Religiöse Pluralität in der demokratischen Öffentlichkeit

Der Umgang mit religiöser Vielfalt ist eine der großen Herausforderungen, mit denen seit einer Reihe von Jahren alle westlichen Gesellschaften konfrontiert sind. Über nur wenige Themen wird so erbittert gestritten wie über das Ausmaß und die Grenzen der Religionsfreiheit und über das Verhältnis von Religionsfreiheit und staatlicher Neutralität.

 In den USA debattiert man seit vielen Jahren über das Schulgebet, die Evolutionslehre in den Lehrplänen oder die Finanzierung konfessioneller Schulen. In Frankreich erregt das islamische Kopftuch die Gemüter. Mit Blick auf Deutschland sind das Volksbegehren zum Religionsunterricht in Berlin, Gerichtsurteile zum islamischen Gebet in Schulen oder der Streit um Kreuze in öffentlichen Räumen zu nennen. Der Debattenverlauf in den drei genannten Ländern ist stark von der je unterschiedlichen nationalen Geschichte geprägt. Doch in allen drei Ländern – und nicht nur in diesen – wird um die Rolle der Religion in der Öffentlichkeit gestritten. Dass dieser Streit sich immer wieder an der Schulpolitik entzündet, ist kein Zufall. Denn in der Schule, in der Kinder und Jugendliche aus unterschiedlichen religiösen oder auch areligiösen Elternhäusern gemeinsam lernen, kann niemand der Frage nach dem Verhältnis von Religionsfreiheit und staatlicher Neutralität ausweichen.

In Deutschland hat sich zudem ein Kooperationsverhältnis von Staat und Kirchen herausgebildet, das das kirchliche Engagement im sozial-diakonischen und im Bildungsbereich rechtlich regelt. Ich denke etwa an den Religionsunterricht in staatlichen Schulen und die beiden großen kirchlichen Sozialverbände Caritas und Diakonie. Die Grundlagen für dieses Kooperationsverhältnis schuf die Weimarer Nationalversammlung, deren diesbezügliche Entscheidungen im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland übernommen wurden. Seither sind mehr als 60 Jahre vergangenen, in denen sich die religiöse Situation in unserem Land deutlich verändert hat. Das sichtbarste Zeichen dieser Veränderung ist die Präsenz des Islam. Die rund vier Millionen Muslime bilden die drittstärkste religiöse Gruppe nach den beiden christlichen Kirchen. Aber auch die Zahl der orthodoxen Christen hat in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen; sie bilden die drittgrößte christliche Konfession. Gewachsen sind infolge der Einwanderung aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion schließlich auch die jüdischen Gemeinden. Nicht wenige sprechen von einem Aufblühen jüdischen Lebens in Deutschland.

Die gesamtgesellschaftlich bedeutsamste religionssoziologische Veränderung aber ist die deutliche Zunahme der religionslosen oder säkularen Bürger. Während nach dem Zweiten Weltkrieg gut 90 Prozent der Bevölkerung einer der beiden großen Kirchen angehörten, sind es gegenwärtig nur noch knapp 60 Prozent. Etwa 30 Prozent gehören hingegen keiner Kirche oder Religionsgemeinschaft an. Die meisten leben in Ostdeutschland, doch auch in den westdeutschen Städten hat die Zahl säkularer Bürger in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen und wird wohl auch zukünftig weiter zunehmen. Gleichzeitig stellen wir fest, dass sich das religiöse Leben immer stärker individualisiert. Der einzelne entscheidet nicht nur über die Mitgliedschaft in einer Kirche oder Religionsgemeinschaft, er entscheidet vor allem darüber, wie er als Christ, Jude oder Muslim lebt und was er aus der jeweiligen religiösen Tradition für sein Leben übernimmt.

Während die islamischen Verbände darauf drängen, ihrerseits in das Kooperationsverhältnis des Staates mit den Kirchen aufgenommen zu werden und z.B. die Einrichtung von islamischem Religionsunterricht in den Schulen und von Zentren für islamische Theologie an den Universitäten fordern, fragen vor allem säkulare Bürger, ob die Stellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Öffentlichkeit noch zeitgemäß ist. Säkulare Gruppierungen halten vieles von dem, was religiösen Bürgern als Teil der Religionsfreiheit gilt, für nicht mehr zeitgemäße Privilegien und fordern eine stärkere Trennung von Kirche und Staat. Von dieser Seite wird vor allem die religiös- weltanschauliche Neutralität des Staates und seiner Einrichtungen betont.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass das Verhältnis von Religion und Demokratie nicht mehr nur in staatskirchenrechtlichen Seminaren, sondern in der breiten Öffentlichkeit diskutiert werden. Welche Haltung nimmt die katholische Kirche in dieser Debatte ein? Grundsätzlich sind wir der Überzeugung, dass das bestehende Staatskirchenrecht sich nicht nur in der Vergangenheit bewährt hat, sondern auch der veränderten religiösen Situation der Gegenwart gerecht wird.

Für uns Bischöfe ist der wichtigste Bezugspunkt in dieser Debatte die Religionsfreiheit. In der Erklärung Dignitatis humanae von 1965 erklärten die Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils, „dass die menschliche Person das Recht auf religiöse Freiheit hat. Diese Freiheit besteht darin, dass alle Menschen frei sein müssen von jedem Zwang sowohl von Seiten Einzelner als auch gesellschaftlicher Gruppen, wie jeglicher menschlichen Gewalt, so dass in religiösen Dingen niemand gezwungen wird, gegen sein Gewissen zu handeln, noch daran gehindert wird, privat und öffentlich, als einzelner oder in Verbindung mit anderen – innerhalb der gebührenden Grenzen - nach seinem Gewissen zu handeln. Ferner erklärt das Konzil, das Recht auf religiöse Freiheit sei in Wahrheit auf die Würde der menschlichen Person selbst gegründet, so wie sie durch das geoffenbarte Wort Gottes und durch die Vernunft selbst erkannt wird. Dieses Recht der menschlichen Person auf religiöse Freiheit muss in der rechtlichen Ordnung der Gesellschaft so anerkannt werden, dass es zum bürgerlichen Recht wird.“ (DH 2) Mit diesen Sätzen vertritt die katholische Kirche ein weites Verständnis von Religionsfreiheit, das es wert ist, genauer betrachtet zu werden.

Religionsfreiheit ist zunächst die Freiheit des Individuums, sich eine religiöse Überzeugung zu bilden und seinen religiösen Überzeugungen gemäß zu leben oder auch keiner Religion anzugehören. Religiöse Überzeugungen sind jedoch nie rein individuell. Zumindest für die Anhänger der drei monotheistischen Religionen gilt, dass der Einzelne seine Religion auch in der Gemeinschaft mit anderen praktiziert. Der Einzelne braucht den gemeinsamen Gottesdienst, den intellektuellen Austausch, das Lehren und Lernen und die gemeinsamen sozialen oder kulturellen Aktivitäten. Die religiöse Identität ist zugleich subjektiv und gemeinschaftlich. Eben weil der Mensch sowohl ein individuelles als auch ein soziales Wesen ist, muss die individuelle Religionsfreiheit um die korporative Religionsfreiheit, also die Freiheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften ergänzt werden. Diese institutionelle Seite der Religionsfreiheit wird ja in den aus der Weimarer Reichsverfassung übernommenen Bestimmungen im Grundgesetz entfaltet. Deshalb kann man auch mit guten Gründen sagen, dass die Konkordate und Staatskirchenverträge oder auch der Staatsvertrag mit dem Zentralrat der Juden der Verwirklichung der Religionsfreiheit dienen.

Die Kirche hat allerdings nicht immer die Religionsfreiheit verteidigt. Ja, man muss sogar sagen, dass sie über weite Strecken ihrer Geschichte ganz anderen Vorstellungen über das Verhältnis von Kirche und Staat gefolgt ist. Im so genannten Donatistenstreit des 4. Jahrhunderts hat der Kirchenvater Augustinus die verhängnisvolle Meinung vertreten, dass unter bestimmten Umständen Zwang ein durchaus legitimes Mittel sein könne, um diejenigen, die vom rechten Glauben abgewichen sind, wieder in die Gemeinschaft der Kirche zurückzuholen. Diese Meinung fand in den folgenden Jahrhunderten Eingang in das Kirchenrecht und in die kirchliche Lehre. Sie diente zur Rechtfertigung der Ketzerverfolgung und der Inquisition. Die im Wortsinn tödlichen Folgen dieser kirchlichen Lehre mussten nicht zuletzt die Juden in Europa erfahren. Der katholische Kirchenhistoriker Arnold Angenendt spricht daher zu Recht vom „christlichen Sündenfall“ schlechthin.[1]

Angesichts dieser wirkmächtigen Geschichte ist es nicht verwunderlich, dass im Zweiten Vatikanischen Konzil gerade über die Religionsfreiheit heftig gestritten wurde. Die Gegner missverstanden die Religionsfreiheit als Ausdruck religiöser Gleichgültigkeit und setzten sie in einen Gegensatz zum Wahrheitsanspruch der Kirche. Die große Mehrheit der Verteidiger der Religionsfreiheit konnte in den Konzilsdebatten jedoch zeigen, dass der Gegensatz von Freiheit und Wahrheit nur scheinbar bestand. Die Offenbarung Gottes setzt nämlich die freie Zustimmung des Menschen voraus. Darauf deutet schon das Zeugnis der Schrift hin. Gott schließt seinen Bund mit Israel nicht in Ägypten, sondern am Sinai. Denn mit Sklaven kann man keinen Bund schließen, sondern nur mit freien Menschen. Die Bundesvorstellung macht deutlich, dass die Gottesbeziehung kein Überwältigungsgeschehen ist. Dies gilt auch für das Neue Testament. Der Glaube an das Evangelium, den Jesus fordert, ist ein Appell an die Freiheit des anderen.

Als Bischof ist es mir ein besonderes Anliegen, dass wir die theologischen Gründe der Religionsfreiheit deutlich zur Sprache bringen. Wir sind nicht für Religionsfreiheit, weil uns der Glaube unwichtig oder gar gleichgültig wäre. Natürlich schmerzt es mich, wenn ein Katholik seine Kirche verlässt, sich einer anderen Religionsgemeinschaft anschließt oder, was häufiger der Fall ist, sich von jeder Religion lossagt. Ein solcher Schritt lässt mich als Bischof weder kalt noch gleichgültig. Aber aus Respekt vor der Gewissensfreiheit des anderen toleriere ich diesen Schritt, auch wenn ich ihn für falsch halte.[2] Ich toleriere diesen Schritt aber auch um der Ehre Gottes willen. Denn das letzte Urteil über einen Menschen steht nicht mir, sondern allein Gott zu. Der Glaube an den einen Gott setzt nämlich nicht nur der staatlichen Gewalt Grenzen, sondern auch der religiösen Autorität.

Diese theologischen Einsichten, die uns heute so klar und selbstverständlich erscheinen, sind uns erst in einer langen und leidvollen Geschichte bewusst geworden. Zu Recht leiten die Konzilsväter in ihrer Erklärung Dignitatis humanae mit dem Verweis darauf ein, dass die Würde der menschlichen Person heutzutage immer klarer ins Bewusstsein der Menschen dringt (vgl. DH 1). Es gehört zu den bleibenden und grundlegenden Erkenntnissen des Konzils, dass geschichtliche Erfahrungen auch theologisch bedeutsam sind und uns zu einem besseren Verständnis des Evangeliums und zu einer Reform der kirchlichen Lehre führen können.

Die Einsicht, dass die Religionsfreiheit in der Würde des Menschen gründet, ist aus mehreren Gründen bedeutsam. Zum einen ist Religionsfreiheit kein Privileg oder Zugeständnis des Staates, sondern das Recht eines jeden Menschen. Deshalb tritt die katholische Kirche nicht nur für die Religionsfreiheit der Christen, sondern ausdrücklich auch für die Religionsfreiheit Andersgläubiger ein. So hat sich die Deutsche Bischofskonferenz in den vergangenen Jahren mehrfach zum islamischen Religionsunterricht oder zum Moscheebau geäußert.

Zum anderen macht der Zusammenhang von Religionsfreiheit und Menschenwürde deutlich, dass religiöse Bindungen die moralische Integrität des Menschen betreffen. Religiöse Pflichten sind mehr und anderes als Präferenzen. Es ist eben ein Unterschied, ob ein Jude am Freitagnachmittag früher seine Arbeit beenden will, um rechtzeitig zu Schabbatbeginn bei seiner Familie oder in der Synagoge zu sein, oder ob jemand die Arbeit früher beenden will, um den Verkehrsstau zu vermeiden.[3] Es ist ein zweifellos erstrebenswertes Ziel, eine nervenaufreibende Autofahrt auf verstopften Straßen zu meiden. Die Frage, ob wir in den Feierabendstau geraten oder nicht, tangiert unser Wohlbefinden, nicht aber unser moralisches Selbstwertgefühl. Hingegen betrifft die Frage, ob jemand rechtzeitig zu Schabbatbeginn zuhause ist, nicht nur sein Wohlbefinden, sondern seine religiöse Identität und damit auch sein moralisches Selbstwertgefühl. Die Nichtbefriedigung eines Wunsches ist ein Ärgernis. Wer jedoch einen anderen daran hindert, seinen religiösen Pflichten nachzukommen, begeht ein moralisches Unrecht. Es ist daher gerechtfertigt, dass die Religionsfreiheit unter den Menschen- und Bürgerrechten einen besonderen Platz einnimmt.

Schließlich verweist der Zusammenhang von Religionsfreiheit und Menschenwürde auf die Grenze der Religionsfreiheit. Die Religionsfreiheit findet dort ihre Grenze, wo die Freiheit anderer eingeschränkt wird. Es gibt keine Freiheit, religiösen oder moralischen Zwang auszuüben. Eine freie Gesellschaft erfordert von ihren Mitgliedern die Tugend der Toleranz. Sie erfordert die Bereitschaft und die Fähigkeit, die Freiheit und Würde von Menschen zu achten, deren Überzeugungen ich nicht teile und deren Lebensweise ich nicht für nachahmenswert halte. Ohne die Tugend der Toleranz ist ein friedliches und gerechtes Zusammenleben in einer religiös pluralen Gesellschaft nicht möglich.

Dieses umfassende Verständnis von Religionsfreiheit, das auch die Präsenz von Religion im öffentlichen Raum einschließt, wird seit einigen Jahren kritisch gesehen. Ich meine damit weniger die Rechtsprechung als vielmehr die allgemeine religionspolitische Debatte. Das Misstrauen, das viele seit den Anschlägen des 11. September 2001 gegen den Islam hegen, weitet sich nicht selten zu einem generellen Misstrauen gegenüber der Präsenz von Religion im öffentlichen Raum. Der amerikanische Religionssoziologe José Casanova sprach vor einigen Jahren gar von „Europas Angst vor der Religion“.[4] Nicht selten wird jedenfalls der Eindruck erweckt, dass die Religionen potentiell, wenn nicht sogar aktuell friedens- und freiheitsgefährdend seien. Insbesondere der Monotheismus ist in das Visier der religionspolitischen Debatte geraten. Ich denke etwa an die Thesen von Jan Assmann[5], Peter Sloterdijk[6] oder Ulrich Beck[7]. Schnell wird dann die Forderung laut, um des sozialen Friedens willen religiöse Überzeugungen und religiöse Praxis aus dem öffentlichen Bereich zu verbannen und der negativen Religionsfreiheit einen Vorrang vor der positiven Religionsfreiheit einzuräumen. Die französische Laizität mit ihrer strikten Trennung von Kirche und Staat, Religion und Politik erscheint auch manchen in Deutschland als überzeugenderes Modell im Umgang mit der religiösen Pluralität moderner Gesellschaften.

Nun muss ich in diesem Kreis sicher nicht betonen, wie verzerrt diese Wahrnehmung von Religion und insbesondere des Monotheismus ist. Wir dürfen gewiss nicht die Augen vor den Gefahren verschließen, die von fundamentalistischen Strömungen in unseren Kirchen und Religionsgemeinschaften ausgehen. Aber der Blick in die jüngere Geschichte Europas zeigt auch, dass es nicht Religionen, sondern säkulare politische Ideologien wie Faschismus und Kommunismus waren, die die liberalen Demokratien zerstört, Kriege entfesselt und Konzentrationslager errichtet haben. Die These, dass säkulare Weltanschauungen besser geeignet seien, Freiheit und Frieden zu sichern, halte ich angesichts der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts für nicht begründet. Demokratie und Religionsfreiheit gehören zusammen, Säkularismus aber gibt es auch ohne Demokratie.

Bedeutsamer als der fragwürdige religionskritische Subtext der Debatte scheint mir die Frage nach dem Verhältnis von Religionsfreiheit und staatlicher Neutralität zu sein. Die religiösweltanschauliche Neutralität des Staates ist in der Tat ein Wert, aber er ist ein relativer Wert. Was meine ich damit? Die wesentliche Aufgabe eines freiheitlichen Staates besteht darin, die Rechte der Bürger und somit auch die Religionsfreiheit zu garantieren. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, darf er sich mit keiner Religion oder Weltanschauung identifizieren und darf auch keine Religion oder Weltanschauung bevorzugen oder benachteiligen. Er hat sich mit anderen Worten gegenüber den religiösen Überzeugungen der Bürger neutral zu verhalten. Die staatliche Neutralität ist aber kein Selbstzweck, sondern steht im Dienst der Religionsfreiheit der Bürger.

Der Laizismus französischer Prägung versteht hingegen die Neutralität des Staates als einen eigenständigen Wert, der die Freiheit der Bürger vor religiösen Einflüssen im öffentlichen Raum schützt. Folglich wird die positive Religionsfreiheit in den staatlichen Institutionen und im öffentlichen Leben stark begrenzt. So gibt es in französischen Schulen keinen Religionsunterricht und ist das Tragen deutlich sichtbarer religiöser Symbole wie ein islamisches Kopftuch, ein Brustkreuz oder eine Kippa verboten. Demgegenüber haben deutsche Gerichte bis in die jüngste Vergangenheit entschieden, dass öffentliche Schulen keine religionsfreien Räume sind. Einschränkungen der Religionsfreiheit sind nur dann zulässig, wenn durch religiöse Handlungen der Schulfrieden gestört oder die ordnungsgemäße Durchführung des Unterrichts beeinträchtigt wird. Dieses Beispiel macht anschaulich, dass die laizistisch verstandene Neutralität religiöse und säkulare Bürger höchst ungleich behandelt. Darauf hat Jürgen Habermas in seiner Frankfurter Friedenspreisrede von 2001 zu Recht aufmerksam gemacht.

Wer Religion aus dem öffentlichen Leben verbannt, mutet nämlich nur den religiösen Bürgern zu, ihre Identität in öffentliche und private Anteile zu spalten. Zuhause sind wir Jude, Christ oder Muslim, in der Öffentlichkeit aber sollen wir als säkulare Bürger handeln. Agnostischen oder atheistischen Bürgerinnen und Bürgern bleibe diese Spaltung hingegen erspart.[8] Zudem fördert die Verbannung von Religion aus der Öffentlichkeit faktisch eine säkulare Weltsicht und Lebensweise.

Aus theologischer Sicht füge ich hinzu, dass die Aufspaltung der religiösen Identität in öffentliche und private Anteile dem Anspruch der monotheistischen Religionen nicht gerecht wird. Als Juden und Christen stehen wir nicht nur im Privatleben, sondern auch im Beruf und ebenso bei unseren politischen Entscheidungen in der Verantwortung vor Gott. Die biblische Forderung, sich für Gerechtigkeit einzusetzen, gilt auch für den politischen und wirtschaftlichen Bereich. Wir beteiligen uns daher an den öffentlichen Debatten und wollen die biblische Forderung nach Gerechtigkeit in den öffentlichen Diskurs einbringen. In unserer religiös und weltanschaulich pluralen Gesellschaft setzt dies voraus, dass wir unsere ethischen Überzeugungen in die Sprachen von Politik, Recht und Wirtschaft übersetzen und uns mit konkurrierenden Positionen auseinandersetzen. Das ist auch der Grund, warum die deutschen Bischöfe sich so entschieden für den Religionsunterricht in der Schule und die Theologie an den Universitäten einsetzen. Denn im Religionsunterricht und an den theologischen Fakultäten wird der christliche Glaube zusammen mit dem Wissen und den Erkenntnissen der anderen Fächer und im Blick auf die gesellschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart vermittelt und bedacht. Es ist erfreulich, dass der Wissenschaftsrat in seinen Empfehlungen vom Januar 2010 die Bedeutung der Theologien sowohl für die Universitäten als auch für die Gesamtgesellschaft unterstrichen hat. Ebenso erfreulich ist es, dass sich der Wissenschaftsrat für die Einrichtung von Zentren für islamische Theologie und für die Förderung der Jüdischen Studien ausgesprochen hat. Die gegenwärtigen Debatten um die Einführung von islamischem Religionsunterricht und die Förderung der Theologien zeigen, dass – bei allen rechtlichen Einzelfragen, die es zu klären gilt, - das deutsche „Verhältnis der Koordination und Kooperation von Kirche und Staat“ (Alexander Hollerbach) auch für nicht-christliche Partner offen ist und somit der religiösen Pluralität gerecht wird.

Die Kirchen und Religionsgemeinschaften tragen entscheidend zum kulturellen Reichtum unserer Gesellschaft bei. Dies wird in den religionspolitischen Debatten zu wenig gesehen. Unsere Gemeinden sind Orte, an denen Menschen unterschiedlichen Alters Gemeinschaft erfahren und Gemeinschaft gestalten. Auch wenn die Individualisierung der Lebensentwürfe die religiöse Praxis einschließt, werden in unseren Gemeinden doch auch weiterhin soziale Bande geknüpft, Tugenden wie Hilfsbereitschaft, Verantwortung und Gerechtigkeit eingeübt und moralische Überzeugungen gebildet, die nicht nur der Kirchen- oder Synagogengemeinde, sondern der ganzen Gesellschaft zugute kommen. Oder um es im Soziologendeutsch zu formulieren: in religiösen Gemeinschaften erwerben Menschen Sozialkapital, das sie befähigt und motiviert, sich auch außerhalb dieser Gemeinschaften zu engagieren und mit anderen gemeinsam politische oder kulturelle Ziele zu verwirklichen. Kirchen und Religionsgemeinschaft bilden einen Nährboden für sozial-diakonisches und musisch-kulturelles Engagement, ohne das unsere Gesellschaft ärmer wäre.

Ich meine, dass diese Feststellung auch für unsere Feiertagskultur, den arbeitsfreien Sonntag und die religiösen Symbole im öffentlichen Raum zutrifft. Diejenigen, die christliche Symbole aus öffentlichen Gebäuden entfernen wollen oder den Schutz des Sonntags und christlicher Feiertage in Frage stellen, argumentieren meist damit, dass die gegenwärtige Feiertagskultur und die christlichen Symbole die Mehrheitsreligion bevorzugen und daher gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoßen. Dieses Argument muss man ernst nehmen, denn der Gleichheitsgrundsatz gehört zu den Grundnormen unseres Zusammenlebens. Zwischen der gleichen Achtung, die wir den religiösen Überzeugungen aller Bürger schulden, und der Prägung der Alltagskultur durch die Mehrheitsreligion besteht in der Tat ein Spannungsverhältnis, das sich nicht auflösen lässt. Das Bild unserer Städte ist stärker von Kirchen als von Synagogen oder Moscheen geprägt. Wir benötigen einen gemeinsamen Kalender, der in unserem Land ebenfalls christlich geprägt ist. Wir begehen den Sonntag als arbeitsfreien Tag und die meisten staatlichen Feiertage fallen mit christlichen zusammen. Auch die Symbolik unserer öffentlichen Räume ist bis in die Werbung hinein christlich geprägt. Diese religiöse Prägung der Alltagskultur wird unterschiedlich erlebt, je nachdem ob man der Mehrheitsreligion oder einer Minderheitenreligion angehört. Es ist, um ein Beispiel zu nennen, schon eine pädagogische Herausforderung, seine Kinder auf Chanukka vorzubereiten, wenn im Kindergarten ein Krippenspiel eingeübt wird, im Fernsehen die Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens läuft und einem in den Einkaufspassagen der Weihnachtsmann begegnet.

Aber ist es wirklich eine sinnvolle Lösung, den öffentlichen Raum von allen religiöskulturellen Bezügen zu „desinfizieren“, um dem Gleichheitsgrundsatz Genüge zu tun? Ist es ein Gewinn, wenn in den Kindergärten und Schulen statt St. Martin ein Lichterfest und statt Ostern ein Frühlingsfest gefeiert wird? Ist es ein Gewinn, wenn das Kreuz aus Schulen und Gerichtssälen verschwindet? Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, wenn wir die Verbindung zum historischen Erbe unserer Kultur einfach abschneiden. Natürlich kann man neutrale Begriffe wie etwa „nach unserer Zeitrechnung“ verwenden. Aber wir alle wissen, dass unsere Zeitrechnung eben die christliche ist. Die Sichtbarkeit der christlichen Prägung unserer Kultur bietet hingegen die Chance, sich mit dieser Prägung auseinanderzusetzen und eine Position dazu zu finden.

Um eine indirekte Benachteiligung der religiösen Minderheiten durch die Mehrheitskultur zu vermeiden, bietet sich vielmehr ein anderer Weg an, der über vernünftige Ausnahmeregelungen führt.[9] So ist es bereits heute in vielen Schulen üblich, muslimische Schüler an den islamischen Feiertagen vom Unterricht zu befreien. Ebenso kann man die Arbeitszeiten so anpassen, dass jüdische Angestellte am Samstag nicht arbeiten müssen. Man kann auch die Speisepläne in Krankenhäusern oder Schulen so gestalten, dass sie nicht in Konflikt mit religiösen Speisevorschriften geraten. Mit Hilfe solcher besonderen Regelungen kann es gelingen, die historische Kontinuität der Mehrheitskultur zu wahren und die Religionsfreiheit der Christen ebenso wie der Anhänger nicht-christlicher Religionen zu schützen. Dieser Weg der Rücksichtnahme erfordert gewiss größere Anstrengungen als die Säkularisierung des öffentlichen Lebens. Diese Anstrengungen aber sind gerechtfertigt. Denn die Religionsfreiheit schützt nicht irgendwelche Präferenzen oder Wünsche, sondern die Identität und moralische Integrität der Person. Religionsfreiheit ist eine Frage der Menschenwürde.

[1] Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, Münster4 2008, 245.

[2] Zur Geschichte und zum Begriff der Toleranz vgl. Rainer Forst, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt am Main 2003.

[3] Vgl. Jocelyn Maclure/ Charles Taylor, Laizität und Gewissensfreiheit, Berlin 2011, 104f.

[4] Berlin 2009.

[5] Die mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München-Wien 2003.

[6] Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen, Frankfurt am Main2 2007.

[7] Der eigene Gott. Von der Friedensfähigkeit und dem Gewaltpotential der Religionen, Frankfurt am Main 2008.

[8] Vgl. Glauben und Wissen, Frankfurt am Main 2001, 21f.

[9] Vgl. hierzu Jocelyn Maclure/ Charles Taylor, a.a.O., 85-90.

Editorische Anmerkungen

Vortrag gehalten bei der Begegnung Kirchen und Rabbinerkonferenzen, 12. März 2012, in Leipzig.

Quelle: Deutscher Koordinierungsrat