Eine unendliche Geschichte!? Peter Schäfers „Kurze Geschichte des Antisemitismus“ ist ein großer Wurf

Rechtzeitig zum Gedenkjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ legt der emeritierte international renommierte Judaist Peter Schäfer, der an der Freien Universität Berlin und an der Princeton University in den USA gelehrt hat, eine „Kurze Geschichte des Antisemitismus“ vor. Sie zeigt in einer über 2000 Jahre dauernden Geschichte eine erschreckend judenfeindlich Konstante, die von einem zum anderen Kulturraum, von einer zur anderen Epoche weitergereicht wird und sich bei gleichbleibender Grund-struktur variantenreich kostümiert.

Es ist ja doch eine äußerst fragwürdige „Leistung“ einer Gesellschaft, die unter ihr lebende Minderheit über einen solch langen Zeitraum wie in Deutschland im Zustand des Fremden, des Anderen zu halten. Obwohl die jüdische Kultur seit Jahrhunderten an der Prägung Europas und Deutsch-lands mitwirkt, bleibt auch sie der Mehrheitsgesellschaft fremd.

Seit Juden aus freiwilligen oder erzwungenen Gründen, in der Diaspora leben, machen sie diese Fremdheitserfahrungen, für die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert der nicht ganz zutreffende Begriff Antisemitismus üblich geworden ist.

Schon das biblische Buch Esther, dessen ursprüngliche hebräische Fassung noch in Persien spielt, dessen Zeitkolorit aber eher auf den Beginn der griechisch-römischen Antike hinweist, ist das erste historisch greifbare Ereignis, an dem sich bereits die über die Jahr-hunderte verbleibende Grundstruktur antijüdischer Vorkommnisse ablesen lässt: eine Mehrheitsgesellschaft lässt nicht zu, dass eine Minderheit nach eigenen Gesetzen lebt, brandmarkt sie, sondert sie ab und droht mit der Vernichtung.

Diese immer wiederkehrende Grundform erlaubt es dem Autor, durchweg von der Antike bis zur Gegenwart von Antisemitismus zu sprechen. Bei dem für die christliche Judenfeindschaft gängig gewordenen Begriff des Antijudaismus sieht er die Gefahr, sich mit dem Hinweis, dass die Schoah eine Folge des (heidnischen) Antisemitismus gewesen sei, sich von der eigenen Schuld zu exkulpieren.

Schäfers Gang durch die Geschichte des Antisemitismus erfolgt nach einer gängigen Epocheneinteilung in acht Kapiteln. Die Wiege des Antisemitismus steht in der griechisch-römischen Antike. Im ptolemäischen Ägypten entsteht nach der griechischen Über-setzung der hebräischen Bibel, der Septuaginta, eine Anti-Erzählung zum biblischen Exodus, die das offensichtlich verletzte Selbstwertgefühl der Ägypter heilen sollte. Die Juden des Exodus, denen die Befreiung aus der Sklaverei Ägyptens gelungen war, werden als lepröser, schon kasernierter Abschaum der Gesellschaft dargestellt und seien schließlich aus dem Land vertrieben worden.

Neben der Menschenfeindlichkeit wird den Juden auch Gottlosigkeit vorgeworfen, weil den Ägyptern in ihren von Götterstatuen gefüllten Tempeln der leere Raum des Allerheiligsten im Jerusalemer Tempel eine Vorstellung schierer Unmöglichkeit war und der Gelegenheit zu phantasmagorischen Mutmaßungen führte, den Raum mit einem goldenen Esel, einem Eselskopf oder einem gefangenen Griechen, der gemästet und schließlich rituell geschlachtet werden soll, zu füllen. Besonders in Alexandria kommt es immer wieder zu Konflikten, die Juden werden ghettoisiert, und es kommt schließlich zum ersten antijüdischen Pogrom der Geschichte.

Dieses phantasievolle reiche Arsenal des Judenhasses aus dem ptolemäischen Ägypten und dem seleukidischen Syrien verbreitet sich in der römischen Antike und Spuren dringen auch in das entstehende Christentum. Die Auseinandersetzung Jesu mit seinen Gegnern in den neutestamentlichen Schriften, die noch als innerjüdische Polemik gedeutet werden kann, wächst sich allmäh-lich zu einer christlichen Judenfeindschaft aus, als sich das christliche Selbstverständnis als das wahre Israel herausbildet, das alle heilgeschichtlichen Auszeichnungen des Judentums nun für sich beansprucht und die Juden zu Häretikern abstempelt, ihre religiöse Blindheit und moralische Verkommenheit in der Zerstörung Jerusalems und des Tempels bestraft sieht. In Schriftexegese und Geschichtstheologie maßt sich nun das Christentum an, als das neue Gottesvolk an die Stelle des Judentums von Gott erwählt zu sein. Zum überkommenen antiken Vorwurf der Gottlosigkeit und der Menschenfeindlichkeit tritt nun eine viel verhängnisvollere spezifisch christliche Verwerfungsfigur, die bis in unsere Gegenwart der Judenfeindschaft eine bleibende Stoßkraft verleiht.

Eine Flut von antijüdischer Literatur entsteht nun im Christentum und in der Gesetzgebung des bald christlich gewordenen Staates wird die Tendenz stärker, die Rechte der Juden immer mehr zu beschneiden, das jüdische Leben einzuengen und aus dem öffent-lichen Leben zu verdrängen. Als die Frage anstand, ob die Juden als Gottesmörder und Christenfeinde in einem christlichen Imperium geduldet werden sollten, bildeten sich zwei Fraktionen: eine größere, radikalere, die alle nur denkbaren repressiven Maßnahmen ergreifen wollten, den Juden nur als zum Christentum notfalls Zwangskonvertierte ein Lebensrecht einzuräumen. Eine kleinere Fraktion wollte ihnen aufgrund der biblisch verheißenen Hoffnung auf eine endzeitliche Rettung ein Bleiberecht gewähren, sie aber in „elenden“ Verhältnissen halten. Kein Jude sollte je Herr über einen Christen sein. Diese zunächst geistliche Denkfigur der „ewigen Knechtschaft der Juden“ in der frühen Kirche wurde im 13. Jahrhundert durch den Stauferkaiser Friedrich II. als Kammerknecht-schaft der Juden stattlich adoptiert. Die Juden sollten als Schutz-befohlene dem Kaiser gehören und durch vielfache Abgaben dem kaiserlichen Fiskus enorme finanzielle Vorteile bringen, was auch die untergeordneten staatlichen Autoritäten später, wenn der Kaiser sie an den Einkünfte partizipieren ließ, oft zu einer freund-licheren Haltung gegenüber den Juden bewog. Kirchlicherseits war die Furcht vor einer Unterordnung unter die Juden dann immer groß, wenn bei den christlichen iudaizantes zu große Sympathien für die Nachkommen der Patriarchen und Propheten zu erkennen waren.

Schon in den Predigten des Johannes Chrysostomus wird die offensichtliche Attraktivität des Judentums als der ursprünglicheren Religion deutlich. Der Prediger, der auch wegen seiner Eloquenz Goldmund genannt wird, schreckt nicht vor einer Fäkalsprache zurück, das Judentum zu diffamieren und zu verteufeln, um seinen Zuhörern die Vorzüge des Christentums vorzuführen. Auch noch in der Zeit der Karolinger machen die Briefe der Bischöfe Agobard und Amulo von Lyon an den fränkischen Hof, die eher kleinen Abhand-lungen gleichen, deutlich, wie groß die Sympathien für das Juden-tum am Hof wie auch beim einfachen Volk waren.

Eine merkliche Verschärfung der Judenfeindschaft trat mit den Kreuzzügen und auch der bald folgenden endlosen Reihe von Verfolgungen und Massakern ein. Die Begegnung mit dem Heiligen Land und den originalen Schauplätzen des Lebens, Leidens und Sterbens Jesu hat eine neue Sensibilität, die Compassio, nach Europa gebracht, die sich verheerend für die Juden ausgewirkt hat. Eine stark emotionalisierte Popularisierung der christlichen Kreuzestheologie durch die Missionsarbeit der Bettelorden führte bald zu phantasmagorischen Vorstellungen über die unter ihnen lebenden blutrünstigen Nachkommen der Christus- und Gotteskreuziger: Ritualmord, Hostenschändung und Brunnenvergiftung. Juden werden nun für Missernten, Krankheiten, wirtschaftliche Krisen, die Pest verantwortlich gemacht. Sie werden zum Inbegriff des Bösen dämonisiert und zum Symbol alles Negativen ent-menschlicht, das an Leib und Seele schadet. Die Vertreibungen am Ende des Mittelalters – nun weniger als Pogrom, sondern als offizielle bürokratische Maßnahme, war dann neben der Entfernung der Juden auch noch der letzte Akt der Ausbeutung mit dem Entzug des verbliebenen Vermögens und der Annullierung der Schulden.

Im Humanismus der Renaissance wird mit der Antike auch die hebräische Sprache und Literatur für die Gelehrten wieder inter-essant. Es entsteht im christlichen Hebraismus durch stärker werdende Kontakte und Kommunikation durchaus eine größere Nähe zum Judentum, die auf eine Besserung der jüdischen Lebensbedingungen hoffen lässt. Man hat sogar in dieser Zeit einen gewissen Philosemitismus feststellen wollen. Doch entsteht den christlichen Hebraisten ein heftiger antijüdischer Proteststurm kirchlicher Kreise, an dem sich auch mit Übereifer jüdische Konver-titen beteiligten. Auch als in einer übertragenen Interpretation der jüdischen Kabbalah christliche Hebraisten die darin verborgene Wahrheit des Christentums zu finden suchten, konnte dies nicht zu einer wirklichen Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden führen, zumal sich gegenüber dem kleinen Kreis der Christ-lichen Hebraisten die traditionelle antijüdische Theologie der Kirche als wirkmächtiger erwies.

Auch die in dieser Zeit entstehende Reformationsbewegung hatte Hoffnungen geweckt. Allerdings wandelt sich Martin Luthers frühe judenfreundlichere Einstellung in seinem späteren Leben und Werk zu einer entschieden antisemitischen Haltung. Der späte Luther bündelt sprachgewaltig das überkommene antijüdische Inventar mit mächtiger Wirksamkeit in den Ländern der Reformation. Die Er-findung des Buchdrucks verbreitet und verstärkt in Flugblättern und Pamphleten die antisemitischen Invektiven.

Auch im Zeitalter der Aufklärung setzt sich trotz sich allmählich entwickelnder Emanzipation die Judenfeindschaft auf religiöser Grundlage fort. Man muss sich wundern, dass der aufklärerische Rationalismus, der allen Aberglauben vor das Forum der Vernunft zitiert, Autoritäten in Frage stellt, vor der Entlarvung der widersinnigen Anschuldigungen der Juden die Waffen streckt. Dem aufklärerischen Geist des Kirchenkritikers und Freigeists Voltaire gelingt es nicht, den antijüdischen Behauptungen der Antike im Werk des Tacitus mit dem Lichte der Vernunft zu begegnen.

Seit 1871 wird durch die Politisierung des Antisemitismus das Kaiserreich zu einer „antisemitischen Konsensgesellschaft“, schreibt Peter Schäfer. Der jetzt geschaffene Begriff des Antisemitismus soll der Judenfeindschaft einen wissenschaftlichen Anstrich geben. Die Rassentheoretiker geben vor, die bisher religiös begründete Juden-feindschaft nun auf eine solide wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Die vielfachen Angriffe auf den Talmud, die regelmäßig zu Prozessen führen, bei denen christliche Alttestamentler die Gut-achten für die Antisemiten beisteuern, das inszenierte Wiederauf-leben der Ritualmord- und Hostienschändungslegenden sowie die doch nicht zu übersehende weitere Präsenz der Theologen und Kirchenleute im Kampf gegen die Juden zeigt, dass die überkommenen antijüdischen religösen Instrumente im sogenannten rassistischen und politischen Antisemitismus nützliche Verwendung finden. Die nun rechtlich gleichgestellten, zu freien bürgerlichen Berufen berechtigten und die im Zeitalter der Industrialisierung wirtschaftlich erfolgreichen und gesellschaftlich avancierten Juden lösen die alten Ängste aus, der Sieg des Judentums, das nach Weltherrschaft strebe, stünde bevor. Die Zuwanderung ostjüdischer Migranten, die vor den Pogromen im Zarenreich und vor der russi-schen Revolution fliehen, wird in der antisemitischen Agitation als für das deutsche Volk gefährliche Überfremdung ausgerufen, womit weitere Ängste beschworen werden. Die in Kriegs- und Nachkriegs-zeit und später dann in den Jahren der allgemeinen Wirtschaftskrise stärkere politisch und ökonomisch argumentierende Auseinander-setzung führte zu einer weiteren Radikalisierung des Antisemi-tismus. Die Juden werden als Kriegsgewinnler und wirtschaftliche Nutznießer beschuldigt. Durch die auffallende Präsenz von Juden an den Räterepubliken nach der deutschen Revolution wird die Angst vor der Machtübernahme der Juden und ihrem endgültigen Sieg noch zusätzlich durch die allgemeine Angst vor der kommu-nistischen Gefahr verstärkt.

Auch in Hitlers „Mein Kampf“ planen die Juden die dauernde Unterjochung der arischen Rasse, die Zerstörung Deutschlands und die endgültige Weltherrschaft. Im nationalsozialistischen Deutsch-land entwickeln sich dann in kurzer Zeit nach dem frühen Juden-boykott, den Nürnberger Gesetzen und der Kristallnacht immer tiefer greifende Einschränkungen der Lebensverhältnisse, der Entrechtung, der Entfernungaus allen öffentlichen Ämtern, aus dem Kulturleben, mit Berufsverboten, dem Einzug jüdischen Vermögens und der schließlichen Arisierung der Wirtschaft hin zu einem Vernichtungsantisemitismus, dem dann 5 – 6 Millionen Juden durch Zwangsarbeit, Massenerschießungen und Vergasung in den Todes-fabriken der Konzentrationslager zum Opfer fielen.

Nach 1945 hätte man annehmen können, dass der Antisemitismus im Erschrecken über den Genozid in der Schoah sein endgültiges Ende gefunden hätte. Doch diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. So wie nationalsozialistische Gesinnung nicht verschwunden war, so zeigten sich schon sehr bald wieder die bekannten Elemente des traditionellen Antisemitismus. In den Zeiten des Wiederaufbaus nach dem Krieg, im Aufleben des Wirtschaftswunders konnte rück-wärts geschaute Erinnerung nur stören. Mit Vergessen und Ver-drängung ging vielfach eine Verharmlosung, Relativierung oder gar Leugnung der NS-Verbrechen einher. Sogar eine neue Variante der alten Judenfeindschaft trat auf, die in jedem Juden einen Ankläger sah, der die Erinnerung an die Schoah wach hielt. Als im Nahost-Konflikt nach dem 6-Tage-Krieg das Los der Palästinenser ins Inter-esse vor allem der politischen Linken rückte, tarnte sich der alte Antisemitismus in den Antizionismus oder Antiisraelismus.

In der Gegenwart angekommen muss wieder von einem bedrohlichen Anstieg des Antisemitismus ausgegangen werden, der längst nicht mehr nur in der extremen Rechten und der extremen Linken zu Hause ist, sondern auch in die Mitte der Gesellschaft gerückt und bereits wieder gewalttätig geworden ist. Trotz eklatanter Fälle gebe es keine sicheren Belege für einen messbaren Einfluss der muslimischen Zuwanderung auf die Zunahme des Antisemi-tismus in Deutschland. Man müsse auch zwischen manifest antisemitischen Einstellungen und Ressentiments unterscheiden. Schon in einem eigenen Kap. 4 hatte sich der Autor der Entstehung des Islams zugewandt und die in der Öffentlichkeit vieldiskutierte Frage nach der Judenfeindschaft im Koran und dem Islam gestellt. Wiewohl die Juden sich der Botschaft Muhammads verschlossen und seine politischen Gegner waren und daher auch die medinen-sischen Suren judenfeindliche Aussagen beinhalten, sieht der Autor keinen grundsätzlichen Antisemitismus im Koran, sondern zeitbedingte Kampfspuren. Juden und Christen seien als dhimmis Schutzbefohlene des islamischen Staates gewesen. Jedenfalls hätten die Juden unter islamischer Herrschaft rechtlich, sozial und religiös besser als in der römisch-christlichen Spätantike und im christlichen Mittelalter gelebt. Die in den heutigen arabischen Staaten verbreitete Judenfeindschaft, sei im wesentlichen Anti-israelismus, der sich dem andauernden Nahost-Konflikt und der Solidarität mit dem palästinensischen Brudervolk verdanke. Schon die Damaskus-Affäre 1840 zeige, dass der traditionelle Antisemitismus ein europäischer Import sei. Auch der international viel-diskutierten Frage, ob die gegenwärtige weltweite Boykottbewegung BDS als antisemitisch einzustufen sei oder nur Ausdruck berech-tigter Kritik an Israels Regierungspolitik, widmet er eine sehr diffe-renzierte Darstellung.

„In der Gesamtschau erweist sich der Antisemitismus als eine vielköpfige Hydra wie das Ungeheuer der griechischen Mythologie mit einem eigentlich unsterblichen Haupt und vielen weiteren Köpfen, dem immer wieder ein anderer Kopf nachwächst, wenn einer abgeschlagen wird.“ So beginnt des Autors nüchterner Ausblick auf die weitere Entwicklung. Niemand wird vorhersagen können, ob diese unselige Geschichte von Gewalt und Irrtum, Blut und Tränen je aufhören wird. Der Antisemitismus ist bis heute in all seinen Facetten wirksam und hat seinen Machtbereich auf die neuen Medien wie dem Internet ausgeweitet, wo sich die durch Anonymität geförderte Verantwortunglosigkeit der Erregungs-gemeinschaft austobt. Aufgabe des Staates und der Gesellschaft muss es sein, den Geist zu fördern und die Instrumente bereit-zustellen, die, wenn sie auch nicht diese Dynamik der Judenfeindschaft beenden können, sie wenigstens unter Kontrolle zu halten. Peter Schäfers „kühne(s) Unterfangen“, „eine kurze Geschichte des Antisemitismus zu schreiben“, ist glänzend gelungen. Gegen die heute herrschenden Erklärungsmodelle geht er die Suche nach Wesen und Funktion des Antisemitismus in der langen Geschichte der Judenfeindschaft nicht frontal an, sondern will sie aus profunder Kenntnis der vorliegenden originalen Quellen erschließen, die er in zahlreichen Belegen vor dem Leser ausbreitet und sie für ihn in politische, kulturelle und religiöse Zusammen-hänge einbettet. Der Antisemitismus stellt sich dabei als ein „variables, vielschichtiges und offenes System“ heraus, zu dem zwar alle Epochen ihre spezifischen Varianten beigetragen haben, das aber doch im judenfeindlichen Unterstrom immer gleich geblieben sei. So findet der Autor entgegen der heutigen wissenschaftlich vorherrschenden Meinung, dass auch die säkular sich gebenden Formen der Judenfeindschaft weiterhin in der Religion verankert bleiben. Als Grundtenor ziehe sich durch die ganze Geschichte des Antisemitismus eine „ständige Ambivalenz zwischen Hass auf die Juden und Angst vor den Juden“ mit gleichbleibender Vernichtungstendenz. so dass auch für alle Epochen der Begriff des Antisemitismus erlaubt sei. Die Angst der Kirche resultierte oft aus der Befürchtung des Rückfalls ins Juden-tum. Der Kampf gegen die iudaizantes, die Vorstellung von der ewigen Knechtschaft der Juden, die Kriegsrhetorik in der Sprache der Judenfeindschaft bis in die Gegenwart machen dies deutlich. Ein selbstbewusst auftretendes, alphabetisiertes und polyglottes Judentum, das weiterhin als fremd erachtet wird, kann leicht bei der großen Mehrheit des ungebildeten Volkes ein Gefühl von Unterlegenheit auslösen, das in Hass umschlägt und sich auch bei erweitertem Bildungsstand politisch leicht instrumentalisieren lässt. Dabei werden die Juden in einem Prozess der allmählichen Dämonisierung und Verteufelung zu Schädlingen der Gesellschaft entmenschlicht, deren Vernichtung – so im Nationalsozialismus - als Dienst an der Menschheit geboten sei.

Peter Schäfer eignet die Kunst einer Wissenschaftssprache, die unaufgeregt bei der Sache bleibt, Zusammenhänge herstellt, aus der imposanten Kenntnis der Quellen und eigener Forschungen überzeugt. Seine Sprache ist jedermann verständlich, die Lektüre spannend. Ein Anhang mit Anmerkungen, einer Literaturliste und einem Personen- und Ortsregister erhöht die Lesefreudigkeit. Diesem Buch ist eine weite Verbreitung zu wünschen.

Peter Schäfer:
Eine kurze Geschichte des Antisemitismus.

Verlag C.H.Beck
München 2020, 2. Aufl. 335 S.

Editorische Anmerkungen

*Herbert Jochum ist katholischer Vorsitzender der Christlich-Jüdischen Arbeitsgemeinschaft des Saarlandes (CJAS) und Lehrbeauftragter am Institut für katholische Theologie der Universität Saarbrücken. Der obige Beitrag erschien in leicht gekürzter Fassung erstmals in: Kalonymos. Beiträge zur deutsch-jüdischen Geschichte aus dem Salomon-Ludwig-Steinheim-Institut an der unviersität Essen, 2021/Heft 1/2.