Umkehr und Vergebung

Mit Unterstützung des American Jewish Committee hatte ich Im Frühjahr 1996 die Ehre, an der Päpstlichen Gregorianischen Universität in Rom 'Jüdische Studien' zu unterrichten. Die gesamte Rom-Erfahrung war erstaunlich (siehe meinen "Brief aus Rom" in Cross Currents, Herbst 1996, S. 388-393). Dieser Artikel ist Teil eines fortlaufenden Gesprächs mit Kollegen und Freunden in Rom wie auch anderswo in der katholischen Welt.

Im Geist des laufenden katholisch-jüdischen Dialogs lege ich hier die folgenden Überlegungen zur jüdischen Lehre über Buße/Umkehr und Vergebung vor, die sich auf eine Jahrtausende bestehende Tradition und auf die Weisheit unzähliger Gelehrter beruft. Als weiteren Teil des Dialogs schließe ich die hebräischen Begriffe hier ein, für deren korrekte Aussprache ich sie mit Akzenten versehen habe, zusammen mit einer kurzen Bibliographie. (Hinweis: das hebräische "ch" wird wie im deutschen Wort "Loch" ausgesprochen).

Was das Judentum nicht lehrt

Im interreligiösen Dialog gehört es zur geistigen Aufgabe jeder Seite, zu verstehen, was die jeweils andere lehrt und was sie nicht lehrt, denn indem wir uns dem anderen zuwenden, neigen wir gleichzeitig dazu, was wir bereits wissen dem, was wir neu hören, anzugleichen. Es scheint daher angebracht, Begrifflichkeiten, die das Judentum nicht kennt, in der Hoffnung zu gebrauchen, dass Katholiken dann besser in der Lage sind, ihnen bereits vertraute Ideen  beiseite zu lassen, um Ideen annehmen zu können, die sie bisher nicht kannten. (Ich hoffe, dass ich in diesem Bemühen katholisches Denken nicht verkehrt darstelle.)

Das Judentum kennt keine Beichte persönlicher Sünden, die man als Teil des Prozesses von Reue/Umkehr und Vergebung gegenüber einer religiösen Figur ablegt. Es gibt keine hierfür bestimmte Autorität, der man seine Sünden bekennt, sondern Sünden werden persönlich vor Gott im Gebet eingestanden. Das Judentum kennt auch keine Bußleistung als notwendigen Teil des Prozesses von Sünde und Reue. Obwohl die Praxis von Bußleistungen im Mittelalter weitgehend unter christlichem Einfluss auch im jüdischen Leben zeitweise existierte, wurde sie in der klassischen rabbinischen Theologie und Praxis niemals zur verbindlichen Form erklärt. Darüber hinaus gibt es keine rabbinische Autorität, die Bußleistungen therapeutischer oder ritueller Art vorschreiben könnte. Spirituelle Selbstdisziplin in Anbetracht der Sünde kann nur individuell von Einzelpersonen geübt werden, die dazu eine Bereitschaft mitbringen -- manchmal nach Rücksprache mit einem Rabbiner.

Das Judentum kennt auch keine Absolution als Teil des Prozesses von Sünde und Reue/Umkehr. Es gibt keine vorbestimmte Autorität, die nach Reue und Bußleistung Vergebung der Sünden aussprechen könnte. Sünden zwischen Personen bedürfen der Bitte um Vergebung und der Gewährung von Vergebung aufseiten der Beteiligten, während Sünden zwischen Individuen und Gott der Bitte um die Vergebung Gottes bedürfen, um Vergebung allein von Gott zu erhalten. Schließlich kennt auch das Judentum Versöhnung nicht (als das von ganzem Herzen vollzogene Aufgeben aller negativen Gefühle) als notwendigen Teil des Prozesses von Sünde und Reue/Umkehr. Obwohl es die Versöhnung kennt und diese auch wünschenswert ist, kennt das rabbinische Judentum andere Formen der Wiederannäherung, die völlig ausreichend sind und vielleicht realistischer sein können.

Teshuva (Umkehr)

Teshuvá ist im rabbinischen Verständnis von Sünde, Reue und Vergebung der Schlüsselbegriff. Die Tradition ist nicht einer Meinung in Bezug auf die Schritte, die man gehen muss, um seine Sünden zu bereuen. Doch fast alle sind sich darin einig, dass Reue/Umkehr fünf Elemente umfasst: Das Anerkennen der eigenen Sünden als Sünden (hakarát ha-chét'), Einsicht des Gewissens, Gewissensnot (charatá), Unterlassung der Sünde (azivát ha-chet'), Wiedergutmachung, soweit eine solche möglich ist (peira'ón) und Bekenntnis (vidúi).

"Die Anerkennung der eigenen Sünden als Sünden" ist ein Akt der eigenen Intelligenz und des moralischen Gewissens. Es geht dabei um das Wissen, dass bestimmte Handlungen sündig sind -- anzuerkennen, dass solche Handlungen in uns selbst mehr sind als nur ein Lapsus, und die Beweggründe für die Sünde so umfassend wie möglich zu analysieren. Diebstahl beispielsweise ist nicht allein als ein Verbrechen anzusehen, sondern auch als eine Sünde gegen einen anderen Menschen und eine Verletzung des Anspruchs Gottes an uns innerhalb des Bundes (zwischen Gott und Israel). Es geht auch darum zu erkennen, dass solche Taten Teil tiefer liegender Beziehungsmuster und durch einige der tiefsten und dunkelsten Elemente unseres Wesens motiviert sind.

"Gewissensnot" ist ein Gefühl. Es besteht aus dem Gefühl des Bedauerns, des Scheiterns darüber, dem eigenen moralischen Standard nicht entsprochen zu haben. Es kann auch das Gefühl entstehen, verloren zu sein oder sich in einer Falle zu befinden. Es kann Angst sein und vielleicht Verzweiflung über unsere eigene Sündhaftigkeit, sowie ein Gefühl der Entfremdung von Gott und von unseren eigenen tiefsten geistlichen Wurzeln, sich von unserem eigenen inneren Selbst entfremdet zu haben.

"Von der Sünde Abstand zu nehmen" ist weder eine moralisch-intellektuelle Analyse noch ein Gefühl; es ist eine Tat. Es bedeutet aufzuhören, die Sünde zu tun, von den Mustern ablassen, die sündigem Tun zugrunde liegen und denen wir verfallen sind. Abstand nehmen von der Sünde beinhaltet das tatsächliche Beenden sündigen Tuns, bewusst Gedanken und Phantasien über die sündige Aktivität auszuschalten und die feste Zusage zu geben, die sündige Tat nicht erneut zu begehen.

"Wiedergutmachung" heißt so gut als möglich den angerichteten Schaden wieder gut zu machen. Wenn man gestohlen hat, muss man das Gestohlene zurückgeben oder eine Entschädigung zahlen. Wenn der Ruf eines Mitmenschen geschädigt wurde, muss man versuchen, die Verletzung des Geschädigten zu heilen.

"Bekenntnis" hat zwei Formen: die rituelle und die persönliche. Das rituelle Bekenntnis erfordert die Rezitation der Liturgien des Bekenntnisses an den vorgesehenen Stellen im Gebetsleben der Gemeinschaft. Persönliches Bekenntnis erfordert das individuelle Eingeständnis der Sünde vor Gott oder das persönliche Bekenntnis an den entsprechenden Stellen im Rahmen der Liturgie. Je spezifischer das persönliche Bekenntnis, desto besser.

Eine Person, die diese Schritte der teshuva geht, ist ein "Reumütiger" (chozér be-teshuvá).

Die Tradition ist allerdings darin sehr deutlich, dass Anerkennung der Sünde, Reue, Bekenntnis und Wiedergutmachung alleine noch keine teshuva sind, solange sie ohne Unterlassung der Sünde bleiben. Ohne Unterlassung einer sündigen Tätigkeit ist man nur bei den "Vorbereitungen zur teshuva" (hirhuréi teshuvá) angekommen. Allein die tatsächliche Unterlassung der Sünde zählt. Wenn also jemand eine sündhafte Handlung aus Furcht unterlässt, handelt es sich gleichwohl um teshuva und die Person wird als reumüitg angesehen. Wenn zum Beispiel eine Person nicht mehr zwanghaft spielt, weil ihr jemand droht, sie zu verprügeln, wenn sie das nächste Mal im Kasino auftaucht, ist eine solche Person als reumütig anzusehen. Oder, wenn eine Person nicht mehr stiehlt, weil ihr gesagt wurde, dass sie beim nächsten Mal ins Gefängnis geschickt werde, wird eine solche Person als reumütig angesehen. Auch wenn eine Person davon überzeugt ist, dass er oder sie im Leben nach dem Tod bestraft werden wird und darum nicht mehr sündhaft handelt, dann ist sie auch reumütig, wenngleich ihre Motivation zur Unterlassung der Sünde stärker ist als die vorangegangenen, weil es eine Funktion einer höheren religiösen Weltanschauung ist, die das Fehlverhalten als eigentliche Sünde ansieht.

Teshuva, die in Angst vor Menschen oder Gott wurzelt, wird "Umkehr, die in Angst verwurzelt ist" genannt (teshuvá mi-yir'á) und, obgleich nicht die höchste Form der teshuva, ist sie doch ihr eigentlicher Kern. Die Verbesserung des Charakters durch Analyse der Sünde, Gewissensnot, Wiedergutmachung und Bekenntnis, sofern sie mit dem Aufhören der sündigen Handlung verbunden ist, wird "Umkehr, die in Liebe verwurzelt ist" genannt (teshuvá mei-ahavá). "Umkehr in der Liebe verwurzelt" ist wünschenswert, aber ohne Unterlassung der Sünde ist die Verbesserung des Charakters nutzlos. Maimonides, die führende halachische (rechtliche) und philosophische Autorität des rabbinischen Judentums, bezeichnet die Unterlassung der Sünde als den allerersten Schritt zur teshuva.

Die rabbinische Tradition lehrt, dass alle Schritte zur teshuva notwendig sind. Ihre Wechselbeziehung lässt sich am besten als Spirale charakterisieren, die jeden der fünf Punkte berührt und zugleich mit jeder Windung einen Fortschritt macht. So kann man an jedem beliebigen Punkt beginnen -- mit Handlung, Analyse, Reue, Wiedergutmachung oder Bekenntnis. So wie man die Schritte der teshuva eins ums andere Mal wiederholt, so werden Analyse und Reue tiefer, Wiedergutmachung und der Wille, die Sünde zu unterlassen, werden entschlossener und das Bekenntnis tiefgreifender. Wenn man wieder und wieder durch die fünf Phasen der teshuva geht, wird man sie ernster, gewissenhafter erleben. Auf seinem Höhepunkt erreicht man eine "völlige teshuva" (teshuvá gemurá), die ein volles Bewusstsein und Handeln erfordert, so dass man angesichts einer ähnlichen Situation die bereute Sünde nicht wieder begehen würde. Sündhaftigkeit ist eine sehr tiefe Dimension menschlicher Existenz und der Umgang mit ihr erfordert alle unsere geistlichen, intellektuellen, emotionalen und moralischen Ressourcen -- selbst wenn wir erkennen, dass aufhören zu sündigen die Grundlage der Umkehr ist.

Vergebung

Sünde stört unser Leben auf der menschlichen Ebene; sie verzerrt unsere Beziehungen zu anderen Personen, zu sozialen Einrichtungen und zu unserem Selbst. Sünde stört auch unser geistliches Leben, es verzerrt unser Verhältnis mit Gott und mit unserem tiefsten inneren geistlichen Wesen. Weil Sünde uns der Menschheit und Gott entfremdet, darum gibt es auch mehr als eine Art der Vergebung.

Bei einer zivilrechtlichen Vertragsangelegenheit mag einer der Vertragspartner sich etwas zu Schulden kommen lassen, eine Verpflichtung eingehen oder gegenüber dem anderen eine Forderung erheben. In einer solchen Situation kann der Gläubiger, der Geschädigte auf die Begleichung der Schulden oder des Schadens verzichten, von der Verpflichtung befreien, oder die Forderung streichen. Der Geschädigte kann dies tun, ohne dafür einen Grund zu haben, obwohl er in der Regel einige Gründe hat, auf die Zahlung der Schulden zu verzichten. Ähnlich steht es im Blick auf die Frage der Sünde. Wenn man gegen einen anderen sündigt, geht man die Verpflichtung ein, das begangene Unrecht wieder gut zu machen. Es geht ja um eine Schuld die durch den Täter verantwortet werden muss. Je ernster der angerichtete Schaden, desto gravierender die Verpflichtung, ihn zu beheben. In rabbinischem Denken kann nur die schuldige Partei die Schuld tilgen und nur die benachteiligte Partei kann auf die Tilgung der Schuld verzichten. Dies heißt, wenn ich jemanden benachteilige oder schädige, ist es in meiner Verantwortung, alles zu tun, um alles wieder richtig zu stellen, und umgekehrt, wenn mir jemand geschadet hat, ist es meine Verantwortung, dem Täter teshuva zu ermöglichen, das heißt ihm die Korrektur des mir zugefügten Schadens zu gewähren. Teshuva ist Teil der Struktur der Schöpfung Gottes, darum ist der Sünder verpflichtet, teshuva zu tun und die geschädigte Person ist verpflichtet, dem Täter teshuva zu ermöglichen.

Die einfachste Art der Vergebung ist der "Verzicht auf Schuldbegleichung des anderen" (mechilá). Wenn der Täter, wie oben beschrieben, teshuva getan hat und in seiner Reue aufrichtig ist, sollte die geschädigte Person mechila anbieten, das heißt, die geschädigte Person sollte auf Schuldzahlung des Täters, auf seinen Anspruch gegen den Täter verzichten. Dies bedeutet nicht eine Versöhnung des Herzens oder eine Umarmung des Täters; man kommt einfach zu dem Schluss, dass der Täter mir nichts mehr schuldet für etwas, das mir angetan wurde, was auch immer es war. Mechila ist wie die Begnadigung eines Kriminellen im modernen Staat. Das Verbrechen bleibt, nur die Schuld wird vergeben.

Die Tradition ist aber ganz klar darin, dass die geschädigte Person nicht verpflichtet ist, mechila anzubieten, wenn die schuldige Person in ihrer Reue nicht aufrichtig ist und keine konkreten Schritte zur Korrektur unternommen hat. Maimonides äußert sich zu diesem Thema entschieden: "Es ist der geschädigten Person verboten, sich grausam zu verhalten und keine mechila anzubieten, denn dies ist nicht der Weg des Samens (der Nachkommen) Israels. Vielmehr, wenn der Täter alle materiellen Ansprüche befriedigt hat und ein- oder sogar zweimal um Vergebung gebeten hat, und wenn die geschädigte Person weiß, dass die andere Reue für ihre Sünden empfindet und Gewissensnot hat über dem, was getan wurde, sollte die geschädigte Person dem Sünder mechila anbieten" (Mishne Torah," Hilchot Chovel u-Mazzik," 5:10). Mechila ist somit eine Erwartung an die geschädigte Person, aber nur, wenn der Sünder wirklich bereut. Zum Beispiel ist eine Frau, die von ihrem Mann geschlagen oder von ihrem Vater missbraucht wurde nicht verpflichtet, der schuldigen Person mechila zu gewähren, es sei denn, der Täter hat zuerst von allen Misshandlungen Abstand genommen und zweitens seinen Charakter verbessert durch Analyse seiner Sünde, Reue, Wiedergutmachung und Bekenntnis, und drittens tatsächlich mehrmals um Vergebung gebeten hat. Erst nachdem die Frau sich vergewissert hat, dass er in seiner Reue aufrichtig ist, würde sie in einer solchen Situation moralisch verpflichtet sein, wenn auch nicht rechtlich, dem Täter mechila zu gewähren.

Der Grundsatz, dass mechila nur gewährt werden soll, wenn sie verdient wurde, ist das große jüdische "Nein" zur „billigen“ Vergebung. Es ist der Kern jüdischer Auffassung über Vergebung, wie Unterlassung der Sünde Kern der jüdischen Auffassung über die Umkehr ist. Ohne gute Gründe sollte eine geschädigte Person die Verschuldung des Sünders nicht vergeben, andernfalls wird der Sünder seine Schuld womöglich nie wirklich bereuen und das Böse wird dadurch aufrechterhalten. Und umgekehrt, wenn es gute Gründe gibt, die Schuld zu vergeben oder auf eine Forderung zu verzichten, ist die geschädigte Person moralisch verpflichtet, zu vergeben. Das ist das große jüdische "Ja" zur Möglichkeit der Umkehr für jeden Sünder.

Die zweite Art von Vergebung ist "Vergebung" selbst (selichá). Es ist ein Akt des Herzens. Ein tieferes Verständnis für den Sünder an sich, ein Mitgefühl für die notvolle Situation des anderen. Selicha ist ebenfalls keine Versöhnung oder eine Umarmung des Täters, sondern der Geschädigte kommt einfach zu dem Schluss, dass der Täter auch nur ein Mensch ist, schwach, und darum mein Mitgefühl verdient. Es geht dabei mehr um einen Akt der Barmherzigkeit als um einen Akt der Gnade. Eine Frau, die von einem Mann missbraucht wurde, kann vielleicht nie diese Ebene der Vergebung erreichen; sie ist dazu auch nicht verpflichtet, auch moralisch nicht.

Die dritte Art von Vergebung ist "Sühne" (kappará) oder "Läuterung, Reinigung" (ahorá), eine vollständige Befreiung von aller Sündhaftigkeit, eine existentielle Reinigung. Kappara ist die endgültige Form der Vergebung, aber sie wird nur von Gott gewährt. Kein Mensch kann die Sünde eines anderen "sühnen", kein Mensch kann die geistliche Verunreinigung eines anderen "reinigen".

Sünde und Vergebung: Juden und die katholische Kirche im Dialog

Angesichts der jüdischen Lehre über Buße und Vergebung ist es klar, dass von Juden unter moralischen und halachischen Gegebenheiten erwartet wird, die Möglichkeit von mechila offen zu halten, den Verzicht auf die Anrechnung der schweren Verschuldung der katholischen Kirche und der katholischen Gemeinschaft gegenüber dem jüdischen Volk für die Sünden des Mordens, der Verfolgung, der verletzenden Lehre und Gleichgültigkeit dem Judentum gegenüber. Vergebung im Sinne eines Verzichts auf die Verpflichtung, die durch die Sünde für den Sünder entsteht (mechila), ist Teil der Struktur der Schöpfung. Gott erwartet sie zuversichtlich, darum sollte sie uns möglich sein.

Es gibt jedoch zwei Probleme. Erstens macht jüdische Lehre auch deutlich, dass es keinen geistlichen oder halachischen Mechanismus im Judentum gibt, durch den die Juden der katholischen Kirche oder der Gemeinschaft von Katholiken die jahrhundertelang verletzende Lehre und Verfolgung, die in der Schoa gipfelte, formal zu "vergeben". Eine sozusagen „körperschaftliche“ Vergebung zwischen Gemeinschaften, entweder in Form von mechila oder selicha, hat im rabbinischen Judentum keine theologische Grundlage. Darüber hinaus gibt es im Judentum keine bestimmte halachische oder politische Autorität, die eine solche Aufgabe übernehmen könnte. In theologischer Hinsicht sind Verzicht auf Schuldentilgung (mechila) und Vergebung durch Empathie (selicha) zwar möglich, aber es gibt keinen formellen Mechanismus, durch den diese offiziell gewährt werden könnte. Darum kann Sühne, Reinigung oder letztendliche Versöhnung (kappara) nur von Gott selbst kommen.

Zweitens, wie bereits erwähnt, kann auch mechila nur gewährt werden, wenn die geschädigte Partei gute Gründe für die Annahme hat, dass die schuldige Partei teshuva vollzogen hat. Für den jüdisch-katholischen Dialog würde dies zuerst bedeuten, dass die Kirche die Sünde der Judenverfolgung unterlässt, einschließlich diskriminierender Lehre und Unterstützung populärer Haltungen, die eine Verfolgung von Juden tolerieren oder sogar ermutigen. Es würde zweitens bedeuten, dass die Kirche geeignete Wiedergutmachung leistet, wo es um materielle Ansprüche geht, die kompensiert werden können. Drittens bedeutet es eine Erneuerung des Charakters durch geistlich-moralische Analyse, Reue und Bekenntnis. Eine Verbesserung des Charakters ohne Unterlassung der Sünde ist noch nicht keine wirkliche Reue/Umkehr, und alle Worte, Dokumente und aufrichtige Äußerungen der Reue bedeuten nichts ohne konkrete Handlungen -- so wie es der Fall zwischen zwei Juden in einem fortdauernden sündigen Konflikt wäre. Die Art und Weise, wie die Kirche mit terroristischen Anschlägen, Antisemitismus, kirchlichen Akten aus der Zeit der Schoa und jüdischen Gütern in ihrem Besitz, mit katholischer Lehre und Bildung über Juden und Judentum, mit dem Wesen katholischer Mission, den Beziehungen zum Staat Israel, mit ihrem Verhältnis zu örtlichen jüdischen Gemeinden überall in der Welt, usw. umgeht – das sind die konkreten Maßstäbe, an denen katholische teshuva zu messen sein wird. Handelt die Kirche jedoch freimütig und wird ihr genügend Zeit eingeräumt -- der Katholische Konflikt mit Juden und Judentum ist immerhin Jahrhunderte alt und nicht erst ein Produkt dieses Jahrhunderts --, ist unter Juden ein wachsendes Gefühl der mechila nicht nur möglich, sondern tatsächlich eine legitime moralische Zukunftserwartung. Eine in Mitgefühl wurzelnde Selicha im Sinne einer Vergebung des Herzens von Juden zu erwarten, scheint jedoch sehr verfrüht zu sein.

Obwohl das jüdische Volk nicht über eine zentrale Autorität verfügt, die für alle Juden sprechen könnte, scheint doch darüber hinaus klar zu sein, dass öffentlich anerkannte Instanzen wie der Staat Israel oder andere weltweite politische und religiöse jüdische Organisationen in Absprachen und Verhandlungen im Namen des jüdischen Volkes mitbestimmen, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, um den Prozess der Korrektur langjährigen Unrechts zu beginnen, wenngleich die Entscheidungen solcher Gremien weder alle Juden noch alle Glieder der Kirche binden würde. Ein öffentliches Engagement durch legitime Vertreter würde in diesem Prozess einen moralischen und gesellschaftlichen Konsens entstehen lassen, der verwurzelt ist in der Unterlassung von Sünde, Wiedergutmachung und Verbesserung des Charakters, wenn es in gutem Glauben verfolgt wird und ihm entsprechende Handlungen folgen. Dieser moralische und soziale Konsens würde in Anbetracht der jüdischen Lehre über Reue und Vergebung zu einem Konsens der mechila, vielleicht sogar der selicha führen, was sich wiederum in entsprechenden öffentlichen interkommunalen Handlungen niederschlagen könnte.


Bibliographie

M. Maimonides, Mischneh Tora, "Hilkhos Teshuva," übersetzt und kommentiert von E. Touger (New York und Jerusalem, Moznaim Publishing: 1987). Der Text des Maimonides, Laws of Repentance [Gesetze der Umkehr] muss mit einem Kommentar gelesen werden.


J. Soloveitchik, On Repentance [Über die Umkehr], hrsg. P. Peli (New York, Paulist Press: 1984).


A. Steinsaltz, Teshuva (New York, Free Press: 1987).


Y. Abramowitz und Hechal ha-Teshuva (Hebräisch), (Bnai Brak, Netsah Press: 5721).

Encyclopedia Judaica und Jewish Encyclopedia, "Repentance" [Reue, Umkehr].


D. Blumenthal, Rezension über S. Wiesenthal, The Sunflower [Die Sonnenblume] Jewish Social Studies, 40:3-4 (1978) 330 - 332.

 

Editorische Anmerkungen

Dieser Artikel erschien zuerst in Cross Currents (Frühjahr 1998) S. 75-81. Ein Neudruck erschien im Journal of Religion and Abuse (2005) S. 69-76. Rabbiner Blumenthal ist der Jay-und-Leslie-Cohen-Professor für Judaistik an der Emory Universität in Atlanta, Georgia, U.S.A. Er ist der Autor folgender Bücher: Facing the Abusing God: A Theology of Protest [Eine Theologie des Protests] (Westminster / John Knox), God at the Center (Jason Aronson) [Gott im Zentrum] und The Banality of Good and Evil: A Social, Psychological, and Ethical Reflection (Georgetown University Press) [Die Banalität von Gut und Böse; Eine soziale, psychologische und ethische Reflexion]. Mehr auf der Website des Autors:
http://www.js.emory.edu/blumenthal
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von R. David Blumenthal.

Aus dem Englischen übersetzt von Fritz Voll; Redaktion: Christoph Münz