Vorsicht vor wohlmeinender Scheinheiligkeit
Wegen meiner grundsätzlichen Haltung stehe ich auf der Mailing-Liste mehrerer jüdischer Organisationen, die dem politisch linken Spektrum zuzurechnen sind. Einige dieser Organisationen haben mit Nachdruck um meine Unterschrift für Petitionen gebeten, die sich gegen die gegenwärtige Aktion im Gaza-Steifen aussprechen. Ich habe das abgelehnt. Natürlich verabscheue auch ich jegliche Form von Gewalt, aber ich weiß nicht, wie anders Israel hätte reagieren können oder sollen, um seine Bürger vor dem Raketenbeschuss der Städte und Siedlungen im Süden des Landes zu beschützen.
Die Rufe nach einem angemessenen Gegenschlag Israels mögen ernst gemeint sein sein, aber wäre es denn besser gewesen, wenn Israel auf seiner Seite der Grenze zum Gaza-Streifen Raketenwerfer aufgestellt und auf die tägliche Bombardierung mit einer Gegen-Bombardierung in gleichem Umfang reagiert hätte? So wie die Raketen, die die Hamas und ihre Handlanger abschießen, willkürlich auf die Israelis herniedergehen, genau so sollten Israels Raketen unpräzise abgeschossen werden, um zu Verlusten zu führen, die buchstäblich eine Folge wahllosen Zufalls wären? Hätte das für die Bürger des dicht besiedelten Gaza-Streifens eine bessere Schonung mit sich gebracht? Und wäre dies ein effektiverer Weg gewesen, um die Hamas und ihre iranischen Zahlmeister daran zu hindern, Leib, Leben und Besitz weiterhin zu verletzen?
Jeder Krieg ist schrecklich und der Krieg gegen Terroristen erst recht, denn hier operiert der Feind aus der Mitte von Zivilisten heraus und setzt sie zusätzlichen Gefahren aus. Vieles weist darauf hin, dass sich Israel dessen bewusst ist und versucht, die Zahl der unschuldig Betroffenen so gering wie möglich zu halten, aber es ist ebenso klar, dass dies nicht immer möglich ist. Deshalb lässt man selbst in der gegenwärtigen Kriegssituation humanitäre Hilfskonvois passieren. Fromme Petitionen zu unterschreiben, wie wohlmeinend auch immer sie sein mögen, haftet daher ein Geruch von Heuchelei an.
Der Druck, derlei zu tun, wird oftmals durch die Medien gesteigert. In ihrem legitimen Bemühen, über das zu berichten, was sie sehen und hören, beschreiben Journalisten das Blutbad und die Verwüstung, deren Zeugen sie sind. Wir, die wir vom Ort des Geschehens weit entfernt sind, stehen wiederum in der Versuchung, einfache Erklärungen abzugeben und pauschale Schuldzuweisungen zu treffen. Ein Staat wie Israel, der für seine militärische Stärke bekannt ist, zieht weit eher den Zorn gleichgültiger Zuschauer auf sich als jene „Freiheitskämpfer“, auch wenn diese nichts anderes als Terroristen sind.
In ihrem blinden Eifer und ihrer totalen Verachtung menschlichen Lebens haben Hamas in Gaza, Hisbollah im Libanon und die Taliban in Afghanistan viel miteinander gemein. Sie alle stellen blinde Ideologie über die Wohlfahrt realer Menschen. Als Afghanistan als Hauptsitz jenes Terrorismus identifiziert wurde, der zu den Anschlägen am 11. September führte, schritt die internationale Gemeinschaft ein. In der Folge kam es zu vielen Toten unter der Zivilbevölkerung. Gleichwohl verlangte niemand einen angemessenen Gegenschlag durch die NATO-Streitkräfte, weil dies schlicht weltfremd wäre. Die Situation in Gaza ist vergleichbar.
Ähnlich, wie viele Frauen und Männer der politischen Linken im Westen die gemeinsame Verantwortung, für Frieden in Afghanistan zu sorgen, akzeptiert haben, erscheint es vernünftig zu hoffen, dass Israel ähnliches in Gaza bewerkstelligt. Selbst Israels Linkspartei Meretz stimmt dem zu. Und Abu Mazen, der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, scheint ähnlich zu denken, wenn er zu Recht feststellt, dass die Hamas der wahre Schuldige ist, indem sie den Waffenstillstand mit Israel aufkündigte und damit eine Reaktion provozierte. Die gedämpften Reaktionen der arabischen Nachbarstaaten lassen auf eine ähnliche Einschätzung schließen.
Die Israelis haben mit Erleichterung reagiert, dass wenigstens ihre eigene Regierung etwas unternimmt und dass die Streitkräfte dieses Mal besser vorbereitet sind, als es vor zweieinhalb Jahren der Fall war, als das Land auf eine ähnliche Situation im Norden reagieren musste, wo die Bevölkerung dem Beschuss der Hisbollah-Raketen ausgeliefert war. Auch wenn dort nun Ruhe, eine gleichwohl unbehagliche Ruhe herrscht, war der Preis dafür unnötig hoch. Wir hoffen alle, dass es diesmal anders sein wird, nicht zuletzt um der unglückseligen Bevölkerung Gazas willen.
Aber soweit ich sehe ist niemand über-optimistisch oder glaubt, dass es einfach sein wird. Der Krieg gegen den Terror scheint kein Ende zu nehmen, und selbst demokratische Staaten beteiligen sich an ihm, weil die Alternative nur noch schlimmer wäre. Darum sind nur wenige von uns in der Stimmung, Petitionen zu unterschreiben, die „beide Seiten“ zum Frieden auffordern. Jeder weiß, dass es in diesem Falle nur einer Seite bedarf – Hamas – die einen Waffenstillstand erklären muß und Israel wird reagieren, wie es das auch in den vergangenen sechs Monaten getan hat, obwohl dem Raketenbeschuss seiner Bevölkerung zu keinem Zeitpunkt ein Ende gemacht wurde.
Jerusalem 29.12.08