Zu Jes 62,2

Jesaja 62,2: "Dann sehen die Nationen deine Gerechtigkeit und alle Könige deine Herrlichkeit. Man ruft dich mit einem neuen Namen, den der Mund des HERRN für dich bestimmt."

1 Um Zions willen werde ich nicht schweigen, um Jerusalems willen nicht still sein, bis hervorbricht wie ein helles Licht seine Gerechtigkeit und sein Heil wie eine brennende Fackel.

2 Dann sehen die Nationen deine Gerechtigkeit und alle Könige deine Herrlichkeit. Man ruft dich mit einem neuen Namen, den der Mund des HERRN für dich bestimmt.

3 Du wirst zu einer prächtigen Krone in der Hand des HERRN, zu einem königlichen Kopfschmuck in der Hand deines Gottes.

4 Nicht länger nennt man dich Verlassene und dein Land nicht mehr Verwüstung, sondern du wirst heißen: Ich habe Gefallen an dir und dein Land wird Vermählte genannt. Denn der HERR hat an dir Gefallen und dein Land wird vermählt.

5 Wie der junge Mann die Jungfrau in Besitz nimmt, so nehmen deine Söhne dich in Besitz. Wie der Bräutigam sich freut über die Braut, so freut sich dein Gott über dich.

(Jesaja, 62, 1-5)

Oft wird Jerusalem als „heilige Stadt dreier Religionen“ bezeichnet; aber stimmt dies? Und wenn ja, was besagt dies? Diese Bezeichnung wird recht fragwürdig, wenn man sich bewusst macht, was damit letztlich zum Ausdruck gebracht wird: Angehörige dreier Religionen erheben Anspruch darauf, z.T. sogar politischen. Hier kann die heutige Losung für Klarheit sorgen – vor allem, wenn man sie in ihrem Zusammenhang liest.

Westermann stellt zwar fest, in diesem Kapitel gehe es um Gottes Anklage gegen Zion. Zumindest für die ersten fünf Verse kann man dies so sicher nicht behaupten. Im Gegenteil: immerhin ist vorausgesetzt, dass Jerusalem nach der Zerstörung durch die Babylonier wieder von Mauern umgeben ist (V. 6); aber es ist noch nicht wirklich „auf die Beine“ gekommen. Die durch die Zeilen schimmernde Atmosphäre erinnert an das Buch Nehemia.

Aber dies muss nicht so bleiben. Das Schicksal der Stadt liegt Gott am Herzen – und die Zukunft Jerusalems wird strahlend sein – nicht hinsichtlich wirtschaftlicher und politischer Macht, sondern hinsichtlich seiner Gerechtigkeit. Sie wird strahlen (kannogach = wie ein Glanz) und ihre Rettung (kelappid) wie eine Fackel – oder wie ein Blitz? Ich neige fast dazu, mich für den Blitz zu entscheiden, weil auch in der Bildsprache des Neuen Testaments das „Kommen des Menschensohns“ als Inbegriff der endgültigen Erlösung mit einem Blitz verglichen wird (Mt 24,27). Aber auch das Bild der Fackel ist symbolträchtig; es enthält das Moment der Beispielhaftigkeit; deshalb möchte ich beide Möglichkeiten offen lassen; vielleicht sind auch beide gemeint. Jedenfalls erscheint mir der Begriff „Heil“ zu wenig präzise. Es geht zunächst um Jerusalems Rettung, die dem Heilszustand vorausgehen muss.

Dennoch sollte gerade im Blick auf die heutige Jerusalem-Problematik, die sich im Grunde seit der Kreuzzugszeit nicht verändert hat, sondern während der langen Osmanen-Herrschaft lediglich verdeckt war, gerade auf die Besonderheit der Ankündigung in der heutigen Tageslosung geachtet werden: „Und du sollst mit einem neuen Namen genannt werden, welchen des Herrn Mund nennen wird.“ (weqora lakh schem chadasch aschær pi JHWH jiqqabænnu]. Ein eigenartiges Verb, dieses (jiqqabænnu); denn es bedeutet eigentlich „durchbohren“ und in diesem Sinn auch „kennzeichnen, festsetzen“ d.h. markieren. Wie dieser neue, dieser eingravierte Namen lauten wird, sagt dieser Vers nicht. So viel ist allerdings klar: es wird 1. ein völlig neuer Name sein, mit dem auch eine völlig neue Zweckbestimmung gesetzt sein wird, und 2. ein von Gott festgesetzter Name; Bezeichnungen wie „Hauptstadt dreier Religionen“ oder „Ewige ungeteilte Hauptstadt Israels“ auch „Al Quds“, „die Heilige“, wie Jerusalem arabisch genannt wird, hängen alle noch irgendwie am Alten. Nimmt man den Vers aus Jes 62,2 in seinem Zusammenhang ernst, dann werden alle derartigen Bezeichnungen Makulatur; denn sie alle bringen menschliche Besitzansprüche und damit Gruppeninteressen zum Ausdruck.

Mir ist dies bisher noch nie so deutlich geworden wie durch diese Losung. So hat es durchaus einen Vorteil, wenn eine solche Verheißung zunächst einmal aus ihrem Zusammenhang gerissen wird, um gewissermaßen mit dem Vergrößerungsglas betrachtet zu werden, sofern sie dann allerdings wieder in ihren Rahmen zurück versetzt und nicht isoliert betrachtet werden. Dabei können auch zu aktuellen Fragen völlig neue Gesichtspunkte in den Blick geraten.