen alleine stehen. Kirchen und ihre Gemeinden stehen hier auf eigene Weise und mit eigenen Möglichkeiten in der Verantwortung. Antisemitische, xenophobe, rassistische und andere diskriminierende Positionen dürfen im kirchlichen Leben keinen Platz haben, erst recht keine in der alten antijudaistischen Tradition stehenden Gewohnheiten.

Die Kirche muss weiter und gründlicher ihr Haus inspizieren und markieren, was darin dem Geist der Gemeinsamkeit widerspricht. Dazu sind in der Vergangenheit wichtige Schritte gemacht worden; Riten und Texte wurden neu gefasst, kontaminierte Wallfahrten zu Orten angeblicher jüdischer Hostienschändungen oder Ritualmorde wurden reformiert oder ganz gestrichen. Aber zu lange hat die „Lehre der Verachtung“, wie Bischof Neymeyr es nach Jules Isaac bezeichnet hat, die Kirche(n) geprägt. Ihr Antijudaismus war nicht eine bedauerliche Begleiterscheinung, sondern der Theologie strukturell eingebettet. Eine einzelne Konzilskonstitution rückt das Gebäude noch nicht gerade. Auch mehr als fünfzig Jahre nach Nostra aetate bleibt noch viel zu tun.

Umso wichtiger sind, wenn sie unternommen werden, die Schritte nach vorne: Beim Kölner Gespräch des Kolpingverbandes mit dem Präsidenten des ZdJ, Josef Schuster, im Frühjahr dieses Jahres, ist eine kritische Auseinandersetzung mit den Schattenzeilen im Werk des seligen Adolf Kolping (1813–1866) in Gang gekommen; das war überreif und sollte zügig, gründlich und kompetent fortgeführt werden. Das gilt erst recht für die Sichtung der vatikanischen Akten zu den Pontifikatsjahren Pius XII; nach der Öffnung der Bestände durch Papst Franziskus hat die DBK die unabhängige wissenschaftliche Bearbeitung aus Eigenmitteln gefördert, aber das umfangreiche Projekt – ein Prüfstein für die Validität kirchlicher Vergangenheitsarbeit – verdient breitere Unterstützung und Corona sollte die einzige Behinderung gewesen sein, die es erfährt.

Auf grundsätzlicher Ebene müssen Theologie und Pastoral noch entschiedener auf ihre Sprache achten. Aus der Vergangenheit gespeiste Sprechgewohnheiten können leicht erhebliche Irritationen hervorrufen. Eine liturgische Prophetenlesung und -deutung muss stets erkennen lassen, dass ihr christliches Verständnis kein exklusives, erst recht nicht ersetzendes und überschreibendes ist. Das ist seit dem Vatikanum II theologisch, nicht aber in der Praxis allerorten selbstverständlich.

Es ist zu begrüßen, dass in Reaktion auf die Befunde des ersten und zweiten. Antisemitismusberichts für den Deutschen Bundestag zuletzt durch das BMBF Förderlinien für einschlägige Forschungsvorhaben bereitgestellt wurden; und es ist zu hoffen, dass sie neue Einsichten zum Antisemitismus und zu anderen Erscheinungen von Diskriminierung im geschichtlichen Verlauf wie in ihren gegenwärtigen Ausprägungen erbringen. Es muss vor allem darum gehen, über aktuelle Daten hinaus auch die heutigen Entstehungsbedingungen von Einstellungen zu analysieren und geeignete Mittel zur Prävention zu entwickeln. Das ist nicht nur Aufgabe der Sozial- und Geisteswissenschaften. Hier sind auch die Theologien gefordert, und es ist zu hoffen, dass sie mit ihren gesamten Fächerkanones eine aktive Rolle in künftigen Forschungen und der Vermittlung ihrer Ergebnisse nach innen wie außen spielen werden.

Editorische Anmerkungen

Quelle: Deutsche Bischofskonferenz.