Von der Ver-gegnung zur Be-gegnung

Lernen... in der Begegnung mit Judentum und Islam.

I. ALLES WIRKLICHE LEBEN IST BEGEGNUNG

Worte können Schall und Rauch sein, verwehen im Winde, sobald sie gesprochen sind. Aber es gibt auch Worte, die Widerhaken besitzen. Klettengleich haften sie an, wenn man sie anfasst. So ist es mir mit einem Wort ergangen, das ich nicht mehr vergesse, seit ich es zum ersten Mal aufspürte. Es war im Zusammenhang meiner Arbeit am Werk des großen jüdischen Religionsphilosophen und Bibelübersetzers Martin Buber, dessen „Schriften zum Christentum“ ich zu edieren und zu kommentieren hatte. 2011 ist der Band erschienen. Er wird 2015 ergänzt durch ein eigenes Buch von mir zum Thema „Martin Buber - seine Herausforderung an das Christentum“. Ich bin auf der Suche nach autobiographischen Aufzeichnungen. Ich will Bubers Geschichte besser verstehen und greife zu dem Bändchen „Begegnungen. Autobiographische Fragmente“, das der Altgewordene fünf Jahre vor seinem Tod 1960 noch veröffentlicht hat.

1. „Vergegnung“: Martin Bubers traumatische Erfahrung

Ein Text daraus handelt von der Beziehung des Kindes zu seiner Mutter. Geboren 1878 in Wien, hatten die Eltern sich früh getrennt. Buber ist zu diesem Zeitpunkt vier Jahre alt und wächst ab jetzt bei seinen Großeltern väterlicherseits im galizischen Lemberg auf. Aber die Trennung von der Mutter ist eine traumatische Wunde. Und sie beginnt in dem Moment wieder zu brennen, als das Kind einmal ein älteres Mädchen, das auf ihn Acht zu geben hatte, das Wort sagen hört: „Nein, sie kommt niemals zurück“, die Mutter des kleinen Martin. „Niemals zurück“: das unbedachte Wort bleibt in der Seele des Kindes haften, es „verhaftet“ sich, so Buber, „von Jahr zu Jahr immer mehr in meinem Herzen“. Und ein Wort bildet sich heraus, das diese traumatische Erfahrung zusammenfasst: „Später einmal habe ich mir das Wort ‚Vergegnung’ zurechtgemacht“, notiert Buber, „womit etwa das Verfehlen einer wirklichen Begegnung zwischen Menschen bezeichnet war. Als ich nach ... Jahren meine Mutter wiedersah, die aus der Ferne mich, meine Frau und meine Kinder besuchen gekommen war, konnte ich in ihre noch immer zum Erstaunen schönen Augen nicht blicken, ohne irgendwoher das Wort ‚Vergegnung’, als ein zu mir gesprochenes Wort, zu vernehmen. Ich vermute, dass alles, was ich im Laufe meines Lebens von der echten Begegnung erfuhr, in jener Stunde seinen ersten Ursprung hatte.“ (Begegnung, 19789, 10f.) In jener Stunde also, als dem Kindermädchen das fatale Wort entfuhr.

In der Tat wird Buber später zu dem Philosophen des Dialogs werden und uns wie kein anderer lehren, dass „Dialog“ im Tiefsten nicht aus dem bloßen Austausch von Informationen besteht, sondern auf Momenten der Begegnung, die einen Menschen ergreifen, verwandeln, verändern können. In seiner später weltberühmten Schrift „Ich und Du“ von 1923 wird er den Satz niederlegen: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“. Um aber diese Erfahrung wirklichen Lebens zu machen, muss man durch Erfahrungen von „Vergegnungen“ hindurch. Muss sie durchschauen lernen. Muss wissen, was man vermisst.[1]

2. Lernen mit Helmut Schmidt: Was Dialog sein könnte

Wir leben in einer Zeit, die mehr denn je Dialogfähigkeit verlangt. Ob man für ein exportintensives Unternehmen tätig ist, für globalen Klimaschutz arbeitet, für die Kontrolle der internationalen Rüstungsindustrie oder den Dialog der Religionen. Dialogfähigkeit ist heute eine Kernkompetenz in einer durch das world-wide-web vernetzen Weltgesellschaft. Sie ist der Modus der Selbstbehauptung schlechthin in einer komplexen Welt, von der wir in Deutschland schon wirtschaftlich abhängig sind. Verlangt ist nicht nur das Beherrschen verschiedener Sprachen, sondern auch das verschiedener kultureller Codes.

Aber Dialogfähigkeit hat man nicht wie selbstverständlich, sie erwirbt man wie andere Kompetenzen auch. Interkulturelles, interreligiöses Lernen ist das Gebot der Stunde. Für mich gibt es dafür kein eindrücklicheres Dokument als das, welches ich den verschiedenen Publikationen Helmut Schmidts gefunden habe. Unser früherer Bundeskanzler erinnert sich immer wieder aufs Neue an eine persönliche Begegnung mit dem damaligen ägyptischen Staatspräsidenten Anwar as-Sadat, dessen Friedensreise nach Israel im November 1977 einer Weltsensation gleichkam:

„Einmal führten wir in Ägypten mehrere Tage lang ein Gespräch über religiöse Fragen. Wir fuhren zu Schiff nilaufwärts, schließlich bis nach Assuan. Die Nächte waren völlig sternenklar. Wir saßen stundenlang an Deck, hatten Unendlichkeit und Ewigkeit über uns und sprachen über Gott. Das Gespräch machte einen so tiefen Eindruck auf mich, dass ich Tag für Tag ein paar Notizen über Sadat Ausführungen niederschrieb. [...]


Die monotheistischen Religionen, so erklärte Sadat, haben ihre gemeinsamen geschichtlichen Wurzeln auf dem Sinai. [...] Der in den heiligen Schriften bezeugte Ursprung des Glaubens an den alleinigen Gott liegt allerdings bei Abraham, der ungefähr im gleichen Zeitalter gelebt haben muss wie Echnaton. Sowohl die Juden und Christen als auch die Muslime glauben, von Abraham abzustammen. Abraham (oder arabisch Ibrahim) gilt im Koran als ‚Vater des Glaubens’. Der erste der ganz großen gemeinsamen Propheten der Juden, der Christen und der Muslime war aber Moses, der am Berge Sinai die Gesetze (die zehn Gebote) aus Gottes Hand empfangen hat. Wir alle berufen uns auf ihn; übrigens ist Moses ein ägyptischer Name.


Der Koran hat auch die meisten anderen Propheten des Alten Testamentes anerkannt: Noah, Abraham, Ismael, Isaak, Jakob, Joshua, David und andere, selbst Adam als allerersten. Ihnen hat sich Gott geoffenbart. [...]


Ihr Europäer freilich wisst dies alles nicht. Ihr wisst auch nicht, dass Jesus nach koranischer Auffassung der zweitwichtigste aller Propheten war, nach ihm kam nur noch Mohammed, der steht allerdings über ihm. Freilich haben die Rabbiner, die christlichen Kirchen und auch der Islam vielerlei Keime zu gegenseitiger Feindschaft gelegt. Aber wir müssen jetzt endlich zurückgreifen auf die Gemeinsamkeit unseres Glaubens an den einen Gott. Dann wird der Friede zwischen allen drei Religionen möglich gemacht werden. [ ...]


Sadat hoffte auf eine große friedliche Begegnung von Judentum, Christentum und Islam. Sie sollte symbolisch auf dem Berge Sinai stattfinden, dem Mosesberg, wie er im Arabischen genannt wird. Dort sollten nebeneinander eine Synagoge, eine Kirche und eine Moschee gebaut werden, um die Eintracht zu bezeugen. Tatsächlich hat Sadat 1979, zwei Jahre nach seiner Jerusalemreise, dort einen Grundstein für die Gotteshäuser gelegt [...]


Sadats Friedenswille entsprang dem Verständnis und dem Respekt vor den Religionen der anderen. Erst von ihm habe ich gelernt, Lessings Parabel von den drei Ringen voll zu begreifen. Sadat hat Lessing wohl kaum gekannt, aber er hat Lessings Mahnung nicht bedurft. [...]


Der Mord am 6. Oktober 1981 setzte allen Vorhaben und Visionen dieses ganz und gar ungewöhnlichen Mannes ein Ende. Er war von einer für Regierungschefs ungewöhnlichen Offenheit gewesen, und niemals vorher oder nachher habe ich mit einem ausländischen Staatsmann derart ausführlich über Religion gesprochen. Ich habe ihn geliebt. Wir waren bis auf zwei Tage gleichaltrig. Unsere nächtliche Unterhaltung auf dem Nil gehört zu den glücklichsten Erinnerungen meines politischen Lebens“

(Weggefährten. Erinnerungen und Reflexionen, Berlin 1996, S. 341.343. Ähnlich wieder in: Helmut Schmidt, Religion in der Verantwortung. Gefährdungen des Friedens im Zeitalter der Globalisierung, Berlin 2011, S. 127f.; 129f.; 149f.).

Große gemeinsame Propheten. Gemeinsame Abstammung von Abraham! Jesus der zweitwichtigste aller Propheten: Vor uns liegt ein exemplarischer Text für interreligiöses Lernen. Zuerst Ahnungslosigkeit, Ignoranz: „Ihr Europäer wisst dies alles nicht.“ Plötzlich eine Begegnung mit einem konkreten Gegenüber. Diese Begegnung ist entscheidend. Der Andere ist im Blick. Das verändert alles. Nicht länger die kalte Schulter, das herunter geklappte Visier. Hinzu kommt eine einzigartige Stimmung, eine nächtliche Nilfahrt, bei der einem schon das Herz aufgehen kann. Eine Lebenserfahrung ist hier beschrieben, die ich selber vielfach gemacht habe. Oft sind es nicht Bücher, sondern Menschen, die einem neue Welten erschließen, neue Horizonte eröffnen... Plötzlich ist man erstaunt, wie wenig man von voneinander weiß, ja wie viel man miteinander teilt, wenn man die Überlieferungen vergleicht. Und wie viel an Friedensengagement entstehen könnte, nähme man das Gemeinsame in den Religionen ernst. Zugleich zeigt diese Geschichte: Friedensstifter leben gefährlich. Oft zahlen sie den Preis ihres Lebens.

Doch immer, wenn ich diesen Text von Helmut Schmidt überdenke, wird mir bewusst, was interreligiöse Kommunikation im Tiefsten und Besten sein könnte: Aufschließen des Herzens des Anderen und ihn freimachen für das Beste und Tiefste, was die eigene Tradition zu sagen hat. Gelingt dies, wie auf der nächtlichen Nilfahrt der beiden, dann kann selbst einem hartgesottenen Hamburger ein Liebesbekenntnis über die Lippen kommen, dann kann man diesen Austausch als eine der „glücklichsten Erinnerungen“ eines politischen Lebens rühmen.

II.BEGEGNUNGEN MIT DEM JUDENTUM

Wer Erfahrungen wie die von Helmut Schmidt gemacht hat, wird weiter auf Entdeckungsreise gehen. So ist es auch mir gegangen. Vergegnungen, Begegnungen kenne ich auch aus meiner Geschichte. Ein erstes Erwachen kommt bei der Konfrontation deutscher Verbrechen am Judentum. 1948 in eine katholischen Familie des Ruhrgebiets hineingeboren und wohlbehütet im Dreieck von Familie, Gymnasium und Kirchengemeinde aufgewachsen, werde ich aus meiner geschichtlichen Ahnungslosigkeit gerissen durch die Berichte über den ersten Frankfurter Auschwitz Prozess, der 1965 zu Ende gegangen war. Noch im selben Jahr legt der damals schon berühmte Dramatiker Peter Weiss eine Bühnen-Bearbeitung der Zeugen-Aussagen vor: ein „Oratorium“ unter dem Titel „Die Ermittlung“. Ich bin 17/18 Jahre alt. In der VHS meiner Heimatstadt Oberhausen werde ich Zeuge einer Lesung aus diesem Stück. Ein Schock. Nie werde ich die Erschütterung vergessen, welche die Konfrontation mit dem organisierten Massenmord am jüdischen Volk in mir ausgelöst hat. „Allgemein“ wusste man vom Faktum des Holocaust, jetzt aber wurde ich mit einigen der übelsten Täter konfrontiert und mit Zeugen, die das Grauen erlebt und überlebt hatten.

Doch tiefere Analysen? Dazu bin ich damals noch nicht fähig. Dass die Erschütterung durch die Geschehnisse der Schoah auch bis ins Theologische gehen würde, war mir damals ebenfalls nicht bewusst, als ich mit Peter Weiss’ „Ermittlung“ konfrontiert werde. Ich war ja auch „gut katholisch“ erzogen. Und ich wollte Theologie studieren. Diese Erschütterung kommt mit dem Theologie-Studium, vor allem in Tübingen zu Beginn der siebziger Jahre. Jetzt höre ich erstmals das Wort „Theologie nach Auschwitz“. Die Schoah als Zivilisationsbruch und Ende jeder harmonisierenden Gottesrede. 6 Millionen Ermordeter allein auf Seiten des jüdischen Volkes? Zehnmal mehr Opfer durch einen mörderischen Krieg? Das sollte einem nicht die überkommene theologische Sprache verschlagen und die oberflächliche Rede von Gottes Güte, Barmherzigkeit und Liebe nicht zerfetzen wie ein morsch gewordenes Tuch?

Dann die Begegnungen mit wichtigen Repräsentanten des deutschsprachigen Judentums. Darunter Schalom Ben Chorin, Pinchas und Ruth Lapide, Nathan Peter und Pnina Levinson, Ernst Ludwig Ehrlich. Unvergessen die Lektüre von Schalom Ben-Chorins „Trilogie“ über Jesus, Maria und Paulus jeweils „in jüdischer Sicht“. Unvergessen eine Begegnung mit dem Gelehrten Pinchas Lapide in der Synagoge zu Worms, in der Reichspogromnacht verwüstet und geschändet wie andere Synagogen auch, jetzt wieder aufgebaut. In Worms steht die älteste Synagoge auf deutschem Boden. Kostbare Lernerfahrungen. Ein radikaler Wechsel von der Vergegnung zur Begegnung wird möglich... Insbesondere durch einen Studienaufenthalt an der Hebräischen Universität in Jerusalem 1978/79 nach meiner Promotion, ausgestattet mit einem Habilitationsstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Es galt, die biblischen und jüdisch - talmudischen Quellen für das Thema meiner Habil.-Schrift zu erforschen, um besser zu verstehen, warum schon im Neuen Testament (im Corpus Paulinum und Corpus Johanneum vor allem) mit dem Christusbekenntnis Aussagen über die Präexistenz Christi als Gottes Sohn „vor aller Zeit“, ja sogar Aussagen über eine Rolle Christi bei der Weltschöpfung („in ihm wurde alles erschaffen“: Kol 1,16) verbunden worden waren. Als Buch erschien mein Habil.-Schrift 1990 unter dem Titel „Geboren vor aller Zeit? Der Streit um Christi Ursprung“. Die Monate in Jerusalem verschafften mir erstmals kostbare Begegnungen mit den real gelebten Judentum in seiner ganzen inneren Pluralität, vor allem aber unschätzbare Einblicke in die Welt des rabbinisch - talmudischen Judentums und zwar durch große Lehrerpersönlichkeiten wie die Professoren SHMUEL SAFRAI (1919 - 2003) und EPHRAIM URBACH (1912 - 1991). So lernt ich das Judentum als eigenständige Religion kennen und eine christliche Israel--Theologie verkennen, die eine Überlegenheits - und Ersetzungstheologie viele Jahrhunderte lang gewesen ist.

III. BEGEGNUNGEN MIT DEM ISLAM

Und der Islam? Wann und wie trat er in meinen Blick? Und ich muss ebenso direkt antworten: Anders als das Judentum war während meines Studiums der Islam schlicht „nicht auf unserem Schirm“, wie man heute sagen würde. Bei niemandem unter den maßgebenden christlichen Theologen damals in den siebziger Jahren.

1. Der Islam – theologisch ignoriert

Gewiss: Diese Religion gibt es auch schon seit 1400 Jahren, seit dem Abschluss der Offenbarungen an den Propheten Mohammed im Jahre 632 nach Chr. Und der Islam hat in dieser langen Zeit einen globalen Verbreitungsgrad von nominell rund 1 Milliarde Anhänger erreicht. Eine Weltreligion, schon rein zahlenmäßig nur mit dem Christentum vergleichbar. Muslime leben in Ländern des mittleren Gürtelbereichs des Globus, dem sog. „grünen Gürtel“, von Marokko im Westen über Pakistan, die früheren südlichen Sowjetrepubliken wie Aserbaidschan, Kasachstan und Usbekistan bis nach Malaysia und Indonesien im Osten. Indonesien ist das größte islamische Land der Erde mit rund 220 Millionen Einwohnern! Diese Fakten aber haben wir damals weder politisch noch gar theologisch ernst genommen. Gegen den Islam wurde auch nicht polemisiert, er war schlicht nicht präsent, nicht vorhanden, keine politische, kulturelle oder religiöse Herausforderung.

Als er dann eine ökonomische und politische wird, sind wir geistig nicht vorbereitet. Die Ölkrise 1973 ist ein erstes Signal. Unvergessen für alle, die es erlebt haben: die Bilder von leeren Autobahnen in Deutschland. Schlagartig wird uns bewusst, wie ökonomisch abhängig wir von Ländern geworden sind, die vom Islam geprägt sind, ohne dass wir den Faktor Religion ernst genommen hätten. Das gilt auch für mich. Zwar lebte ich 1978/79 für einige Monate in Jerusalem, aber zu dieser Zeit hatte ich nur Augen und Ohren für das Judentum. Zwar konnte auch ich nicht übersehen, dass in dieser Stadt Muslime leben, dass es zum Beispiel auf dem Tempelberg die Al-Aksa-Moschee gibt, dass Tausende von Muslimen jeden Freitag zum Gebet dorthin pilgern. Zwar wusste auch ich, dass der Islam nicht erst seit gestern in Jerusalem präsent ist. Er beherrscht diese Stadt - von kurzen Kreuzfahrerzeiten abgesehen – seit Ende des 7. Jahrhunderts bis heute, gut 1400 Jahre.

Aber für die Präsenz des Islam hatte ich theologisch nicht die geringste Antenne. Ich sehe mich noch auf der uralten Jerusalemer Stadtmauer sitzen. Sie umgibt, wie man weiß, die gesamte Altstadt. Ich hatte mir dort ein romantisches Plätzchen mit Blick auf „Klagemauer“ und Tempelberg für meine Lektüre ausgesucht. Wunderbare Stunden ungestörter Bibellektüre. Die Heilige Schrift, gelesen in der Heiligen Stadt! Was konnte es für einen Menschen wie mich Schöneres geben? Eine Ruhe, eine innere Freude, die nur ab und zu gestört wird durch das lautsprecherverstärkte Gekrächze eines Muezzin, der fünfmal am Tag die Gläubigen zum Gebet ruft. Ich weiß noch, wie mir das lästig war, wie ich das als störend empfand. Ein akustisch hässlicher Fremdkörper inmitten meiner Jerusalem-Romantik. Heute schäme ich mich dafür. Ich hatte vor lauter Fixierung auf das Judentum an die Präsenz der Muslime keinen Gedanken verschwendet: '78/79.

2. Der Islam – ein alt-neuer Faktor der Weltpolitik

Doch während ich noch in Jerusalem lebe, geschieht etwas Unerwartetes. Im Iran wird der Schah gestürzt und sein Regime weggefegt. Am 1. Februar 1979 betritt aus dem Pariser Exil kommend der „Revolutionsführer“ Ajatollah Chomeini erneut iranischen Boden. Mehr als dreißig Jahre ist dieses Ereignis her, aber in der Zwischenzeit haben wir gelernt, dass 1979 eines der wichtigsten Jahre der neueren Zeitgeschichte ist. Seither haben die Mullahs dieses geschichtlich große und kulturell reiche Land im Griff. Mit all den Verfallserscheinungen, die eine Herrschaft im Namen Gottes mit sich zu bringen pflegt. Ein hochsymbolisches Datum! Ohne zu übertreiben wird man sagen können: Spätestens seit 1979 ist die islamische Welt für unseren Geschichtsabschnitt nicht mehr dieselbe. Ungeheure Umwälzungen sind im Gange mit unbestimmtem Ausgang. Nur ein Vierfaches ist sicher:

1. Folgt man heutigen religionssoziologischen und religionsgeographischen Untersuchungen (H. Joas, Glaube als Option, Freiburg/Br. 2011, S.192-200), so gilt: Christentum und Islam sind die weltweit am stärksten verbreiteten und zugleich noch wachsenden Religionen. Für die Welt insgesamt und das Jahr 2050 wird geschätzt, dass rund ein Viertel der Weltbevölkerung (27,5 %) islamischen, 35 Prozent christlichen Glaubens sein wird. Nach diesen Prognosen also werden 2,5 Milliarden Muslimen 3,1, Milliarden Christen gegenüber stehen. Und das in nur 2 Generationen. Was folgt daraus?

2. Der Islam ist als Faktor der Weltpolitik auf der Weltbühne zurück und spielt wieder eine Rolle, die er vom Ende des 17. Jahrhunderts an (die Niederlage der Osmanen vor Wien 1683) Stück für Stück verloren hatte, beschleunigt durch die europäische Aufklärung im 18. und den europäischen Kolonialismus im 19. Jahrhundert. Ob man „den Islam“ mag oder nicht, als Faktor von Weltpolitik und Weltwirtschaft ist er ernstzunehmen. Denn:

3. Unsere ökonomische und politische Abhängigkeit von Ländern mit islamischer Prägung ist nicht kleiner geworden. Sicherheits- und energiepolitisch sind wir in Mitteleuropa mit Teilen der islamischen Welt derart verflochten, dass ihr Schicksal auch unsere Zukunft mitbestimmt. Und wer weniger eurozentrisch und mehr mediterran denkt, weiß ohnehin, dass wir abendländisch geprägte Europäer unseren Lebensraum mit Israel und muslimischen Staaten von der Türkei bis Marokko teilen. Wechselseitige Verflechtungen und Abhängigkeiten sind längst ein Tatsache. Zu dem Gott Abrahams beten Menschen aus all diesen Völkern. Im Europa der heutigen Europäischen Union leben Hunderttausende Juden und über 15 Millionen Muslime. Im Europa des Europarates, wozu auch die Türkei gehört, sind es über 70 Millionen Muslime.

4. Folglich sind Grundkenntnisse über den Islam als Religion und Kultur unverzichtbar, wenn man unsere Welt verstehen will. Das ökonomisch im Zuge einer immer stärkeren Globalisierung der Märkte gewünschte Zusammenleben von Menschen verschiedener Kulturen hat Folgen für uns in Europa. Diese Erfahrungen haben politische, gesellschaftliche und religionstheologische Konsequenzen für das Zusammenleben von Menschen in Europa. Gleichzeitig gibt es für ein Gelingen dieser Koexistenz von Religiösen und Nichtreligiösen nicht viele positive Vorerfahrungen. Im Gegenteil: Das Leben von Millionen Juden in Europa endete grauenhaft. Schuld dann trägt auch ein Jahrhunderte lang von Vertretern der Kirchen gepredigter Antijudaismus, der den Nährboden bereitete für die Plausibilität eines rassischen Antisemitismus, der sich im 19. J. herausbildete und im 20. J. verheerende Folgen für das jüdische Volk gehabt hat. Auch das Schicksal eines europäischen Islam endete bisher in einer doppelten Katastrophe: Im 12 Jahrhundert werden die Muslime auf Sizilien nach Süditalien deportiert und allmählich aufgerieben. Im 16. Jahrhundert ergeht es den Muslimen in Spanien nicht anders. Nur in Bosnien-Herzegowina hat sich vom 14. J. an ein Islam auf europäischem Boden bis heute gehalten, der allerdings beinahe durch den Jugoslawien-Krieg der 90erJahre des letzten Jahrhunderts (Belagerung und Beschießung von Sarajevo) ebenfalls ausgelöscht worden wäre. Europa ist aufgefordert, neue, friedliche, an den Menschenrechten orientierte Weisen des Zusammenlebens von Menschen verschiedener religiöser Identität einzuüben. Was für Muslime, die bei uns leben wollen, gleichermaßen gilt: Respektierung der Rechtsordnung und aktive Beteiligung am demokratischen Prozessen. Parallelgesellschaften sind das Gegenteil von Integration.

Faktisch aber leben zu viele bei uns trotz aller äußeren Pluralität in vielen Gesellschaften Europas, ob religiös oder nicht religiös, noch weitgehend mit dem Rücken zu den Anderen. Mit Tunnelblick nur für das Eigene. Mit heruntergeklapptem Visier, das viele daran hindert, die Gegenwart des Andersglaubenden vor allem positiv als Anders-Glaubenden wahrzunehmen. Wir stehen vor Entwicklungen, die vor 5 Jahren so nicht möglich gewesen wären. In einigen Ländern Europas hat sich - unter dem Eindruck der gewaltsamen Umwälzungen in muslimisch geprägten Ländern, dem gewaltigen demographischen Wandel innerhalb vieler Länder (3, 5 Millionen nomineller Muslime in Deutschland, rd. 1 Million in Österreich) und Zuckungen eines islamistisch gespeisten Terrorismus – der Antiislamismus auch öffentlich gewaltig verstärkt. Die FPÖ plakatiert im Europa-Wahlkampf „Abendland in Christenhand“, in der Schweiz wird per Volksabstimmung verboten, Minarette an Moscheen zu bauen, in Holland fordert der Rechtspopulist Geert Wilders, den Koran so zu verbieten wie Hitlers „Mein Kampf“ und in Deutschland speist eine Bewegung wie PEGIDA ihre demagogischen Energie aus purer Islamophobie. Um nur einige Schlaglichter auf die heutige Lage in Westeuropa zu werfen ... Umso wichtiger sind Gegenstrategien zur Ursachenbekämpfung und zur Radikalisierungsprophylaxe. Das geht nicht ohne religiöses Fundament, das ist mir früh klar geworden.

Ich selber habe auch hier Lernprozesse seit den neunziger Jahren nachvollziehen müssen, angestoßen durch die Zusammenarbeit mit jüdischen und muslimischen Kolleginnen und Kollegen weltweit. Wie aber als Christi den Islam einschätzen? So wie eh und je, seit Mittelalter und Reformation, als Massenansammlung von Ungläubigen, von ungetauften Heiden? Bei einigen der Konferenzen, die wir mit Beginn der 90er Jahre regelmäßig in den USA abhalten, höre ich immer wieder den Namen „Abraham“. Dass für Juden dieser Abraham der „Vater“ ihres Glaubens an den einen Gott ist, wie im Buches Genesis beschrieben, war mir selbstverständlich bewusst. Ebenso auch darauf, dass für uns Christen Abraham „unser aller Vater vor Gott“ ist, wie der Apostel Paulus im Römerbrief schreibt. Aber die Muslime?

3. Lernen von Goethes „West-östlichem Divan“

Völlig überrascht bin ich, als ich von meinen muslimischen Partnern höre, dass auch Muslime in Abraham ein Urbild dessen verehren, was „Islam“ als religiöse Grundhaltung wortwörtlich meint: Ergebenheit in den Willen des einen Gottes in Leben und Sterben. Goethe hat diese Grundhaltung von Muslimen in einem schönen Vierzeile einmal kongenial zur Sprache gebracht, nachzulesen im „Buch der Sprüche“ seines „West-östlicher Divan“ von 1819. Kritisch das Religionsgezänk um die wahre Religion im Blick kann Goethe schreiben:

„Närrisch, dass jeder in seinem Falle

seine besondere Meinung preist.

Wenn Islam Gottergebenheit heißt

Im Islam leben und sterben wir alle.“

Goethes Gedichtzyklus grenzensprengender, produktiver Aneignung und Kommunikation verdankt sich bekanntlich dem Dialog mit einem großen muslimischen Poeten des 14. Jahrhunderts, dem Perser Mohammed Schemsed-din Hafis, und „Hafis“ ist kein Name, sondern ein Titel, der bedeutet: „der den Koran auswendig kennt“. Goethe, ein guter Kenner von Bibel und Koran, kann denn auch unter Aufnahme und leichter Abwandlung von Sure 2, 142 formulieren:

„Gottes ist der Orient!

Gottes ist der Occident!

Nord- und südliches Gelände

Ruht im Frieden seiner Hände.“


Später dieser Dichtung wird er die Verse hinzufügen:


„Wer sich selbst und andre kennt,

wird auch hier erkennen:

Orient und Occident

Sind nicht mehr zu trennen.“

Unabweisbar verwiesen werde ich nun auf das Studium des Koran, von dem ich zunächst so wenig Ahnung hatte wie weiland unser früherer Bundeskanzler, von dessen „Erweckungserlebnis“ ich eingangs im Zusammenhang einer nächtlichen Nilfahrt berichtet habe.

4. Der Islam als „Religion Abrahams“

Als ich mich aber mit Beginn der neunziger Jahre auf den mühseligen Weg des Lernens und Studierens mache, entdecke ich als Christ Dinge, die mir bis dato völlig unbekannt sind, mich aber sofort in Bann schlagen. Zum Beispiel dies: Der Koran verweist nicht wie nebenbei auf die Abraham-Geschichte, sondern bezeichnet den Islam als ganzen als „millat Ibrahim“, als „Religionsgemeinschaft Abrahams“. Eine Verbindung zu Abraham, die über den erstgeborenen Abraham-Sohn, Ismael, hergestellt wird, den Sohn, den Abraham noch vor Isaak mit der ägyptischen Magd Hagar zeugte. So jedenfalls sagt es die Heilige Schrift von Juden und Christen im Buche Genesis, Kapitel 16. Und auch dies steht in der Bibel: Er ist schon mehr 13 Jahre alt, dieser Ismael, und trägt mit der Beschneidung das Bundeszeichen Gottes (Gen 17,25f.), als Isaak, der mit der Ehefrau Sara gezeugte Erb-Sohn, auf die Welt kommt (Gen 21,2)

Daraus aber entwickelt sich ein Bruder-Bruder-Drama, das in der Religionsgeschichte seinesgleichen sucht, wird doch Ismael, der von Gott Gesegnete, aus dem Haus vertrieben, buchstäblich in die Wüste geschickt. Er wäre darin umgekommen, wäre er nicht durch Gottes Eingreifen gerettet worden. Mitten in der Wüste kann die verzweifelt weinende Hagar auf einmal einen Brunnen entdecken, der ihr und ihrem vor Durst schreienden Sohn das lebensspendende Wasser verschafft (Gen 21, 19) Ein Zeichen Gottes. Gott will, dass dieser Abraham-Sohn lebt und eine große Zukunft hat. So jedenfalls überliefert es die Heilige Schrift von Juden und Christen, Kapitel 21, 8-21. „Steh auf“, fordert Gott Hagar hier auf, „nimm den Knaben und halte ihn fest an deiner Hand; denn zu einem großen Volk will ich ihn machen.“ (Gen 21,18) Der Islam beruft sich exakt auf diese gottgewollte Segenslinie: Abraham-Hagar-Ismael, gilt Ismael in seiner Überlieferung doch als Stammvater der arabischen Stämme und hat sich die Szene mit dem Brunnen und dem Überlebenskampf von Hagar und Ismael einer nachkoranischen Überlieferung zufolge im Tal von Mekka abgespielt, wo das lebensspendende Wasser aus dem Quelle „Zamsam“ kommt, Ursprungsort für das muslimische Heiligtum, der Kaaba. Hagar und Ismael sind für Muslime denn auch die Gründer dieses Heiligtums. Bei jeder Pilgerfahrt wird das Lebensdrama von Mutter und Sohn rund um die Kaaba von jedem Pilger spirituell nachvollzogen.

5. Konsequenzen für Juden, Christen, Muslime

Theologisch hatten all diese Einsichten für mich als Christen erhebliche Konsequenzen. Ich schrieb sie nieder in meinem Buch „Streit um Abraham. Was Juden, Christen und Muslime trennt – und was sie eint.“ (1994) Eine Konsequenz lautet: Muslime verehren nicht eine uns Christen fremde „Gottheit“, sondern beten zu dem in der Bibel bezeugten einen Gott Abrahams. Jetzt erst verstand ich, was das 2. Vatikanische Konzil in seiner Kirchenkonstitution „Lumen Gentium“ über den Glauben der Muslime gesagt hat:

„Die Heilsabsicht (Gottes) umfasst auch die, welche den Schöpfer anerkennen, unter ihnen besonders die Muslime, die, indem sie bekennen, dass sie den Glauben Abrahams festhalten, mit uns den einzigen Gott anbeten, den barmherzigen, der die Menschen am Jüngsten Tag richten wird“ (LG 16).

Seit meiner „Abraham“- Studie ist die Arbeit an einem wechselseitig vertieften Verständnis der inneren Beziehungen von Judentum, Christentum und Islam ein großes Lebensthema von mir geworden. Auch die ganz praktische Arbeit an dem, was ich „Abrahamische Ökumene“ von Juden, Christen und Muslimen nenne, stets auf der Basis der Heiligen Schriften, den Ur-Kunden Bibel und Koran. Anders gesagt: Juden, Christen und Muslime sind aufeinander verwiesen, wenn sie ihre heiligen Schriften verstehen wollen, d.h. verstehen wollen, was Gott mit ihnen vorhat, wozu er sie verpflichtet, in welche Lebensordnung er sie einweist. Vernetztes Denken führt zum Verstehen des Eigenen durch den Anderen! Das setzt wechselseitigen Respekt voraus und eine Bereitschaft zu einem geschichtlich sensiblen Umgang mit den eigenen und den fremden Heiligen Schriften. Die Unterschiede im Glauben dürfen dabei nicht verschweigen, sondern klar herausgearbeitet werden - sachlich-unpolemisch. Denn auch Muslime und Christen vertreten Wahrheitsansprüche gegeneinander, die nicht aufgelöst werden können. Beispiel Bibel-Koran.

Wer zum Koran und seinen 114 Suren greift, hat nicht irgendein Geschichtenbuch in der Hand, sondern eine Schrift, die jeden Benutzer mit einem Wahrheitsanspruch konfrontiert. Gewiss: der Koran will ausdrücklich nicht eine völlig neue Offenbarung bringen, die es so in der Religionsgeschichte noch nicht gegeben hat, sondern die uralte Religion wieder herstellen, die Juden und Christen bereits von Gott anvertraut wurde: die Religion Abrahams eben. Ja, der Koran fordert Muslime ausdrücklich auf:

„Sagt: Wir glauben an Gott, an das, was zu uns, zu Abraham, Ismael, Isaak, Jakob und den Stämmen herabgesandt, was Mose und Jesus gegeben wurde, was den Propheten gegeben wurde von ihrem Herrn. Wir machen bei keinem von ihnen einen Unterschied. Wir sind ihm ergeben.“ (Sure 2,136)

Daraus folgt zweierlei:

1. Der Koran erklärt immer wieder, dass Juden und Christen von Gott bleibend gültige Offenbarungsschriften bekommen haben: die Juden die Tora und die Christen das Evangelium, die Juden in hebräischer Sprache, die Christen in griechischer. Das macht den Dialog leichter und erklärt, warum Juden und Christen als „Leute des Buches“ im Koran eine relativ hohe Wertschätzung genießen. Sie wird sich später unter islamischer Herrschaft auf ihren gesellschaftlichen und rechtlichen Status auswirken. Als „Schutzbefohlene“ genießen Juden und Christen anders als Ungläubige in einer islamischen Mehrheitsgesellschaft Duldung für ihre Religionsausübung, was freilich mit einem modernen Verständnis von Religionsfreiheit nicht zu verwechseln ist.

2. Zugleich aber muss der Koran deutlich machen, warum eine dritte Offenbarung nötig war und zwar jetzt an das Volk der Araber, ein „arabischer Koran“. Er war nötig, weil Juden und Christen, so die Kritik des Koran, ihre Offenbarungsschriften zum Teil verfälscht und verzerrt, zum Teil falsch oder mangelhaft ausgelegt haben und darüber in Streit gerieten. Da dieser Streit die ursprüngliche Religion verdunkelt hat, muss sie durch eine abschließend- endgültige Offenbarung in ihrer Reinheit und Klarheit wieder hergestellt werden. Von daher erklärt sich die Rede von Mohammed als „Siegel der Propheten“ (Sure 33,40). Für Muslime gelöst ist damit das Problem, warum der Koran erst an dritter Stelle der Offenbarungsgeschichte in die Welt kommt. Er kommt zwar „spät“, aber nur, um wiederherzustellen, was an Wahrheit schon immer galt, von Urzeiten an. Der Islam präsentiert sich von daher als letzte und erste Religion. Das macht den Dialog schwierig, denn der Koran lässt an jüdischen und christlichen Überlieferungen nur das gelten, was durch den Koran ausdrücklich bestätigt wird. Alles andere ist für ihn irrelevant oder, wenn vorgebracht, irrtümlich. Für uns Christen hat das erhebliche Konsequenzen, weist doch der Koran beispielsweise die Menschwerdung und Gottessohnschaft Jesu sowie seinen Erlösertod am Kreuz ausdrücklich zurück (Sure 4, 157) Auch sind bei aller Wertschätzung von Jesus und Maria als „Zeichen Gottes“ in der Geschichte der Menschheit große Teile der neutestamentlichen Botschaft im Koran abwesend und so für orthodoxe Muslime belanglos.

Dass Juden und Christen aber eine solch selektive Bestätigung ihrer Heiligen Schriften nicht akzeptieren können, liegt auf der Hand, so wie Juden seit jeher sich dagegen wehrten, nur das in der Hebräischen Bibel als relevant anzusehen, was durch das Neue Testament ausdrücklich bestätigt wurde. Solch wechselseitige Abqualifizierungen und Übertrumpfungen haben viel Gift in die Beziehung zwischen den Religionen gebracht und den Dialog erst gar nicht entstehen lassen. Wer Unterwerfung unter den eigenen Wahrheitsanspruch erwartet oder verlangt, will ja auch keinen Dialog, will bestenfalls Mission an Un- oder Andersgläubigen. Wer Dialog will, zeige es durch vertiefte Kenntnisse von den Überlieferungen der Anderen. Die Feste gehören dazu: Wann und warum feiern Muslime das Opferfest, das Geburtsfest des Propheten, das Aschura-Fest oder Lailat-al Qadr, die Nacht der Herabkunft des Koran? Was feiern Juden, wenn sie Hannuka feiern, Pessach, Sukkot?

Und die Kenntnis der heiligen Schriften gehören dazu. Angesichts der erschreckenden Unkenntnis auf allen Seiten (was weiß der Durchschnittszeitgenosse von der Bibel oder vom Koran wirklich?) beschämt mich ein Wort unseres größten Dichters, der schon vor 200 Jahren seine Leseerfahrung mit dem Koran mit diesen Worten Ausdruck verlieh: „Und so wiederholt sich der Koran Sure für Sure. Glauben und Unglauben theilen sich Oberes und Unteres, Himmel und Hölle sind den Bekennern und Läugnern zugedacht. Nähere Bestimmungen des Gebotenen und Verbotenen, fabelhafte Geschichten jüdischer und christlicher Religion, Amplifikationen aller Art, gränzenlose Tautologien und Wiederholungen bilden den Körper dieses heiligen Buches, das uns, so oft wir auch daran gehen, immer von neunen anwidert, dann aber anzieht, in Erstaunen setzt und am Ende Verehrung abnöthigt. (....) Der Styl des Korans ist seinem Inhalt und Zweck gemäß: streng, groß, furchtbar, stellenweis wahrhaft erhaben; so treibt ein Keil den andern und darf sich über die große Wirksamkeit des Buches niemand verwundern. Weßhalb es denn auch von den ächten Verehrern für unerschaffen und mit Gott gleich ewig erklärt wurde.“ („Mahomet“, in: „Besserem Verstehen“ des „“West-östlichen Diva“ 1819)

Doch je länger ich die Überlieferungen studiere, die der Koran mit der Hebräischen Bibel und dem Neuen Testament teilt, desto mehr wird mir die innere Verwandtschaft der drei Religionen bewusst, ohne die Unterschiede zu ignorieren. Machen wir uns klar: Wir Christen teilen mit Muslimen (und Juden) Überlieferungen, die wir mit Angehörigen anderer Religionen nicht teilen. Das ist keine Wertung, sondern eine Feststellung, aus der folgt: Juden, Christen und Muslime bilden eine besondere Glaubensgemeinschaft von Monotheisten prophetischen Charakters. Sie teilen Überlieferungen miteinander, die sie mit Hindus und Buddhisten, mit Konfuzianern und Taoisten nicht teilen. Einem Muslim muss ich als Christ eben nicht lange erklären, wer Noach, Abraham oder Mose war. Denn der Koran erzählt von Nuh, Ibrahim und Musa genauso Einem Muslim muss ich auch nicht erklären, wer Joseph war, denn eine der schönsten Suren des Koran, Sure 12, erzählt seine Geschichte rund um Vater Jakob und seine Brüder: die Geschichte des Yusuf. Einem Muslim muss ich nicht erklären, wer Hiob, Salomo und David waren, denn Ayub, Suleiman und Daud kommen im Koran häufig vor. Buddhisten und Hindus, Konfuzianern und Taoisten müsste ich das erklären. Sie teilen mit uns diese Überlieferungen nicht. Umso stärker könnten Brücken über die Religionsgrenzen hinweg geschlagen werden! In der Vergangenheit aber hat das oft genug zu polemischer Abgrenzung und gegenseitiger Verwerfung geführt. Es ist hohe Zeit, sie für ein Bewusstsein gemeinsamer Verantwortung zu nutzen, vor allem zu vernetzen gemeinsamen Lernprogrammen bei der Ausbildung von Rabbinern, Pfarrern und Mullahs.

Juden, Christen und Muslime verstehen sich als Kinder Abrahams“. Wenn sie dies ernst nähmen, sähe unsere Welt dann nicht anders aus? Wenn ich so frage, übersehe ich nicht die praktischen Probleme des Alltags im Zusammenleben von Juden, Christen und Muslime auch in unserem Land. Aber was wären wir ohne eine Realvision dessen, wie es sein könnte, nähmen Juden, Christen und Muslime das Vermächtnis Abrahams ernst, auf das sie sich berufen. Und meine Aufgabe als Wissenschaftler ist es, diese Realvision wachzuhalten – im Wissen um die Zwänge des Lebens und die Mühsal der Vertrauensarbeit.

Und Zeugen der Hoffnung zu benennen. Ich rufe meinen jüdischen Lehrer Schalom Ben-Chorin auf. 1993, sechs Jahre vor seinem Tod, hat er mit dem deutschen Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL ein Gespräch geführt und es enden lassen mit Sätzen, die man als sein Vermächtnis bezeichnen kann:

„Wenn man mir vor 50 Jahren gesagt hätte, wie positiv sich die Beziehungen zwischen Judentum und Christentum gerade in Deutschland entwickeln würden, hätte ich das nicht für möglich gehalten. Ich meine, die arabisch-moslemische Seite müsste sich allmählich dessen bewusst werden, dass wir beide, Juden und Araber – Kinder Abrahams sind. Abraham hatte zwei Söhne: Ismael, den Stammvater der Araber, und Isaak, den Stammvater der Juden. Sie waren einander nicht hold. Aber an der Leiche ihres Vaters, in der Höhle Machpela in Hebron, haben sie gemeinsam getrauert und sich versöhnt. Es ist meine Hoffnung und mein Gebet, dass sich diese Versöhnung wiederholt.“ (DER SPIEGEL 35/1993, S.150)

IV. PRAKTISCHE KONSEQUENZEN

1. Die Unterschiede im Glauben klar benennen

Unterschiede im Glauben dürfen nicht verschwiegen, sondern müssen klar herausgearbeitet werden - sachlich-unpolemisch. Denn auch Muslime und Christen vertreten Wahrheitsansprüche gegeneinander, die nicht aufgelöst werden können. Interreligiöser Dialog zielt nicht auf Harmonisierung oder Bagatellisierung der Unterschied, sondern auf wechselseitig besseres Verstehen der Andersheit des je Anderen. Dass dabei auf allen Seiten Wissensdefizite herrschen, muss ich nicht lange erklären.

Denn faktisch haben wir es vielfach noch mit einer doppelten Verweigerung zu tun: In säkularen Milieus leben allzu viele bei uns noch mit einer „gespaltenen Globalisierung“ im Kopf. Gerne nimmt man die ökonomischen Vorteile für die eigene global verflochtene Export-Wirtschaft mit, schottet sich kulturell und religiös aber ab. Man will mit „Religion“ nichts zu tun haben und sich geistig auch nicht in Unkosten stürzen. Als ob man auf Dauer beides haben könnte: freien Welthandel und zugleich kulturellen und religiösen Protektionismus. Und in traditionellen religiösen Milieus? Da denkt man vielfach nicht daran, über Bildungsprogramme und Dialogbemühungen das jeweilige Wissen voneinander zu verbreiten. Die bittere Diagnose des früheren deutschen Bundeskanzlers Helmut Schmidt kommt nicht von ungefähr und steht für die Erfahrung ungezählter Menschen:

„Viele Jahrhunderte nach Abraham wurde die Tora niedergeschrieben, weitere Jahrhunderte später das Neue Testament und noch ein halbes Jahrtausend später der Koran. In vielen Teilen bezieht sich das NT auf die Thora, und der Koran bezieht sich in vielen Teilen auf die Thora und das NT. Ich muss zugeben, dass ich in der Schule oder in der Kirche nie etwas über diese unbestreitbaren Tatsachen erfahren habe. Und ich fürchte, die meisten Christen auf der Welt und ebenso die meisten Juden und Muslime erfahren nie etwas über die gemeinsamen historischen Ursprünge unserer Religionen und über die Vielzahl der Gemeinsamkeiten und der gegenseitigen Bezüge in unserem heiligen Büchern.


Auf allen drei Seiten haben Priester und Kirchen, Mullahs und Rabbis uns Laien ein angemessenes Wissen über die anderen beiden Religionen vorenthalten. Stattdessen haben sie – auch sie natürlich fehlbare menschliche Wesen – uns nahezu häufig gelehrt, feindselig über die anderen beiden Religionen zu denken, ob wir nun als Juden, als Muslime oder als Christen aufgewachsen sind. Dies ist eine der großen Tragödien der Menschheit. Man findet sie, nebenbei gesagt, auch im Verhältnis von Christentum und Hinduismus oder Buddhismus, zwischen Islam und Hinduismus und so weiter. Da die Zahl der Menschen auf der Erde explodiert und der pro Kopf verfügbare Platz schrumpft, wird diese Haltung immer gefährlicher.“

(Rede von 1999, in: Religion in der Verantwortung. Gefährdungen des Friedens im Zeitalter der Globalisierung, Berlin 2012, S. 150)

2. Gemeinsamkeit nicht kleinreden, sondern sachlich herausarbeiten

Mit Helmut Schmidt ist es die Aufgabe eines echten Dialogs, bei allen Unterschieden auch die Gemeinsamkeiten nicht zu vernachlässigen. Ich verweise dabei auf Sätze von Papst Benedikt XVI. Er hat bei seinem Besuch in Ankara am 28. November 2008 gegenüber dem Präsidenten des Direktoriums für religiöse Angelegenheiten der Türkei nicht zufällig auf Abraham verwiesen, um die „menschliche und geistige Einheit“ von Christen und Muslimen zu betonen. Wörtlich sagte der Papst:

„Der biblischen Tradition folgend, lehrt das Konzil, dass das gesamte menschliche Geschlecht einen gemeinsamen Ursprung und eine gemeinsame Bestimmung teilt: Gott unseren Schöpfer und das Ziel unserer irdischen Pilgerschaft. Christen und Muslime gehören zur Familie derer, die an den einen Gott glauben und die, entsprechend ihren eigenen Traditionen, ihre Abstammung auf Abraham zurückführen. Diese menschliche und geistige Einheit in unseren Ursprüngen und unserer Bestimmung fordert uns heraus, einen gemeinsamen Weg zu suchen.“

Von Gott her Einheit in den Ursprüngen und Bestimmung sehen und von daher einen gemeinsamen Weg in die Zukunft finden: darum geht es in der Tat, wenn Juden, Christen und Muslimen ihre innere Verbundenheit mit einander erkennen lernen.

3. Selbstkritische Arbeit an den eigenen Überlieferungen

Man kann Verführer und Ideologen nicht daran hindern, sich ihr Christentum, Judentum oder ihren Islam zurechtzuzimmern. Wohl aber kann man zu verhindern trachten, dass ihr „Fabrikat“ von Religion Allgemeingültigkeit erlangt. Man kann ihren Totalitätsanspruch entzaubern, ihre Monopolisierung brechen. Wodurch? Indem Autoritäten in diesen Religionen aufstehen und sich öffentlich äußern: diese Form von Religion fördert nicht das Werk Gottes, sondern das des Teufels. Diese Form von Religion vertritt nicht das, was wir aus unserer großen Tradition und unser verantwortlich ausgelegten Heiligen Schrift vernehmen. Immer hat es in der Geschichte der Religionen ein Ringen um die richtige Auslegung gegeben, einen Streit der Meinungen und Interessen. Ohne sie wäre weder die Botschaft Franz von Assisis denkbar noch die Reformation, ohne sie in der Welt des Islam nicht Phänomene wie Mystik oder Philosophie. Immer wieder sind Menschen in den Religionen aufgestanden und haben verurteilt, was sie an Missbrauch ihrer Religion wahrgenommen haben: prophetischer Protest gegen Hass, Gewalt, Mord und Terror im Namen Gottes. Wer das propagiert, tut das Werk des Teufels, des Widersacher Gottes. Nicht möglich ist eine rationale Widerlegung bestimmter Bilder einer Religion, wohl aber prophetischer Protest auf der Grundlage der Kernbotschaft, wie sie durch verantwortliche Auslegung erhoben wird. Nicht jede radikale Splittergruppe kann sich ihren Islam auf eigene Faust konstruieren und im Namen „des Islam“ sprechen wollen.

Ich erinnere schließlich an eine für Deutschland noch gewöhnungsbedürftige Szene. Nach dem Pariser Attentat im Januar 2015 demonstrierten vor dem Brandenburger Tor in Berlin Vertreter des Judentums, des Christentums und des Islam gemeinsam gegen den Terror im Namen Gottes. Zugleich hatten sie nicht zufällig in der BILD-Zeitung ein Manifest unter dem Titel „Im Namen Gottes darf nicht getötet werden „veröffentlichen lassen. Es hat den Wortlaut:

„Im Namen von Millionen Christen, Moslems und Juden in Deutschland verurteilen wir den Terrorangriff von Paris und trauern um die Opfer.


Die Morde sind ein Angriff auf die Freiheit des Denkens, des Glaubens und unserer gemeinsamen Werte von Toleranz und Nächstenliebe, den wir zutiefst verabscheuen.


Im Namen Gottes darf nicht getötet werden!


Bibel, Thora und Koran sind Bücher der Liebe, nicht des Hasses. Jeder Christ, Jude und Moslem sollte am heutigen Freitag in der Moschee, am Sabbat in der Synagoge und am Sonntag in seiner Kirche für die Opfer von Paris beten.


Für Verständigung, Frieden und Freiheit.


Wir verurteilen jede Form von Gewalt im Namen der Religionen. Wir kämpfen für Toleranz gegenüber Andersgläubigen und auch gegenüber jenen, die unseren Glauben an Gott nicht teilen.


Wir werden auch nicht dulden, wenn angesichts der schrecklichen Taten in Paris Hass gegen Anhänger einer Religion geschürt wird, die für den Terror missbraucht wird und wurde.


Hass ist keine Antwort auf Hass. Und Intoleranz keine Antwort auf Intoleranz.

Nur gemeinsam können wir unsere Werte und unseren Glauben gegen radikalisierte Minderheiten schützen.


Christen, Juden und Moslems vereint der Glaube an die Nächstenliebe, an unsere Verantwortung vor Gott und an die Verständigung zwischen allen Menschen.


Wir werden nicht zulassen, dass Fanatismus, Terror und Gewalt diese gemeinsamen Werte zerstören.“

All diesen Initiativen und Stellungnahmen ist gemeinsam, dass hier Menschen in ihren jeweiligen Glaubensgemeinschaften sich dagegen wehren, dass ihre Auffassung vom Zentrum ihrer Religion zu Verbrechen benutzt werden. Doch sie wären noch glaubwürdiger, wenn sie selbstkritischer mit ihren eigenen Heiligen Schriften umgingen. Sätze wie „Bibel, Thora und Koran“ sind Bücher der Liebe, nicht des Hasses“, sind in dieser Pauschalität falsch. Es gibt in Bibel und Koran Stellen, Passagen aus der Urgeschichte der Religionen, die Gewalt, Krieg und Hass gerechtfertigt haben und als Grundlage für heutige Praktiken benutzt werden. Hier müssen die jeweiligen Gläubigen in wechselseitigen Bildungsanstrengungen geschult werden, wie man ohne alle Schönfärberei und Ausblendung von Unbequemem die Heiligen Schriften so auslegt, dass sie in ihrer zentralen Botschaft in der Tat zu Büchern der Liebe und nicht des Hasses werden. Das ist die entscheidende Aufgabe: Konkret zeigen, wie die existierenden Gewaltaussagen in den Heiligen Schriften von der Kernbotschaft her verstanden werden müssen und nicht umgekehrt, die Gewaltaussagen zum Kern machen. Das setzt einen kundigen Umgang mit den Heiligen Schriften voraus. Eine 1:1 Übertragung bestimmter Stellen durch eine selbsternannte Gruppe ins Heute ist nicht nur verantwortungslos, sie kann tödliche Folgen haben. Selbstkritik ist ein entscheidender Weg zum Frieden. Dann kann man auch glaubwürdig wechselseitig öffentliche Zeichen des Friedens setzen.

4. Gemeinsam Zeichen des Friedens setzen

Nähmen sich Juden, Christen und Muslime dieser Aufgabe in Zukunft entschlossen an, sähe unsere Welt anders aus. Abrahamisches Gottvertrauen und abrahamische Gastfreundschaft würden triumphieren und nicht Spaltung durch religiösen Fanatismus oder der Zynismus einer religiös verbrämten Gewalt, die gnadenlos Unschuldige mit in den Tod reißt.

Jemand, der den religionsübergreifenden Dialog nicht nur fordert, sondern fördert, ist Papst Franziskus, der seit dem 13. März 2013 auf dem Stuhle Petri sitzt. Ein Mann, der sich so leidenschaftlich wie sein Namenspatron für den Frieden in der Welt einsetzt, allen Rückschlägen, Niederlagen und Katastrophen zum Trotz. Wer an Pfingstsonntag 2014 die Bilder aus den vatikanischen Gärten gesehen hat, weiß, wovon ich spreche. Auf Einladung von Papst Franziskus kommen die damaligen Staatspräsidenten Israels und Palästinas, Schimon Perez und Mahmud Abbas, zusammen. Sie haben ihre Religionsführer mitgebracht und drückten im Gebet vor Gott am selben Ort und „auf Augenhöhe“ ihre Sehnsucht nach Frieden aus. Sicher, man kann auch hier wieder das ganze „Event“ als Alibiveranstaltung abtun und in den Chor der Zyniker einstimmen: fromme Worte, keine Taten. Das ist billig. Die Zeichen selber, durch die Medien in alle Welt ausgestrahlt, haben einen Wert in sich. Daran glaube ich. Man darf das Feld nicht den dämonischen Verführern und nicht den Predigern des Hasses und der Gewalt überlassen.

Welch eine Szene denn auch: Rabbiner auf vatikanischem Boden, die in hebräischer Sprache vier Psalmen in den römischen Himmel schicken? Wann hätte es das zuvor gegeben? Mullahs mit ihren offiziellen Talaren und Hüten: Wann hätten Muslime je im Vatikan offiziell und öffentlich gebetet? Wann sind muslimische Laute je durch die vatikanischen Gärten geklungen? Gewiss, die dort Versammelten haben kein gemeinsames Gebet gesprochen aus Angst vor Religionsvermischung, aber sie haben gemeinsam für dasselbe Anliegen gebetet. Auf diese Weise haben sie der Weltöffentlichkeit zumindest dies demonstriert: Friedenssehnsucht hat nicht eine Religion allein gepachtet, sie ist gleichermaßen Sache aller.

Auch Papst Franziskus weiß, dass ein Friedensgebet den Nahost-Konflikt nicht über Nacht lösen wird. Dazu sind die Gräben zu tief, Hass und Misstrauen auf beiden Seiten zu bitter. Insofern war dieses Treffen ein tollkühner Akt des Schwebens über dem Abgrund der Geschichte, allein aus dem Vertrauen auf die Kraft des Gebetes. Ausdruck eines Gottvertrauens, das uns exemplarisch wie keine andere Figur unserer Heiligen Schriften, Abraham, vorgelebt hat. Im Prolog habe ich davon schon gesprochen und skizziert, wie zentral die Figur Abrahams für Juden, Christen und Muslime ist.

Der Papst hat damit das getan, was seines Amtes ist: Er hat mit Leidenschaft und Unparteilichkeit - allem Missbrauch der Religionen und allem Versagen der Politik zum Trotz - die spirituellen Potentiale der Religionen noch einmal in die Waagschale geworfen Den Zynikern auf allen Seiten, die den Hass in die Herzen der Menschen senken, um ihn dann für ihre Zwecke auszubeuten, hat der Papst den Glauben an die Friedensbereitschaft vieler Menschen in Israel und Palästina entgegen gesetzt. Sie kommt negativ aus einer buchstäblich himmelschreienden Versagens- und Schuldgeschichte der letzten Jahrzehnte auf allen Seiten, der Müdigkeit der Menschen, welche die ewig scheinenden Konflikt leid sind, dem Eingedenken der Tausenden von Toten, der dieser Konflikt zwischen zwei Völkern um ein Land bereits gekostet hat. Und sie kommt positiv aus einem Bewusstsein der Brüderlichkeit, grundgelegt in der Herkunft von Abraham: „Ihre Anwesenheit, meine Herren Präsidenten, ist ein großes Zeichen der Brüderlichkeit, das Sie als Söhne Abrahams vollziehen und ein Ausdruck konkreten Vertrauens auf Gott, den Herrn der Geschichte, der heute auf uns schaut als auf Menschen, die einander Brüder sind, und uns auf seine Wege führen möchte.“ (Internet Dokumentation: Heiliger Vater – Der Heilige Stuhl. Franziskus: Gebete 2014). Jeweils drei Gebete für jede Religion - ein Dankgebet, ein Bitte um Vergebung und dann die Bitte um Frieden. „Schlichter hätte das alles kaum geschehen können - ergreifender auch kaum“, kommentiert die Süddeutsche Zeitung am 10.6.2014. „Es sind Bilder entstanden, die das Scheitern der Politik, Verständigung zu finden, noch schwerer hinnehmbar machen.“

„Alles wirkliche Leben ist Begegnung“, hatte Martin Buber geschrieben. Was das für mich bedeutete, habe ich Ihnen in einige Szenen geschildert. Begegnungen können Zäsuren sein, die neue Sichtweisen auf bisher Fremdes eröffnen. Es kommt buchstäblich zu einer Wende des Gesichts. Ich nenne das den dialogischen Turn: von der Vergegnung zur Begegnung, vom monologischen Bekennen zur Zwiesprache, vom Konfrontations- zum Beziehungsdenken.

Wir leben in einer Zeit, die mehr denn je Dialogfähigkeit verlangt. Ob man für ein exportintensives Unternehmen tätig ist, für globalen Klimaschutz arbeitet, für die Kontrolle der internationalen Rüstungsindustrie oder den Dialog der Religionen. Dialogfähigkeit ist heute eine Kernkompetenz in einer durch das world-wide-web vernetzen Weltgesellschaft. Sie ist der Modus der Selbstbehauptung schlechthin in einer komplexen Welt, von der wir in Deutschland schon wirtschaftlich abhängig sind. Verlangt ist nicht nur das Beherrschen verschiedener Sprachen, sondern auch das verschiedener kultureller Codes. Aber Dialogfähigkeit hat man nicht wie selbstverständlich, sie erwirbt man wie andere Kompetenzen auch. Interkulturelles, interreligiöses Lernen ist das Gebot der Stunde. Dazu zu ermutigen, ist der Sinn dieser meiner Erzählung. Ein Narrativ, das ansteckend sein sollte.

Bei einem der größten jüdischen Denker des 20. Jahrhunderts, Abraham Joshua Heschel, habe ich ein Wort gefunden, das mir zum Leitwort meiner Arbeit geworden ist: „Keine Religion ist eine Insel. Wir alle sind miteinander verbunden. Verrat am Geist auf Seiten eines von uns berührt den Glauben aller. Ansichten einer Gemeinde haben Folgen für andere Gemeinden. Religiöser Isolationismus ist heute eine Illusion.“ Ist dem noch etwas hinzuzufügen? Ich glaube nicht. Nur das eine noch: Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

[1] Die hier gebotene Vortrag setzt folgende Publikationen von mir voraus: Karl-Josef Kuschel, Streit um Abraham. Was Juden, Christen und Muslime trennt – und was sie eint, Stuttgart-Ostfildern 2001; ders., Juden-Christen-Muslime: Herkunft und Zukunft, Stuttgart-Ostfildern 2007; ders., Weihnachten und der Koran, Stuttgart-Ostfildern 2008; ders., Leben ist Brückenschlagen. Vordenker des interreligiösen Dialogs, Stuttgart-Ostfildern 2011; ders., Festmahl am Himmelstisch. Wie Mahlfeiern Juden, Christen und Muslime verbindet, Stuttgart-Ostfildern 2013; ders., Theodor Heuss, die Schoah, das Judentum, Israel. Ein Versuch, Tübingen 2013.

Editorische Anmerkungen

* Prof. em. Dr. Karl-Josef Kuschel lehrte von 1995-2013 Theologie der Kultur und des interreligiösen Dialogs an der Fakultät für Kath. Theologie der Universität Tübingen. Zugleich war er Ko-Direktor des Instituts für ökumenische und interreligiöse Forschung der Universität Tübingen.
Hier wiedergegebener Vortrag wurde zuerst publiziert im "Bulletin der Freunde und Förderer des Martin-Buber-Hauses", 1/2017.